Die Einstufung Georgiens als sicheres Herkunftsland begegnet ernstlichen Zweifeln:
Die Voraussetzungen für die Einstufung Georgiens als sicheres Herkunftsland liegen unter Beachtung der Rechtsprechung des EuGH vom 1. August 2025 - C-758/24 und C-759/24 - LC und CP gg. Italien [Alace] und [Canpelli]K – asyl.net: M33501 und des Berichts des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Georgien vom 10.06.2025 nicht mehr vor.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
1. Die ernstlichen Zweifel an der Rechtswidrigkeit [sic] der Einstufung Georgiens als sicherer Herkunftsstaat folgen nach Auffassung der Kammer daraus, dass die Einstufung unter Berücksichtigung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 1. August 2025 - C-758/24 - in Zusammenschau mit dem aktuellen Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Georgien vom 10. Juni 2025 gegen Art. 36, 37 und 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU [...] (Asylverfahrensrichtlinie) verstößt.
§ 29a AsylG setzt neben der nationalen Regelung des Art. 16a Abs. 3 GG das unionsrechtliche Konzept sicherer Herkunftsstaaten um, das (insbesondere) in Art. 36 und 37 der Richtlinie 2013/32/EU normiert ist. Nach Art. 37 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU können die Mitgliedstaaten zum Zwecke der Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz Rechts- oder Verwaltungsvorschriften beibehalten oder erlassen, aufgrund derer sie im Einklang mit Anhang I sichere Herkunftsstaaten bestimmen können. In Satz 1 des Anhangs I zur Richtlinie 2013/32/EU ist bestimmt, dass ein Staat als sicherer Herkunftsstaat gilt, wenn sich anhand der dortigen Rechtslage, der Anwendung der Rechtsvorschriften in einem demokratischen System und der allgemeinen politischen Lage nachweisen lässt, das dort generell und durchgängig weder eine Verfolgung im Sinne des Art. 9 der Richtlinie 2011/95/EU noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe noch Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zu befürchten sind. [...]
In seinem Urteil vom 4. Oktober 2024 - C-406/22 -, Rn. 98, hat der Europäische Gerichtshof zunächst ausgeführt, dass Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU dahin auszulegen ist, dass ein Gericht, wenn es mit einem Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung befasst ist, mit der ein Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt wird, der im Rahmen der Sonderregelung für Anträge von Antragstellern aus nach Art. 37 der Richtlinie als sichere Herkunftsstaaten eingestuften Drittstaaten geprüft wurde, im Zuge der nach Art. 46 Abs. 3 vorgeschriebenen umfassenden Ex-nunc-Prüfung auf der Grundlage der Akten sowie der ihm im bei ihm anhängigen Verfahren zur Kenntnis gebrachten Angaben (jedenfalls) [...] prüfen muss, ob die in Anhang I dieser Richtlinie genannten materiellen Voraussetzungen für eine solche Einstufung verkannt worden sind [...], auch wenn dies nicht ausdrücklich zur Begründung des Rechtsbehelfs geltend gemacht wird. [...]
Es bedarf im gegebenen Fall keiner Entscheidung, ob dem deutschen Gesetzgeber bei der Bestimmung eines sicheren Herkunftsstaats nach § 29a AsylG, Art. 16a Abs. 3 GG ein nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbarer Entscheidungs- und Wertungsspielraum zukommt [...], wonach sich die vorzunehmende gerichtliche Prüfung darauf beziehen muss, ob die in Anhang I dieser Richtlinie genannten materiellen Voraussetzungen für eine solche Einstufung verkannt [...] worden sind.
Denn die Bestimmung Georgiens zum sicheren Herkunftsstaat durch das Gesetz zur Bestimmung Georgiens und der Republik Moldau als sichere Herkunftsstaaten vom 19. Dezember 2023 verkennt selbst im Falle eines solchen Entscheidungs- und Wertungsspielraums nach Auffassung der Kammer im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt angesichts des nach den vorzitierten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs zu berücksichtigenden aktuellen Berichts des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Georgien vom 10. Juni 2025 den in Art. 37 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU sowie Satz 1 des Anhangs I zur Richtlinie 2013/32/EU aufgestellten Maßstab, dass sich anhand der Rechtslage, der Anwendung der Rechtsvorschriften in einem demokratischen System und der allgemeinen politischen nachweisen lassen muss, dass dort generell und durchgängig weder eine Verfolgung im Sinne des Art. 9 der Richtlinie 2011/95/EU noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe zu befürchten sind.
