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VG Chemnitz

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Zitieren als:
VG Chemnitz, Beschluss vom 08.10.2025 - 8 L 288/25A - asyl.net: M33690
https://www.asyl.net/rsdb/m33690
Leitsatz:

Familiäre Verfolgung aus Gründen der Ehre nicht eindeutig aussichtslos: 

Der Asylfolgeantrag einer alleinstehenden und alleinerziehenden Frau, die bei Rückkehr nach Armenien einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG befürchtet, da ihre Familie sie wegen ihres Kindes mit einem Türken aus Gründen der Ehre mit dem Tode bedroht hat, ist nicht eindeutig aussichtlos. Allein der Zeitablauf ist nicht geeignet, eine Gefahr durch familiäre Gewalt bei Rückkehr im Sinne einer Offensichtlichkeitsentscheidung eindeutig auszuschließen. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Armenien, Frauen, nichteheliches Kind, Bedrohung, familiäre Verfolger, nichtstaatliche Verfolgung,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 30 Abs. 1 Nr. 8, AsylG § 71
Auszüge:

[...]

Gemessen an diesen Grundsätzen fällt die vom Gericht anzustellende Interessenabwägung vorliegend zu Gunsten der Antragstellerin aus. Nach der Sach- und Rechtslage bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung bzw. der ihr zugrundeliegenden Offensichtlichkeitsentscheidung. [...]

Nach Maßgabe dessen ist das Vorbringen der Antragstellerin – jedenfalls im Hinblick auf den subsidiären Schutz nach § 4 AsylG – nicht eindeutig aussichtslos. Insoweit fehlt es bereits an einer den erhöhten verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechenden Begründung des ablehnenden Bescheides, der eine hinreichende Richtigkeitsgewähr für den mit der Offensichtlichkeitsentscheidung verbundenen Sofortvollzug bietet. Die Antragstellerin befürchtet bei Rückkehr nach Armenien einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, da sie von Seiten des Cousins bzw. Vaters wegen ihres Kindes mit einem Türken aus Gründen der Ehre mit dem Tode bedroht werde. Die Gründe des ablehnenden Bescheides stellen hauptsächlich darauf ab, dass eine Schädigung der Antragstellerin durch die eigene Familie nicht beachtlich wahrscheinlich sei, weil die Familie nach den inzwischen vergangenen Jahren und dem Kontaktabbruch kein Interesse mehr habe, der Antragstellerin zu schaden und es realitätsfern sei, dass die Antragstellerin von der Familie in ganz Armenien gefunden werden könne. Diese Argumentation ist – wie die Antragstellerin im Schriftsatz vom 11. Juni 2025 unter Ziffer II. 3. zu Recht ausführt – fragwürdig und jedenfalls nicht geeignet, eine Gefahr durch familiäre Gewalt bei Rückkehr im Sinne einer Offensichtlichkeitsentscheidung eindeutig aus-zuschließen. Auch der Verweis auf die seit 2017 bestehende Strafbarkeit häuslicher Gewalt in Armenien und einen internen Schutz durch Polizei und Justiz genügt hierfür nicht, da er eine nähere Auseinandersetzung mit den Erkenntnismitteln vermissen lässt. Armenien ist ein Land in dem die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im öffentlichen und im privaten Sektor sowie häusliche Gewalt bzw. hinreichende Schutzmechanismen für hiervon betroffenen Frauen durchaus ein gesellschaftliches Problem sind [...]. Eine eindeutige Aussichtslosigkeit ist daher weder im Hinblick auf die vorliegenden Erkenntnismittel noch aufgrund der Bewertung des individuellen Vorbringens der Antragstellerin gegeben.

Auch der Verweis des Bundesamtes auf eine interne Schutzmöglichkeit nach § 3e AsylG, führt nicht zu einer eindeutigen Aussichtslosigkeit des Asylbegehrens, denn für die Bejahung einer Fluchtalternative außerhalb der Herkunftsregion ist neben einem sicheren Ort festzustellen, dass das wirtschaftliche Existenzminimum dort gewährleistet ist. Dies bedarf einer Bewertung im Einzelfall und muss im Hinblick auf die Situation der Antragstellerin als alleinerziehende Mutter und den geltend gemachten Erkrankungen des Kindes dem Hauptsacheverfahren vor-behalten bleiben. [...]