BlueSky

VGH Hessen

Merkliste
Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 12.08.2025 - 2 A 1129/25.A - asyl.net: M33682
https://www.asyl.net/rsdb/m33682
Leitsatz:

Keine drohende unmenschliche Behandlung für anerkannte vulnerable Frau in Italien:

Eine Frau, die infolge einer Genitalverstümmelung an  Beeinträchtigungen der psychischen und körperlichen Gesundheit leidet, wird auch in Italien als besonders schutzbedürftig behandelt und erhält Hilfe bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. Italien stimmt in solchen Fällen einer Übernahme erst zu, wenn eine geeignete Unterkunft zur Verfügung steht. Ihr droht daher keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Italien, Frauen, internationaler Schutz in EU-Staat, besonders schutzbedürftig, Posttraumatische Belastungsstörung, Genitalverstümmelung, psychische Erkrankung,
Normen: EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AufenthG § 60 Abs. 5, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
Auszüge:

[...]

26 aa) Mit der allgemeinen Situation für anerkannte international Schutzberechtigte in Italien hat sich das Bundesverwaltungsgericht in seinen Urteilen vom 21. November 2024 [...] hinsichtlich nicht vulnerabler Personen und vom 19. Dezember 2024 [...] hinsichtlich vulnerabler Personen befasst.

27 (1.) Nach dem Urteil vom 21. November 2024 (– 1 C 24.23 –, juris) ist davon auszugehen, dass aus Italien ausgereiste Schutzberechtigte, deren Aufenthaltstitel zwischenzeitlich abgelaufen ist, im Falle ihrer Rückkehr nach Italien dort auf Antrag erneut ein Aufenthaltsrecht erhalten [...]. Die möglicherweise beträchtliche Wartezeit stellt Schutzberechtigte nicht vor generell unüberwindbare Probleme bei der Existenzsicherung, zumal die Betroffenen regelmäßig auch ihren internationalen Schutzstatus, der sie zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit gemäß Art. 26 Abs. 1 RL 2011/95/EU berechtigt, nachweisen können. Die Vorlage der Bestätigung über die Beantragung der Aufenthaltserlaubnis genügt auch für die Registrierung beim Staatlichen Gesundheitsdienst SSN [...]. Zudem besteht die Möglichkeit Schutzberechtigter, auch Obdachloser, sich bei der Wohnsitzgemeinde in Italien registrieren zu lassen [...]. Die Wohnraumsituation ist angespannt. Allerdings ist aktuell nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass Schutzberechtigte ohne besondere Vulnerabilität im Falle einer Rückkehr nach Italien dort nicht zumindest eine (ggf. temporäre, wechselnde) Unterkunft oder Notschlafstelle mit einem Minimum an erreichbaren sanitären Einrichtungen bei einer kirchlichen oder karitativen Einrichtung in einer Gemeindeunterkunft, einem Wohncontainer oder einer ähnlichen behelfsmäßigen Unterkunft oder bei Privatleuten finden werden [...]. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nichtvulnerablen Schutzberechtigten ein höheres Maß an Durchsetzungsvermögen und Eigen initiative abzuverlangen ist als vulnerablen Personen und dass bei diesen auch keine besonderen Bedürfnisse bei der Unterbringung zu berücksichtigen sind [...]. Zur Gewährleistung der weiteren Grundbedürfnisse, namentlich des Verpflegungsbedarfs, können nach Italien zurückkehrende nicht vulnerable Schutzberechtigte mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zwar nicht auf staatliche Sozialleistungen zurückgreifen, allerdings existieren auch insoweit Angebote von Hilfsorganisationen und karitativen Einrichtungen, die zur Abwendung einer extremen materiellen Notlage zumindest beitragen können [...]. Davon unabhängig können Schutzberechtigte in Italien eine Beschäftigung aufnehmen und mit dem Erwerbseinkommen - ggf. in Verbindung mit Unterstützungsleistungen nichtstaatlicher Hilfsorganisationen - ihr Existenzminimum im Sinne der elementarsten Bedürfnisse sicherstellen [...]. Dabei ist ihnen auch eine Tätigkeit in der sog. "Schatten- oder Nischenwirtschaft" zumutbar […].

34 dd) Die Lage für anerkannte international Schutzberechtigte in Italien hat sich seit den angeführten Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts nicht maßgeblich verändert […].

36 ee) Die Klägerin ist als eine auf sich allein gestellte Frau mit einer Reihe von gesundheitlichen Problemen der Gruppe der vulnerable Personen zuzurechnen.

37 Vulnerabilität ist anzunehmen, wenn eine Person gegenüber erwachsenen und gesunden Personen einen deutlich anderen bzw. höheren Versorgungsbedarf aufweist und deshalb mit widrigen Umständen erheblich weniger umgehen kann. In diesen Fällen besteht die Gefahr, wesentlich schneller unabhängig vom eigenen Willen in eine Situation extremer Not zu geraten [...].

