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VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 08.08.2025 - 1 A 3283/25 - asyl.net: M33600
https://www.asyl.net/rsdb/m33600
Leitsatz:

Gefährdungslage in der Ukraine rechtfertigt Asylfolgeverfahren: 

1. Die Gefährdungslage in der gesamten Ukraine hat sich durch den russischen Angriffskrieg erheblich geändert und betrifft mittlerweile auch die westlichen Regionen der Ukraine. 

2. Diese Erkenntnisse sind dazu geeignet, mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer günstigeren Entscheidung zu führen und rechtfertigen die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (§ 71 Abs. 1 AsylG).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ukraine, Asylfolgeantrag, Änderung der Sachlage,
Normen: VwVfG § 51, AsylG § 71
Auszüge:

[...]

Vor diesem Hintergrund kann die Maßstabsbildung des Bundesamtes und die eingehende Prüfung der Voraussetzungen des internationalen Schutzes bzw. des Wiederaufgreifens zu Abschiebungsverboten gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG im Einzelfall nicht überzeugen. Nach Auffassung des Einzelrichters hat sich die Gefährdungslage in der gesamten Ukraine durch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Russischen Föderation im Februar 2022 erheblich geändert. Mittlerweile ist die Gefährdung nicht mehr auf die Heimatregion der Antragstellerin begrenzt, sondern betrifft auch die westlichen Regionen, in denen das Bundesamt einen Ort internen Schutz erkennen möchte. Die militärische Eskalation hat dazu geführt, dass die Europäische Union die Massenzustrom-Richtlinie (Richtlinie 2001/55/EG) in Kraft gesetzt hat und darüber eine aufenthaltsrechtliche Perspektive gem. § 24 AufenthG eröffnet wurde. Im asylrechtlichen Bereich haben Verwaltungsgerichte den Vortrag materiell geprüft und teilweise subsidiären Schutz zuerkannt [...]. Auch hinsichtlich der Rückkehrperspektive haben sich die zu erwartenden Lebensumstände durch den Angriff im gesamten Land verändert. Die landesweite erhöhte Gefährdungslage begründet einen Qualitätssprung, der nach Auffassung des Einzelrichters neue Erkenntnisse über die Situation im Herkunftsland darstellt. Diese Erkenntnisse konnte das Bundesamt zum Zeitpunkt der Entscheidung im vorangegangenen Verfahren im Jahr 2017 auch noch nicht haben. Die neuen Elemente sind relevant bzw. maßgeblich für die Prüfung der drohenden Gefahren bei einer Rückkehr in die Ukraine. Sie tragen nach Einschätzung des Einzelrichters mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer günstigeren Entscheidung bei, unabhängig von der Frage, ob die Ausführungen der Klägerin tatsächlich zu einem Schutzanspruch führen. Sofern das Bundesamt bei der Zulässigkeit eines weiteren Asylverfahrens und ausführlich auch bei der Frage des Wiederaufgreifens des Verfahrens nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG (S. 3 bis S. 12 des Bescheides) prüft, ob weiterhin die Möglichkeit der inländischen Fluchtalternative bestehe, so verkennt das Bundesamt die Anforderungen des § 71 Abs. 1 i. V. m. § 51 VwVfG. Es ist keine abstrakte Betrachtung der Wahrscheinlichkeit einer günstigeren Entscheidung ausreichend, sondern es bedarf auch der Berücksichtigung der individuellen Umstände der Klägerin. Das Bundesamt scheint irrig davon auszugehen, dass eine "entscheidungserhebliche" Änderung der Sachlage notwendig ist. Dies ist nicht der Fall; die Prüfung der Voraussetzungen internationalen Schutzes und die Frage des internen Schutzes unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles ist einem weiteren Asylverfahren vorbehalten. [...]

Darüber hinaus wird das Bundesamt bei der Fortsetzung des Asylverfahrens zu prüfen haben, ob die (bestandskräftige) Abschiebungsandrohung im Bescheid vom 7. September 2017 aufzuheben ist, sofern einem (erneuten) Erlass einer Abschiebungsandrohung Belange i. S. v. § 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG entgegenstehen würden. Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (Beschl. v. 15.2.2023 – C-484/22 –, juris Rn. 28) und der Novellierung von § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG müssen die inlandsbezogenen Belange des Kindeswohl, der familiären Belange und des Gesundheitszustands jederzeit berücksichtigt werden, woraus auch zu schließen sein sollte, dass das Bundesamt verpflichtet ist, die Rechtmäßigkeit seiner Abschiebungsandrohung auch nach deren Bestandskraft bis zur Abschiebung weiterhin zu überprüfen [...]. Insoweit ist nach derzeitiger Kenntnis der Sach- und Rechtslage eine gemeinsame Abschiebung der Klägerin und ihres Kindes aufgrund der unklaren Staatsangehörigkeit des Kindes fraglich. Zudem würde auch eine Trennung der Tochter der Klägerin vom irakischen Vater drohen, der regelmäßigen Umgang mit dem Kind hat. Der Ehemann und Vater ist selber im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 25b AufenthG und könnte diese gem. § 25b Abs. 4 AufenthG auch an die Tochter ableiten. Ein Auseinanderbrechen der seit der Geburt hier im Bundesland bekannten Familienstrukturen könnte das Kind in seiner Persönlichkeitsentwicklung schwer schädigen. Aufgrund des geringen Alters könnte es die gegebenenfalls langfristige räumliche Trennung nur schwer begreifen und verarbeiten. Angesichts der derzeitigen Situation in der Ukraine und der verschiedenen Staatsangehörigkeiten wäre zudem unklar, inwieweit eine Familienzusammenführung überhaupt wieder möglich wäre. [...]