Ausweislich der Gesetzesbegründung zum Gesetz zur Bestimmung Georgiens und der Republik Moldau als sichere Herkunftsstaaten vom 19. Dezember 2023 [...] basierte die Entscheidung, Georgien zum sicheren Herkunftsstaat zu machen, u.a. auf folgenden tatsächlichen Annahmen:
a. Georgien strebt eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union (EU) an. Auch wenn Georgien vom Europäischen Rat im Juni 2022 noch nicht der Kandidatenstatus verliehen wurde, setzt Georgien seinen Reformweg konsequent fort, um die von der Europäischen Kommission definierten Reformprioritäten umzusetzen. Es ist aufgrund des Standes des Reformprozesses davon auszugehen, dass Georgien künftig der Status eines Beitrittskandidaten verliehen werden kann [...].
b. Am 1. Juli 2016 trat das Assoziierungsabkommen mit der EU in Kraft und seit dem 28. März 2017 dürfen georgische Staatsangehörige visumfrei in den Schengen-Raum einreisen und sich darin bis zu 90 Tage innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen aufhalten [...].
c. Die 2012 neu gewählte und 2016 und im Oktober 2020 im Amt bestätigte Regierung des Georgischen Traums hält an den eingeschlagenen Weg grundsätzlich fest [...]. Ein von der Regierungsmehrheit unterstützter umstrittener Gesetzesentwurf bezüglich einer Registrierungspflicht als "ausländischer Agent" für Medien- und Nichtregierungsorganisationen, der seitens der EU als "inkompatibel mit den Werten und Standards der EU" bezeichnet wurde, wurde nach mehrtägigen und teils gewaltsamen Protesten der Opposition von der Regierungspartei letztlich zurückgezogen [...].
d. Die politischen Freiheiten sind verfassungsrechtlich verankert und staatlicherseits auch gewährleistet. Die politische Opposition kann ungehindert tätig werden [...].
e. Presse und Medien können grundsätzlich frei arbeiten, Georgien liegt in der von "Reporter ohne Grenzen" erstellten weltweiten Liste der Pressefreiheit 2022 auf Platz 89 [...]
f. Die Verfassung von Georgien verbietet Folter. Bis 2012 gab es wiederholt Berichte über willkürliche Haft und Gewaltanwendung einschließlich Folterhandlungen gegenüber Personen in Polizeigewahrsam oder im Strafvollzug, die auch zum Regierungswechsel 2012 beitrugen. Ein systemischer Charakter ist heute nicht mehr feststellbar. Ombudsperson und zivilgesellschaftliche Organisationen sprechen bekanntwerdende Vorfälle und gegebenenfalls unzureichend betriebene Ermittlungen öffentlich an [...].
Hierbei stützte sich der Gesetzgeber insbesondere auf die Berichterstattung des Auswärtigen Amts zu Georgien bis April 2023 [...].
Die vorgenannten tatsächlichen Annahmen, die für den für eine Einstufung als sicherer Herkunftsstaat zu führenden Nachweis im Sinne von Art. 37 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU sowie Satz 1 des Anhangs I zur Richtlinie 2013/32/EU fundamental sind, sind nach den im aktuellen Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Georgien vom 10. Juni 2025 getroffenen Feststellungen nicht nur nicht eingetreten, sondern vielmehr ist eine ihnen teils gravierend zuwiderlaufende Entwicklung zu verzeichnen:
a. Der Europäische Rat stellte am 27. Juni 2024 fest, dass der Beitrittsprozess mit Georgien faktisch zum Stillstand gekommen ist [...].
b. Die Bundesregierung, die Europäische Union, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der Europarat, Großbritannien und die USA haben die georgischen Behörden wiederholt aufgefordert, auf den Pfad der euro-atlantischen Integration zurückzukehren, indem sie europäische Normen und Werte achten und Reformen umsetzen. Die bilaterale Zusammenarbeit Deutschlands mit Georgien wurde deutlich reduziert. So wurden u.a. Unterstützungsprojekte des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Wert von 237 Mio. Euro ausgesetzt, gemeinsame Gesprächsformate abgesagt. Die Bundesregierung verhängte im Dezember 2024 und März 2025 im Zusammenhang mit Verstößen gegen Menschen- und Freiheitsrechte der in Georgien Protestierenden zudem gegen mehrere georgische Beamte nationale Einreisesperren. Mehrere EU-Mitgliedstaaten haben ebenfalls Einreisesperren angeordnet, die USA und Großbritannien auch wirtschaftliche Sanktionen gegen einzelne georgische Verantwortliche verhängt. Die Europäische Union hat die Visafreiheit für Inhaber von Diplomaten- und Dienstpässen aufgehoben. Zum Schutz der Versammlungs- und Medienfreiheit in Georgien und zur Aufarbeitung staatlicher Gewalt gegen Protestierende hat Deutschland gemeinsam mit 37 anderen Staaten im Rahmen der OSZE den "Wiener Mechanismus" (Verfahren, das den Teilnehmer-Staaten Fragen zur Situation der "menschlichen Dimension" in einem OSZE-Staat ermöglicht) ausgelöst [...].