38 Die Klägerin hat nach ihrem Vorbringen einen höheren hygienischen und medizinischen Versorgungsbedarf.

39 Sie leidet zum einen an rezidivierenden Harnwegsinfekten mit Brennen und Schmerzen beim Wasserlassen aufgrund der bei ihr in Somalia in der Kindheit durchgeführten Genitalverstümmelung mit subtotalem Verschluss des Scheideneingangs (FGM Typ III). Ferner liegt eine starke Dysmenorrhoe mit lokaler Schmerzhaftigkeit vor. [...]

40 Bei der Klägerin wurde zum anderen im September 2020 eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Zur Behandlung wurde eine ambulante Psychotherapie sowie die Verordnung von Medikamenten empfohlen [...]. Das aktuelle Vorliegen einer Depression wurde verneint. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 3. Juni 2024 gab die Klägerin an, sie können wieder ohne Medikamente leben und es fänden auch keine Gespräche mehr statt. Sie habe zwar immer wieder Rückblendungen und Erinnerungen. Sie habe aber gelernt, damit umzugehen.

41 Der Senat geht davon aus, dass die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr nach Italien von den dortigen Behörden tatsächlich auch als vulnerable Personen behandelt werden wird. Denn Italien betrachtet gemäß Art. 17 Gesetzesdekret 142/2015 unter anderem generell Frauen als vulnerabel […].

53 gg) Die individuelle Situation der Klägerin weist gegenüber der Personengruppe der vulnerablen und auf sich allein gestellten Frauen mit einem Status als anerkannte international Schutzberechtigte keine besonderen individuellen Umstände auf, die in ihrem konkreten Fall dazu führen, dass abweichend von den allgemeinen Feststellungen eine Verletzung von Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK hinreichend wahrscheinlich erscheint.

54 Es ist davon auszugehen, dass die Klägerin als vulnerable Person im Falle ihrer Rücküberstellung nach Italien einen Platz in einer SAI-Einrichtung erhalten und dort die nötige Hilfestellung bekommen wird, um im Anschluss daran eine Unterkunft und eine Arbeit zu finden, mit der sie ihren notwendigen Lebensunterhalt sichern kann. Die Klägerin hat nach ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht eine Ausbildung zur Altenpflegerin begonnen, deren Abschluss für Oktober 2024 vorgesehen war. Damit kann sie bei ihrer Suche nach einer Arbeitsstelle in Italien eine Qualifikation vorweisen, die eine Anstellung in einem sozialen Arbeitsbereich begünstigt. [...]

56 Im Übrigen erscheint es dem Senat fraglich, ob die Klägerin sich zur Abwendung einer Überstellung nach Italien auf ihre gynäkologischen und urologischen Beschwerden berufen kann. Denn sie hat es selbst zu vertreten, dass während ihres Aufenthalts in Deutschland insoweit keine weitgehende Genesung eingetreten ist. Sie hat in den zurückliegenden fünfeinhalb Jahren entgegen der ärztlichen Empfehlung im Befundbericht des Luisenhospitals Aachen vom 6. September 2019 von einer Operation abgesehen, durch die mit der Genitalbeschneidung hervorgerufenen Beeinträchtigungen hätten zumindest deutlich reduziert werden können. [...]

Da Klägerin hat inzwischen in Deutschland eine Ausbildung als Altenpflegerin absolviert. Mit dieser Qualifikation hat sich die Möglichkeit der Klägerin, eine existenzsichernde Beschäftigung zu finden, ganz erheblich verbessert. [...]

69 Mangels einer entsprechenden konkreten Darlegung braucht der Senat nicht dem Beweisantrag der Klägerin zu entsprechen, zum Beweis der behaupteten massiven Verschlechterung ihres psychischen Zustands im Falle ihrer Überstellung nach Italien die beantragten weiteren Beweismittel, nämlich Einholung von Sachverständigengutachten und Stellungnahmen [...]. Dieser Antrag stellt sich mangels greifbarer Anknüpfungstatsachen zudem als unzulässiger Ausforschungsbeweisantrag dar […].

76 Durchgreifende Zweifel an der grundsätzlichen Bereitschaft der italienischen Behörden, sich an die mit dem internationalen Schutzstatus verbundenen grundrechtlichen Verpflichtungen zuhalten, ergeben sich nicht aus dem Rundschreiben der italienischen Dublin-Einheit vom 5. und 7.Dezember 2022. Danach sind Überstellungen nach der Dublin III-Verordnung mit eng begrenzten Ausnahmen vorübergehend ausgesetzt worden, weil es an Aufnahmekapazitäten fehlte. Konkrete Rückschlüsse auf das Verhalten Italiens in Bezug auf anerkannte Schutzberechtigte lassen diese Rundschreiben nicht zu [...]. Daher kann entgegen der Darlegung der Klägerin nicht als Indiz für eine auf unabsehbare Zeit bestehende tatsächliche Unmöglichkeit ihrer Überstellung der Umstand herangezogen werden, dass im Jahr 2024 im Rahmen des Dublin-Systems nur drei Überstellungen nach Italien durchgeführt wurden. [...]