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VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 14.08.2025 - 3 A 4909/22 - asyl.net: M33678
https://www.asyl.net/rsdb/m33678
Leitsatz:

Keine Abschiebung ins Herkunftsland bei Anerkennung als Flüchtling in anderem EU-Mitgliedstaat

"§ 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG steht der Androhung einer Abschiebung in den Herkunftsstaat entgegen, wenn der Ausländer außerhalb des Bundesgebiets als ausländischer Flüchtling nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt ist. Die Vorschrift ist nicht teleologisch zu reduzieren, wenn ein anderer Mitgliedsstaat der Europäischen Union dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat und eine Ablehnung des im Bundesgebiet gestellten Asylantrags als unzulässig deswegen ausscheidet, weil den Ausländer in dem Mitgliedsstaat, der ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, eine Art. 4 GRCh widersprechende Behandlung droht. Der Grundsatz der Nichtzurückweisung nach Art. 5 der Rückführungs­richtlinie (2008/115/EG) steht einer Abschiebung eines Ausländers in seinen Herkunftsstaat entgegen, wenn ein anderer Mitgliedsstaat der Europäischen Union den Ausländer als Flüchtling anerkannt hat und dieser Mitgliedsstaat die Flüchtlingseigenschaft nicht aberkannt hat."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: internationaler Schutz in EU-Staat, Bindungswirkung, Irak, Abschiebungsandrohung,
Normen: AsylG § 34 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 2, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 2
Auszüge:

[...]

V. Die Abschiebungsandrohung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot im angefochtenen Bescheid sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. [...]

Der Benennung des Iraks als Zielstaat der Abschiebung steht jedoch entgegen, dass eine Abschiebung des Klägers in seinen Herkunftsstaat nach § 60 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 AufenthG unzulässig ist (dazu a)). Die Entscheidung selbstständig tragend verstößt die Androhung der Abschiebung in den Irak zudem gegen den in Art. 5 der Rückführungsrichtlinie enthaltenen Grundsatz der Nichtzurückweisung (dazu b)). Da die angefochtene Abschiebungsandrohung über den Irak hinaus keinen weiteren Zielstaat enthält, ist sie insgesamt aufzuheben. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist ohne wirksame Abschiebungsandrohung ebenfalls rechtswidrig und aufzuheben [...].

a) Für den Kläger besteht nach § 60 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 AufenthG ein Abschiebungsverbot bezogen auf den Irak. [...]

§ 60 Abs. 1 Satz 1 (i.V.m. Satz 2) AufenthG verbietet nach seinem Wortlaut und nach einhelliger Auffassung die Abschiebung in den Verfolgerstaat [...] und damit auch - wie ausgeführt - die Androhung der Abschiebung in diesen Staat.

Die Anerkennung eines Ausländers als Flüchtling oder als subsidiär Schutzberechtigter in einem anderen Staat wirkt zwar völkerrechtlich nicht wie eine Statusentscheidung durch deutsche Behörden und hat in diesem Sinne keine umfassende Bindungswirkung für die Bundesrepublik Deutschland [...]. Die Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 legt einheitliche Kriterien für die Qualifizierung als Flüchtling fest, sieht aber keine völkerrechtliche Bindung eines Vertragsstaats an die Anerkennungsentscheidung eines anderen vor [...]. Eine solche Bindungswirkung ergibt sich auch nicht aus dem Unionsrecht. Die Bundesrepublik Deutschland hat aber von der nach Völker- und Unionsrecht fortbestehenden Möglichkeit Gebrauch gemacht, durch eine nationale Regelung den Anerkennungsentscheidungen anderer Staaten in begrenztem Umfang Rechtswirkungen auch im eigenen Land beizumessen [...]. In Deutschland genießen im Ausland anerkannte Flüchtlinge schon seit Inkrafttreten des Ausländergesetzes von 1990 (dort § 51 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2) den gleichen Abschiebungsschutz wie die im Inland anerkannten, ohne dass ein erneutes Anerkennungsverfahren durchgeführt wird. Durch § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG (n.F.) ordnet das nationale Recht eine auf den Abschiebungsschutz begrenzte Bindungswirkung der ausländischen Flüchtlingsanerkennung an [...]. Das Bundesverwaltungsgericht hat zu § 60 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 AufenthG im vorgenannten Urteil aus dem Jahr 2014 weiter ausgeführt, dass aus den Normen folge, dass kein Anspruch auf eine neuerliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder auf Feststellung subsidiären Schutzes oder eine hieran anknüpfende Erteilung eines Aufenthaltstitels in Deutschland bestehe. Vielmehr sei das Bundesamt bei Vorliegen einer ausländischen Anerkennungsentscheidung zur Feststellung von subsidiärem Schutz oder der (erneuten) Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Deutschland weder verpflichtet noch berechtigt. Ein gleichwohl gestellter Antrag sei unzulässig. Die Vorschrift sei jedenfalls dann mit Art. 33 Abs. 2 lit. a der Richtlinie 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie) vereinbar, wenn die Zuerkennung internationalen Schutzes durch einen anderen Mitgliedstaat erfolgt sei. Wie bereits unter I. ausgeführt, ist dieser Grundsatz aber jedenfalls für Fälle einzuschränken, in denen ein Mitgliedsstaat dem Ausländer internationalen Schutz zuerkannt hat und der Ausländer bei einer Rückkehr in den Mitgliedsstaat einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nach Art. 4 GRCh zu erfahren - wie hier. [...]