c. Unmittelbar nach seiner Wiederwahl durch das neue Parlament am 28. November 2024 kündigte der georgische Premierminister Kobachidse an, bis Ende 2028 keine Beitrittsgespräche mehr mit der EU anzustreben und auf alle EU-Budgethilfen zu verzichten. Anfang April 2025 wurde der "Foreign Agents Registration Act" verabschiedet, der bis dato unklar definierte "Agenten eines ausländischen Auftraggebers" zur Registrierung als feindlicher Agent verpflichtet [...].
d. Im Rahmen der Proteste nach der Verlautbarung von Premierminister Kobachidse im November 2024 traten wiederholt vermummte Schlägergruppen in Erscheinung, die gezielt Demonstrierende auf offener Straße angriffen. Offizielle Sicherheitskräfte schienen dies zu dulden, es sind keine strafrechtlichen Bemühungen bekannt, diese Taten aufzuklären [...]. Hochrangige Vertreter des Georgischen Traums drohten, nach den Wahlen Verbotsverfahren gegen Oppositionsparteien einzuleiten und strafrechtlich gegen führende Oppositionspolitiker vorzugehen [...]. Anfang 2025 kam es zu Entlassungen u.a. in der Stadtverwaltung Tiflis und im Verteidigungsministerium in Folge von "Umstrukturierungen" der Verwaltung. Hiervon betroffen waren insbesondere Mitarbeitende, die sich gegen die Politik des Georgischen Traums ausgesprochen hatten [...]. Der Georgische Traum kündigte wiederholt an, "Nürnberger Prozesse" gegen die "kollektive, radikale, vom Ausland "gesteuerte Opposition" durchführen und diese ausmerzen zu wollen [...].
e. Die Pressefreiheit wird verstärkt eingeschränkt: Die Nichtregierungsorganisation "Reporter ohne Grenzen" kritisiert ein feindliches Umfeld für Medienschaffende, in dem staatliche und nichtstaatliche Institutionen instrumentalisiert würden, um zivilgesellschaftliche Gruppen und regierungskritische Medien zu diskreditieren. Nachdem Georgien im Pressefreiheits-Ranking von "Reporter ohne Grenzen" 2022 von Platz 60 auf 89 herabgestuft wurde, erfolgte 2024 ein weiterer Abstieg auf Platz 103 [...].
f. Während der Proteste im November 2024 kam es zu einer Vielzahl von schweren Verstößen gegen Menschenrechte durch Sicherheitskräfte, Gewalt gegen Protestierende in Polizeigewahrsam, die laut internationalen Experten und georgischem Ombudsmann als Folter eingeordnet werden können, ebenso zu Angriffen auf Bürger und Oppositions- und Medienvertretende durch maskierte Schlägertrupps. Diese Gewalt blieb bis dato straflos, entweder, weil die zuständigen Ermittlungsbehörden keine Untersuchungen einleiteten, oder diese bisher ohne Ergebnis blieben. Regierungskritiker werden andererseits von der Justiz für ihnen vorgeworfene Ordnungswidrigkeiten und Straftaten bestraft [...].
Angesichts dieser erheblichen Änderungen in den der Einstufung Georgiens als sicheren Herkunftsstaat zugrundeliegenden tatsächlichen Annahmen kann nach Auffassung der Kammer die seinerzeit von guten Gründen geleitete Entscheidung des Gesetzgebers, für Georgien lasse sich der Nachweis im Sinne von Art. 37 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU sowie Satz 1 des Anhangs I zur Richtlinie 2013/32/EU führen, im hier maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnisse des Auswärtigen Amts nicht mehr in vertretbarer Weise fortgelten. [...]