Sorgeberechtigte leisten keine Beihilfe zur illegalen Einwanderung ihrer Kinder:
Der illegale Grenzübertritt mit minderjährigen Kindern, für die die Personensorge ausgeübt wird, stellt keine Beihilfe zur illegalen Einwanderung dar. Ein solches Verhalten ist vielmehr Ausdruck der Verantwortung gegenüber den Minderjährigen, die der sorgeberechtigten Person obliegt. Eine gegenteilige Auslegung würde einen besonders schweren Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens und der Rechte des Kindes darstellen.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
43 Zwar lässt der offene Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2002/90 auf den ersten Blick unterschiedliche Auslegungen zu. Insbesondere stellt diese Vorschrift zwar nicht ausdrücklich auf das Verhalten einer Person ab, die unter Verstoß gegen die Regelung für den Grenzübertritt von Personen minderjährige Drittstaatsangehörige, die sie begleiten und für die sie die tatsächliche Sorge ausübt, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats bringt, schließt als solche aber auch nicht ausdrücklich eine Auslegung aus, wonach ein solches Verhalten unter den in ihr vorgesehenen allgemeinen Tatbestand fällt.
44 Der letztgenannten Auslegung kann jedoch nicht gefolgt werden.
45 Als Erstes sprechen die Ziele der Richtlinie 2002/90 gegen diese Auslegung. Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen bemerkt hat, stellt ein solches Verhalten nämlich keine Beihilfe zur illegalen Einwanderung dar, die mit dieser Richtlinie bekämpft werden soll, sondern ergibt sich daraus, dass die betreffende Person die persönliche Verantwortung übernimmt, die ihr aufgrund des Sorgerechts obliegt, das sie für die Minderjährigen ausübt. [...]
51 In Anbetracht der Art. 7 und 24 der Charta, in deren Licht Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2002/90 auszulegen ist, kann das Verhalten einer Person, die minderjährige Drittstaatsangehörige, die sie begleiten und für die sie die tatsächliche Sorge ausübt, unerlaubt in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats bringt, nicht unter den allgemeinen Tatbestand der Beihilfe zur unerlaubten Einreise im Sinne der letztgenannten Vorschrift fallen, und zwar auch dann nicht, wenn die betreffende Person selbst unerlaubt in dieses Hoheitsgebiet eingereist ist.
52 Eine gegenteilige Auslegung der besagten Vorschrift würde zu einem besonders schweren Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens und die Rechte des Kindes gemäß Art. 7 bzw. 24 der Charta führen und hätte zur Folge, dass der Wesensgehalt dieser Grundrechte im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta angetastet würde. [...]
54 Eine Person wie OB, die drittstaatsangehörige Minderjährige, die sie begleiten und für die sie die tatsächliche Sorge ausübt, unerlaubt in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats bringt, nimmt in der Regel lediglich eine auf ihrer persönlichen Verantwortung beruhende und aus ihrer familiären Beziehung zu diesen Minderjährigen herrührende konkrete Verpflichtung wahr, mit dem Ziel, den Schutz und die Fürsorge sicherzustellen, die für deren Wohlergehen und deren Entwicklung notwendig sind. Das Verhalten dieser Person ist in erster Linie der konkrete Ausdruck ihrer allgemeinen Verantwortung für die Minderjährigen. [...]
65 Im vorliegenden Fall genießt OB, da sie einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, die Rechte, die sich aus der Stellung eines solchen Antrags ergeben, so dass gegen sie weder wegen ihrer eigenen unrechtmäßigen Einreise in das italienische Hoheitsgebiet noch wegen der Tatsache Strafen verhängt werden dürfen, dass sie in Begleitung ihrer Tochter und ihrer Nichte eingereist ist, für die sie die tatsächliche Sorge ausübt. [...]
73 Aus den vorstehenden Gründen ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2002/90 im Licht der Art. 7 und 24 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass zum einen das Verhalten einer Person, die unter Verstoß gegen die Regelung für den Grenzübertritt von Personen minderjährige Drittstaatsangehörige, die sie begleiten und für die sie die tatsächliche Sorge ausübt, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats bringt, nicht unter den allgemeinen Tatbestand der Beihilfe zur unerlaubten Einreise fällt und zum anderen diese Artikel der Charta nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die ein solches Verhalten strafrechtlich ahnden. [...]