§ 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG ist auch nicht im Wege der teleologischen Reduktion unangewendet zu lassen, weil die Bundesrepublik - entgegen der Vorschrift des § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG bzw. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG - hier zur inhaltlichen Prüfung des Asylantrags des Klägers aus unionsrechtlichen Gründen verpflichtet ist.

Zu den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung gehört auch die teleologische Reduktion. Sie ist dann vorzunehmen, wenn die auszulegende Vorschrift auf einen Teil der vom Wortlaut erfassten Fälle nicht angewandt werden soll, weil Sinn und Zweck der Norm, ihre Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen gegen eine uneingeschränkte Anwendung sprechen […].

Nach der Auffassung des Berichterstatters liegen diese Voraussetzungen nicht vor.

In der erstinstanzlichen Rechtsprechung wird die Annahme eines den Gesetzeszweck überschießenden Regelungsgehalts der Norm in der vorliegenden Konstellation überwiegend damit begründet [...], dass § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG auf der Prämisse beruhe, dass der andere Mitgliedstaat, welcher den internationalen Schutz zuerkannt hat, weiterhin oder erneut der für den Ausländer verantwortliche Mitgliedstaat sei und diesem in Ausübung seiner Verantwortung Schutz gewähre. Von dieser Prämisse sei nicht auszugehen, wenn die Behandlung international Schutzberechtigter in dem anderen Mitgliedstaat ausnahmsweise nicht in Einklang mit den Anforderungen der Grundrechte-Charta stehe. Mit der insofern notwendigen Durchbrechung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (bzw. § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG) sei es nicht vereinbar, die Bundesrepublik zur eigenständigen materiellen Prüfung zu verpflichten, gleichzeitig aber an die Zuerkennung im Drittstaat zu binden.

Diese Auffassung übersieht aus Sicht des Berichterstatters, dass die Anwendungsbereiche von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG bzw. Art. 33 Abs. 2 lit. a) der Asylverfahrensrichtlinie und § 60 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG von vornherein nicht identisch sind. Letztere Vorschrift erfasst nicht lediglich - wie § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG - die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, sondern auch die Anerkennung als Flüchtling durch andere Signatarstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention. Es trifft daher nicht zu, dass die Situation der erneuten inhaltlichen Prüfung eines Asylgesuchs trotz ausländischer Anerkennung erstmals durch die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 33 Abs. 2 lit. a) der Asylverfahrensrichtlinie aufgeworfen worden ist. Vielmehr besteht spätestens seit der jetzigen Fassung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, der für eine Unzulässigkeitsentscheidung eine Zuerkennung des internationalen Schutzes in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union fordert und damit andere Signatarstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention nicht erfasst, die Situation, dass trotz der ausländischen (außerhalb der EU) Anerkennung als Flüchtling eine inhaltliche Prüfung des Asylantrags durch das Bundesamt zu erfolgen hat, gleichwohl aber der Wortlaut des § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG eine Abschiebung in den Herkunftsstaat ausschließt. Ein untrennbarer Zusammenhang zwischen den Vorschriften besteht daher nicht [...]. Hinzu kommt, dass die in § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG getroffene Regelung wesentlich älter ist als § 29 AsylG.

Die Anwendung des § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG setzt auch nicht ungeschrieben voraus, dass eine Abschiebung in den anerkennenden Staat möglich ist. Bereits bei Einführung der Vorschrift in § 51 Abs. 2 des Ausländergesetzes 1990 [...] konnte vielmehr die Situation entstehen, dass wegen einer ausländischen Anerkennung als Flüchtling eine Abschiebung in den Herkunftsstaat verboten, eine Abschiebung in den anerkennenden Staat aber aus anderen Gründen ausgeschlossen war, z.B. weil bezüglich des anerkennenden Staates ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 des Ausländergesetzes 1990 bestand. Insofern fehlt es in der Gesetzesbegründung, die die Vorschrift im Wesentlichen mit der Entlastung der Ausländerbehörden und dem Vorrang der Anwendung eines spezifischen Verfahrensrechts begründet [...], und auch im Wortlaut und der Systematik der Norm an Anhaltspunkten dafür, dass dem Gesetzgeber bei Einführung der Bindung an die ausländische Anerkennung unbekannt gewesen ist, dass hierdurch unter Umständen eine Verfestigung des Aufenthalts in Deutschland erfolgen könnte. Insofern unterscheidet sich die Situation, die durch die Rechtsprechung des EuGH zu den Voraussetzungen einer Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 33 Abs. 2 lit. a) der Asylverfahrensrichtline aufgeworfen wird, nicht wesentlich von der bei Erlass des Ausländergesetzes vorliegenden Rechtslage. Zwar kann das Bundesamt nach der Asylverfahrensrichtlinie nun trotz ausländischer Anerkennung (in einem anderen Mitgliedsstaat) verpflichtet sein, den Asylantrag inhaltlich zu prüfen. Diese Prüfung dient aber nicht lediglich der Feststellung von - wegen der Regelung in § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG eigentlich entbehrlichem - Abschiebungsschutz in den Herkunftsstaat gegenüber der Ausländerbehörde, sondern auch der Gewährleistung des in Kapitel VIII der Richtlinie 2011/95/EU (i.F. Qualifikationsrichtlinie) genannten Inhalts des internationalen Schutzes (z.B. dem Recht auf einen Aufenthaltstitel); diese Rechte gelten nicht, wenn lediglich nationaler Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG gewährt wird.

