Vollumfängliche Ablehnung des Asylantrages eines Syrers:
1.In Syrien droht wegen der Entziehung vom Wehrdienst seit dem Sturz des Assad-Regimes keine Verfolgung mehr. Allein die Heranziehung zur Selbstverteidigungspflicht in dem von der kurdischen Selbstverwaltung DAANES kontrollierten Gebiet stellt keine Verfolgungshandlung dar.
2. Das Gewaltniveau in dem kurdisch konfrontierten Gouvernement Hasaka ist nicht so hoch, dass es die Annahme einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG rechtfertigen würde.
3. Trotz der derzeit schlechten wirtschaftlichen Lage in Syrien (v.a. zerstörte Infrastruktur, Nahrungsmittelunsicherheit) kann bei Vorliegen positiver Prognosefaktoren ein junger Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen, mit Berufserfahrung und ohne körperliche Einschränkungen sein Existenzminimum in Syrien sichern.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AsylG. Denn er ist kein Flüchtling im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG. [...]
aa. Die im Verwaltungsverfahren geltend gemachte Bedrohung durch das Assad-Regime aufgrund von Wehrdienstentziehung kommt jedenfalls nach dem Sturz des Assad-Regimes im Dezember 2024 nicht mehr in Betracht. Das Assad-Regime scheidet als Verfolgungsakteur aus.
Der Kläger hat keine Verfolgung durch die Übergangsregierung zu befürchten. Insofern wird auf die zutreffende Begründung des Bescheids Bezug genommen, der die Kammer folgt, § 77 Abs. 3 AsylG. Eine solche Verfolgung wurde vom Kläger schon nicht geltend gemacht.
bb. Dem Kläger droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit durch die Heranziehung zu der sogenannten "Selbstverteidigungspflicht" in seiner Herkunftsregion im Nordosten Syriens eine Verfolgungshandlung Auch eine evtl. Bestrafung wegen der Entziehung von dieser Pflicht begründet keine Verfolgungshandlung. Es fehlt insofern zudem an einem Verfolgungsgrund.
(1) Der Nordosten Syriens, das Gouvernement Hasaka und große Teile der Gouvernements Deir ez-Zor und Raqqa werden von der DAANES kontrolliert. In den Gebieten der DAANES unterstehen junge, arabische und kurdische Männer im Alter von 18 bis 26 Jahren einer De-facto-Wehrpflicht, die als "Selbstverteidigungspflicht" betitelt wird. Die Selbstverteidigungspflicht umfasst das Ableisten eines einjährigen Dienstes in den Selbstverteidigungskräften. Daneben gibt es keine Wehrdienstpflicht für die SDF, dem militärischen Pendant zur DAANES im Nordosten. Stärkste Kraft innerhalb der SDF sind die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (Yekîneyên Parastina Gel – YPG). Männer, die sich freiwillig den SDF anschließen, sind von der sog. Selbstverteidigungspflicht entbunden. Die Selbstverteidigungskräfte dienen der SDF als Hilfstruppen und unterstützen diese in der Regel durch Dienstleistungen jenseits des aktiven Kampfgeschehens [...].
Gemäß Artikel 15 des Selbstverteidigungsgesetzes werden Dienstentzieher, die zum Selbstverteidigungsdienst einberufen werden, mit einem zusätzlichen Monat Dienst bestraft. Männer, die Syrien verlassen haben, aber nach Überschreiten des maximalen Dienstalters zurückkehren, erhalten in der Regel eine Amnestie. Allerdings kann ihnen eine Geldstrafe von bis zu 300 USD auferlegt werden [...].
Der gesetzlich vorgesehene zusätzliche Monat Dienst ist auch die Folge einer Dienstentziehung in der Praxis. Der weit überwiegenden Mehrheit der jüngeren Berichte lassen sich keine Fälle von Gewalt oder Misshandlungen von Deserteuren, die an Kontrollpunkten aufgegriffen wurden, entnehmen [...].
