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OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 11.08.2025 - 2 M 64/25 - asyl.net: M33640
https://www.asyl.net/rsdb/m33640
Leitsatz:

Ausnahmsweise kein Ausweisungsinteresse bei unerlaubter Einreise:

"1. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung (der begehrten Aufenthalts­erlaubnis) im Sinne des § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 AufenthG erfüllt sind und die Nachholung des Visum­verfahrens deshalb eine bloße Förmelei darstellen könnte, muss die allgemeine Erteilungs­voraussetzung der vorherigen Durchführung des Visumverfahrens gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ausgeklammert werden (vgl. HessVGH, Beschluss vom 25. Mai 2023 - 6 B 362/23 - juris Rn. 8).

2. Daraus folgt allerdings nicht, dass auch bei der Frage, ob ein Ausweisungsinteresse im Sinne der §§ 5 Abs. 1 Nr. 2, 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG wegen unerlaubter Einreise im Sinne von § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG besteht, zu unterstellen ist, dass bei der Einreise das erforderliche Visum vorgelegen hat.

3. Besondere Umstände können in ihrer Zusammenschau im Einzelfall die Annahme rechtfertigen, dass eine unerlaubte Einreise im Sinne von §§ 14 Abs. 1 Nr. 2, 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG als geringfügig zu bewerten ist, so dass kein Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG besteht."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Visumsverfahren, Ausweisungsinteresse, Förmelei, geringfügig, unerlaubte Einreise
Normen: AufenthG § 5, AufenthG § 14, AufenthG § 54, AufenthG § 95,
Auszüge:

[…]

14 c) Die unerlaubte Einreise des Antragstellers begründet voraussichtlich kein Ausweisungsinteresse im Sinne von §§ 5 Abs. 1 Nr. 2, 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG.

15 Nach § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG liegt ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG vor, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen oder außerhalb des Bundesgebiets eine Handlung begangen hat, die im Bundesgebiet als vorsätzliche schwere Straftat anzusehen ist.

16 Zwar ist eine vorsätzlich begangene Straftat grundsätzlich nicht geringfügig im Sinne von § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG. So stellen ‒ wie oben bereits ausgeführt ‒ auch die vorsätzliche unerlaubte Einreise in das bzw. der unerlaubte Aufenthalt im Bundesgebiet regelmäßig einen nicht geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften im Sinne dieser Regelung dar […]. Nach § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist die Einreise eines Ausländers in das Bundesgebiet unerlaubt, wenn er den nach § 4 erforderlichen Aufenthaltstitel nicht besitzt. Unerlaubt im Sinne des § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG reist daher ein, wer schon bei der Einreise einen Daueraufenthalt im Bundesgebiet beabsichtigt, jedoch nicht im Besitz des für einen solchen langfristigen Aufenthalt erforderlichen nationalen Visums ist […]. Unerheblich ist, ob sich der Ausländer dieses Umstands bewusst war oder nicht […]. Da der Antragsteller nicht mit einem Visum in das Bundesgebiet eingereist ist, das für den von ihm bereits bei der Einreise beabsichtigten längerfristigen Aufenthalt im Bundesgebiet erforderlich ist, war seine Einreise unerlaubt im Sinne von § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Die vorsätzliche unerlaubte Einreise erfüllt den Straftatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG.

17 Auch wenn dem Antragsteller ein - zumindest bedingt - vorsätzliches Verhalten vorzuhalten sein mag, dürfte seine unerlaubte Einreise gleichwohl bei einer Gesamtbetrachtung der konkreten Umstände des Einzelfalles noch als geringfügiger Verstoß gegen Rechtsvorschriften zu werten sein. Bei vorsätzlichen Straftaten kann es zwar nur unter engen Voraussetzungen Ausnahmefälle geben, in denen der Rechtsverstoß als geringfügig zu bewerten ist. […]

18 Es dürften hier besondere Umstände vorliegen, die in ihrer Zusammenschau den vom Antragsteller begangenen Rechtsverstoß als geringfügig erscheinen lassen.

19 (1) Zu berücksichtigen ist zunächst, dass der Antragsteller nur wenige Tage nach seiner Einreise bei der Antragsgegnerin die Erteilung der erforderlichen Aufenthaltserlaubnis beantragt hat.

20 (2) Von Bedeutung ist ferner, dass sich der Antragsteller vor seiner unerlaubten Einreise bereits mehrere Jahre mit dem erforderlichen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet aufhielt und eine Beschäftigung als Fachkraft ausübte, die er nunmehr wieder anstrebt. Den ‒ ursprünglich rechtmäßigen ‒ Aufenthalt unterbrach er aufgrund der Erkrankung seiner Tochter. Die Frage, ob er den erforderlichen Aufenthaltstitel nach einer Wiedereinreise im Bundesgebiet einholen kann, war für den Antragsteller ‒ anders als bei der erstmalige Einreise ‒ nicht einfach zu beurteilen. Die Antragsgegnerin hatte ihm vor seiner Ausreise in die USA auf seinen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis eine Fiktionsbescheidung nach § 81 Abs. 5 AufenthG ausgestellt. Die Bescheinigung hatte zwar nur eine Gültigkeit bis zum 28. Februar 2023. Da die Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 AufenthG aber nur deklaratorischen Charakter hat, hat die darin angegebene Geltungsdauer keinen Einfluss auf das Fortbestehen der Fiktionswirkung […]. Nach Nr. 81.4.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum AufenthG bedeutet die Fiktionswirkung, dass "der bisherige Aufenthaltstitel mit allen sich daran anschließenden Wirkungen einschließlich der Erlaubnis zur Erwerbstätigkeit bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als fortbestehend" gilt. Dies bedeutet auch, dass die Fiktion des Fortbestehens des Aufenthaltstitels Wiedereinreisen nach Deutschland ermöglicht […]. Zwar war hier die Fortgeltungsfiktion ‒ wie eine Aufenthaltserlaubnis ‒ gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG erloschen, da der Antragsteller nach seiner Ausreise nicht innerhalb von sechs Monaten oder einer von der Ausländerbehörde bestimmten längeren Frist wieder eingereist ist. Auf diese Rechtsfolge wurde aber in der ihm erteilten Fiktionsbescheinigung nicht hingewiesen. Sie enthielt nur den Hinweis darauf, dass die Bescheinigung nach § 81 Abs. 5 AufenthG mit Ablauf des im Klebeblatt genannten Gültigkeitsdatums ungültig werde. Wäre der Antragsteller innerhalb von sechs Monaten nach seiner Ausreise wieder nach Deutschland eingereist, wäre die Fortgeltungsfiktion des § 81 Abs. 4 AufenthG nicht erloschen, so dass sein Aufenthalt im Bundesgebiet rechtmäßig gewesen wäre.