Auch die Argumentation des angefochtenen Bescheids, das Erfordernis einer teleologischen Reduktion der Norm sei unionsrechtlich erforderlich, um eine Prüfung des Asylantrags zu ermöglichen, überzeugt nicht [...]. Denn das Verbot der Abschiebung nach § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG steht der Prüfung des Asylgesuchs nicht entgegen, sondern lediglich dem Erlass einer Abschiebungsandrohung als Rückkehrentscheidung. Die Asylverfahrensrichtlinie regelt aber nicht, dass nach der Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz auch zwingend eine Rückkehrentscheidung zu ergehen hat. Im Gegenteil hat der EuGH [...] ausgeführt, dass es den Mitgliedsstaaten freistehe, die Entscheidung eines anderen Mitgliedsstaats "automatisch" - d.h. ohne Prüfung - anzuerkennen. Es ist nicht ersichtlich, warum es Mitgliedsstaaten dann verwehrt sein sollte, die Gewährung des in Kapitel VIII der Qualifikationsrichtlinie genannten Inhalts des internationalen Schutzes von einer inhaltlichen Prüfung abhängig zu machen, gleichwohl aber einen nationalrechtlich weitergehenden Abschiebungsschutz zu gewähren.

Schließlich erschöpft sich der Regelungsgehalt des § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nicht darin, den Zugang zum Asylverfahren zu versperren (§ 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Ursprünglicher Sinn und Zweck des Satzes 3 war es, die Ausländerbehörde von der Prüfung politischer Verfolgung zu entlasten, indem diese Beurteilung ausschließlich dem Bundesamt übertragen wurde; im Fall des Satzes 2 bedurfte es einer solchen Entlastung nicht, weil der formelle Status der Anerkennung in einem anderen Signatarstaat auch von der Ausländerbehörde geprüft werden konnte [...]. Daraus lässt sich aus Sicht des Berichterstatters nicht der Umkehrschluss ziehen, dass in den Fällen, in denen trotz ausländischer Anerkennung ein Asylverfahren durchgeführt wird, dem Satz 2 AufenthG keine eigenständige Regelungswirkung zukommen soll oder darf. Die Gegenauffassung würde zu dem auch teleologisch schwer zu begründenden Ergebnis führen [...], dass ein Ausländer mit ausländischer Flüchtlingsanerkennung zwar einen Anspruch auf Duldung gegenüber der Ausländerbehörde hätte, er diesen Anspruch aber verlieren würde, wenn er einen Asylantrag stellt. Aus Sicht des Berichterstatters kann allein die mit § 60 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 AufenthG ursprünglich beabsichtigte Verfahrensvereinfachung ein solches Ergebnis nicht tragen, zumal ohnehin zweifelhaft ist, ob § 60 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. Satz 2 AufenthG seit Umsetzung der Asylverfahrensrichtlinie durch § 29 AsylG das Bundesamt noch zu Unzulässigkeitsentscheidungen ermächtigt. Die Gegenauffassung lässt zudem außer Acht, dass die Bundesrepublik mit der Bindung an die ausländische Anerkennung auch der Empfehlung des Exekutivkomitees des UNHCR gefolgt ist [...] und der Bindung an die ausländische Anerkennung daher über die Verfahrensvereinfachung hinaus eine eigenständige Bedeutung beizumessen sein dürfte.

Vielmehr ist bei der Auslegung der Norm auch zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber die Bindung an die ausländische Flüchtlingsanerkennung trotz der zwischenzeitlich erfolgten unionsrechtlichen Überformung des Asylverfahrensrechts, der wohl abschließenden Regelung der Unzulässigkeitsgründe in § 29 AsylG, der zahlreichen Änderungen im Aufenthaltsgesetz und der dem Gesetzgeber bekannten Problematik der Binnenwanderung international Schutzberechtigter [...] weitestgehend unverändert übernommen hat. [...]