Ausweislich von zwei Quellen eines ACCORD Berichts aus 2023 werde gegenüber Arabern, die den Selbstverteidigungsdienst verweigern, zudem nachsichtiger agiert als gegenüber Kurden. Auch wurde berichtet, dass arabische Verweigerer des Selbstverteidigungsdienstes als "Feiglinge oder Gegner der DAANES" oder "Gegner der kurdischen Hegemonie" wahrgenommen würden. Lediglich eine Quelle gab an, dass es aufgrund der Dienstverweigerung in Haft zu Todesfällen gekommen sei. Diese vereinzelte Angabe konnte jedoch durch keinerlei weitere Erkenntnisse bestätigt werden. Es liegen keine Hinweise darauf vor, dass Personen, die sich der Selbstverteidigungspflicht entzogen haben, durch die Behörden oder militärische Strukturen der DAANES eine oppositionelle Haltung unterstellt werden würde [...].
(2) Allein die Heranziehung zu der Selbstverteidigungspflicht, der der Kläger mit seinen 26 Jahren noch unterliegt, begründet demnach keine Verfolgungshandlung. Denn bei der Heranziehung zum Militärdienst im Allgemeinen handelt es sich um eine staatsbürgerliche Pflicht, die nicht schon für sich allein eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung darstellt.
Nicht anders ist es im Fall der Selbstverteidigungspflicht. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger im Rahmen der Erfüllung der Selbstverteidigungspflicht Kriegsverbrechen (vgl. dazu. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG) oder vergleichbare Handlungen begehen müsste, liegen nicht vor.
(3) Dem Kläger droht wegen einer Entziehung von der Selbstverteidigungspflicht auch keine Bestrafung, die als Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a AsylG zu qualifizieren wäre. Denn die insofern zu erwartenden Folge für den Kläger erreichen schon nicht die für eine Verfolgungshandlung notwendige Schwere. Dem Kläger droht "nur" ein Monat Zusatzdienst. Die Berichte, die ausnahmsweise von Gewaltausübung gegenüber Personen, die sich der Selbstverteidigungspflicht entzogen haben, sprechen, sind vereinzelt geblieben. Sie bieten deshalb keine Grundlage für die Annahme, eine Verfolgungshandlung sei beachtlich wahrscheinlich. Die im Fall der Rückkehr nach Überschreiten des Dienstalters gegebenenfalls zu erwartenden Geldstrafe erreicht ebenfalls nicht die für eine Verfolgungshandlung notwendige Schwere.
Im Übrigen fehlt es bei einer etwaigen Bestrafung auch an einem Verfolgungsgrund. Denn die Bestrafung würde den Kläger nicht wegen eines der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Merkmale treffen [...].
Dem Kläger steht der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG nicht zu. [...]
Bezugspunkt der Gefahrenprognose ist die Herkunftsregion des Klägers, das Gouvernement Hasaka. Da in der Person des Klägers keine gefahrerhöhenden Umstände vorliegen, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich. Daran fehlt es. [...]
Das Gouvernement Hasaka befindet sich in der kurdisch kontrollierten DAANES Region und ist damit fast vollständig unter der Kontrolle der SDF. Die Lage innerhalb des von den SDF kontrollierten Gebiets war in den Tagen des Regimesturzes und in den Wochen danach relativ stabil. Im Nordwesten an der Grenze zur Türkei sind Teile noch in der Kontrolle der Syrischen Nationalarmee (Syrian National Army – SNA), welche der Übergangsregierung nun offiziell untergeordnet ist. Trotz der Unterzeichnung eines Abkommens zwischen der Übergangsregierung und der SDF im März 2025 und eines offiziellen Waffenstillstands kam es vereinzelt zu Kämpfen zwischen der SDF und der SNA im Norden [...].
Eine Einigung der SDF und der Übergangsregierung über eine Integration der SDF ist bisher noch nicht erfolgt. Im August gab es vereinzelte Gefechte zwischen den Truppen in den Gouvernements Aleppo und Deir ez-Zor [...].