21 (3) Hinzu kommt, dass sein Sohn neben der ukrainischen auch die US-amerikanische Staatsangehörigkeit besitzt, so dass die Frage im Raum stand, ob sich daraus auch für den Antragsteller die Möglichkeit ergab, den erforderlichen Aufenthaltstitel nach der Wiedereinreise einzuholen. Für seinen Sohn hätte aufgrund seiner als US-amerikanischen Staatsbürgerschaft der erforderliche Aufenthaltstitel auch im Bundesgebiet eingeholt werden können.

22 (4) Schließlich ist in Rechnung zu stellen, dass ukrainische Staatsangehörige unter bestimmten Voraussetzungen, auch wenn sie einen Daueraufenthalt im Bundesgebiet anstreben, ohne Visum in das Bundesgebiet einreisen dürfen. Zwar kann sich der Antragsteller nicht auf die Vergünstigungen in der Verordnung zur vorübergehenden Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels von anlässlich des Krieges in der Ukraine eingereisten Personen vom 7. März 2022 (UkraineAufenthaltÜV) berufen. […]

25 3. Nach alledem kann offenbleiben, ob von der Nachholung des Visumverfahrens nach § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG abzusehen ist, weil es für den Antragsteller und seine Familie auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen. Der Senat tendiert allerdings ‒ anders als die Vorinstanz ‒ zu der Auffassung, dass die Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG nach derzeitigem Sach- und Streitstand nicht vorliegen dürften.

26 Die mit der Ausreise und einer erneuten Einreise mit dem erforderlichen Visum verbundenen Kosten, Mühen und Verluste an Zeit, die für andere Angelegenheiten dringender benötigt wird, gehören zu dem normalen Risiko der nicht ordnungsgemäßen Einreise und begründen daher für sich allein nicht die Unzumutbarkeit der Ausreise und Nachholung des Visumverfahrens. Wartezeiten, Kosten und sonstige Erschwernisse, die durch das Visumverfahren entstehen, sind als typische Umstände der gesetzlichen Ausgestaltung des Einreiseverfahrens auch bei der ordnungsgemäßen Einreise grundsätzlich hinzunehmen. Als unzumutbar können sie etwa dann angesehen werden, wenn die notwendigen Reisen aufgrund äußerer Umstände oder aus persönlichen Gründen besondere Schwierigkeiten bereiten oder besonders aufwendig erscheinen, z.B. bei der Durchreise durch mehrere andere Staaten, bei Reiseunfähigkeit, Krankheit oder der Sorge für einen pflegebedürftigen Angehörigen oder sehr kleinen Kindern. Eine Trennung von Ehegatten, die die übliche Dauer des Visumverfahrens nicht übersteigt, ist regelmäßig zumutbar […]. Wenn die Reise allgemein unmöglich ist, oder wenn sie nicht legal oder nur unter großen Schwierigkeiten durchgeführt werden kann, ist ebenso ein Fall der Unzumutbarkeit gegeben, wobei finanzielle Gesichtspunkte nur in Extremfällen eine Rolle spielen können […]. In Fällen, in denen nicht die Reise zur Nachholung des Visumverfahrens selbst, sondern eher eine lange Wartezeit bis zur Visumerteilung unzumutbar ist, kommt bei klaren Sachverhalten die Erteilung einer Vorabzustimmung nach § 31 Abs. 3 AufenthV in Betracht […]. Nach dieser Regelung kann die Ausländerbehörde insbesondere im Fall eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels, eines öffentlichen Interesses, in den Fällen der §§ 18a, 18b, 18c Absatz 3, §§ 19, 19b, 19c oder 21 des Aufenthaltsgesetzes, in denen auf Grund von Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 eine Zustimmung der Ausländerbehörde vorgesehen ist, oder in dringenden Fällen der Visumerteilung vor der Beantragung des Visums bei der Auslandsvertretung zustimmen. Eine Ausreise zum Zweck der Einholung eines Visums kann auch dann unzumutbar sein, wenn diese zu einer nicht unwesentlichen Unterbrechung des Schulbesuchs im Bundesgebiet für ein schulpflichtiges Kind und möglicherweise zum Verlust eines ganzen Schuljahres führen würde […].

27 Gemessen daran dürfte das Nachholen des Visumverfahrens für den Antragsteller und seine Familie nach derzeitigem Sach- und Streitstand nicht unzumutbar sein. […]