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VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Beschluss vom 30.04.2025 - 3 B 3680/25 - asyl.net: M33601
https://www.asyl.net/rsdb/m33601
Leitsatz:

Asylantrag eines irakischen Jesiden ist nicht offensichtlich unbegründet:

1. Die Ablehnung des Asylantrages  eines irakischen Jesiden als offensichtlich unbegründet, weil der Vortrag ohne Belang sei (§ 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG), ist "abwegig". Es kann zum einen nicht außer Acht gelassen werden, dass die Entscheidungspraxis anderer EU - Mitgliedstaaten Angehörigen der Religionsgemeinschaft der Jesiden bis zuletzt den internationalen Schutz zuerkannt hat. Zum anderen sind substantiiert vorgetragene aktuelle Vorkommnisse nicht "belanglos". 

2. Die ohne differenzierte Würdigung des Sachverhaltes und nur formelhaft begründete Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet durch das Bundesamt stellt eine "eklatante Missachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben" dar. 

3. Das Vorbringen von Antragsteller*innen ist nicht unbeachtlich im Sinne des § 36 Abs. 4 S. 3 AsylG (Verfahren bei Unzulässigkeit), wenn das Verfahren nicht verzögert wird und der Vortrag nur der Ergänzung und Vertiefung dient. 

(Leitsätze der Redaktion) 

Schlagwörter: Jesiden, Irak, offensichtlich unbegründet, ergänzender Vortrag, verspätetes Vorbringen, Unzulässigkeit
Normen: AsylG § 30 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 36 Abs. 4 S. 3
Auszüge:

[...]

Dass die Voraussetzungen des für die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet vom Bundesamt herangezogenen § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG im vorliegenden Fall gegeben sind, ist im Sinne des § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG ernstlich zweifelhaft. Danach ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer im Asylverfahren nur Umstände vorgebracht hat, die für die Prüfung des Asylantrags nicht von Belang sind.

[...] Völlig zu Recht bemängelt der Antragsteller insoweit zunächst, dass das Bundesamt unter eklatanter Missachtung der diesbezüglichen verfassungsrechtlichen Vorgaben seine dahingehende Wertung in dem angegriffenen Bescheid selbst lediglich formelhaft und ohne erkennbare differenzierte Würdigung seines, des Antragstellers, Vortrags im Rahmen seiner Anhörung mit lediglich zwei allgemein gehaltenen Sätzen begründet hat. Insbesondere weist der Antragsteller zutreffend darauf hin, dass das Bundesamt dabei insbesondere außer Acht gelassen hat, dass er im Hinblick auf seinen Vortrag, für ihn sei ein Leben im Irak nicht möglich, insbesondere auch auf seine Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Jesiden verwiesen hat. Dass dieser Vortrag im Sinne des § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG für die Prüfung des Asylantrags „nicht von Belang“ wäre, ist abwegig, zumal gerichtsbekannt andere EU-Mitgliedstaaten – etwa Griechenland – zumindest bis in die jüngste Vergangenheit hinein irakischen Staatsangehörigen allein wegen einer Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Jesiden internationalen Schutz gewährt haben, was schon mit Blick auf den europarechtlichen Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Rahmen des gemeinsamen europäischen Asylsystems jedenfalls nicht völlig außer Acht bleiben kann. Im Übrigen hat der Antragsteller auch selbst im vorliegenden Verfahren mit Schriftsatz vom 15.04.2025 substantiiert zu aktuellen Vorkommnissen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Irak vorgetragen, die im Hinblick auf eine mögliche flüchtlingsschutzrelevante Gefährdung der Angehörigen der jesidischen Glaubensgemeinschaft dort jedenfalls nicht als belanglos qualifiziert werden können. 

Soweit die Antragsgegnerin nunmehr mit Schriftsatz vom 30.04.2025 meint, dieser Vortrag sei „nicht zu werten“, weil er vom Vortrag des Antragstellers im Rahmen seiner persönlichen Anhörung im Verwaltungsverfahren abweiche, erschließt sich diese rechtliche Bewertung dem Einzelrichter bereits dem Grunde nach nicht. Ob und ggf. in welchem Umfang ergänzender Vortrag eines Asylbegehrenden in einem Verfahren des vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes unbeachtlich bleiben kann, ist in § 36 Abs. 4 Satz 3 AsylG abschließend geregelt. Zu den dort normierten Voraussetzungen verhält sich der Vortrag der Antragsgegnerin allerdings nicht. Der Vortrag des Antragstellers im Schriftsatz vom 15.04.2025 verzögert im Übrigen die Entscheidung über seinen Eilantrag nicht. Diesem hätte nämlich an sich bereits spätestens nach dem Eingang jenes Schriftsatzes stattgegeben werden  können, da der Bescheid der Antragsgegnerin hinsichtlich des Offensichtlichkeitsurteil – wie bereits dargelegt – an einem offenkundigen Begründungs- und Sachverhaltsauswertungsmangel leidet. Abgesehen davon perpetuiert die Antragsgegnerin diesen Mangel mit ihrem nunmehrigen Vortrag sogar, in dem sie damit weiterhin sinngemäß in Abrede stellt, dass der Antragsteller sich bereits im Verwaltungsverfahren auch auf Schwierigkeiten im Irak als Angehöriger der jesidischen Glaubensgemeinschaft berufen habe. [...]