Darüber hinaus ist der Islamische Staat (IS) in Nordostsyrien trotz US-Militärpräsenz noch nicht vollständig besiegt, sodass es in unregelmäßigen Abständen zu Angriffen und Anschlägen auf SDF-Einheiten seitens des IS kommt. Gemäß der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (Syrian Obersvatory for Human Rights – SOHR) kam es im Jahr 2025 bisher zu 148 Angriffen des IS in den Gebieten der DAANES mit insgesamt 62 Todesopfern. Der Großteil davon ereignete sich im Gouvernement Deir ez-Zor. Bei den Opfern handelte es sich überwiegend um Mitglieder der SDF oder um mit ihnen verbündete Milizen [...].
Die Anzahl der konfliktbedingten zivilen Opfer und demzufolge das Tötungs- und Verletzungsrisiko infolge willkürlicher Gewalt im Gouvernement Hasaka rechtfertigen nicht die Annahme, dass aktuell dort ein besonders hohes Gewaltniveau besteht. [...]
3. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die hilfsweise geltend gemachte Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und § 60 Abs. 7 AufenthG. [...]
b) Die vorliegenden Erkenntnismittel zu Syrien ergeben in der Gesamtschau derzeit folgendes Bild: Der Bürgerkrieg hat in Syrien zu einer sehr schlechten wirtschaftlichen Lage geführt (nachfolgend unter aa.), hat große Teile der Infrastruktur zerstört (nachfolgend unter bb.) und hat eine Ernährungsunsicherheit in der Bevölkerung (nachfolgend unter cc.) hervorgerufen. Trotz positiver Tendenzen nach dem Sturz des Assad-Regimes ist die Bevölkerung weiterhin massiv auf humanitäre Hilfe angewiesen (nachfolgend unter dd.) und steht vor großen Herausforderungen, wie Wohnungsmangel (nachfolgend unter ee.), im Verhältnis zum Einkommen hohen Lebenshaltungskosten (nachfolgend unter ff.) und einem sehr eingeschränkten Arbeitsmarkt (nachfolgend gg.). [...]
c) Eine zusammenfassende Würdigung dieser Erkenntnislage ergibt, dass es von den Besonderheiten des Einzelfalls abhängt, ob einem Rückkehrer nach Syrien die Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK droht. Dazu gehören etwa Unterhaltsverpflichtungen, die Rückkehrregion, berufliche Erfahrungen, körperliche Einschränkungen, ein familiäres oder soziales Netzwerk und eine vorhandene Unterkunft. In der Person des Klägers liegen eine Vielzahl von positiven Prognosefaktoren vor, weshalb es nicht beachtlich wahrscheinlich ist, dass er seinen existentiellen Lebensunterhalt und den seiner Frau in einem absehbaren Zeitraum nicht noch ausreichend sichern können wird. [...]
Begünstigend in die Prognose ist aber einzustellen, dass der Kläger mit seiner Ehefrau eine Unterkunft bei der der Familie finden wird und deshalb keine Mietkosten anfallen werden. Die dem Kläger zugänglichen Rückkehrhilfen reichen in Kombination mit dem erzielbaren Erwerbseinkommen deshalb aus, um das Existenzminimum für sich und seine Ehefrau für einen absehbaren Zeitraum noch sicher zu stellen. [...]
Dafür, dass bereits das zu erzielende Einkommen zur Deckung des Bedarfs von zwei erwachsenen Personen noch ausreicht, sprechen die Angaben des Klägers zu den Lebensumständen seiner in Syrien verbliebenen Eltern mit drei seiner minderjährigen Geschwister. Diese leben nach Schilderung des Klägers, die das Gericht und auch die Vertreter der Beklagten mehrmals hinterfragten, nur von einem monatlichen Gehalt des Vaters in Höhe von 22 USD. Unabhängig davon, dass dies nach seiner Aussage in der Regel lediglich für 10 Tage des Monats reiche, verdeutlicht dies die der Familie des Klägers verfügbaren Bewältigungsstrategien, um mit dem geringen Einkommen auszukommen. Der Kläger hat nicht davon berichtet, dass seine Familie Hunger leide. Im Gegenteil ist es der Familie gelungen, dennoch drei Kindern die Ausreise ins Ausland zu finanzieren. Dahingestellt bleiben kann, ob die Familie insoweit – entgegen den Angaben des Klägers – nicht doch finanzielle Unterstützung durch die drei im europäischen Ausland lebenden Kinder erhält. [...]