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OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 17.10.2025 - 2 LA 294/23 - asyl.net: M33718
https://www.asyl.net/rsdb/m33718
Leitsatz:

Voraufenthaltszeiten müssen von aufenthaltsregelndem Verwaltungsakt gedeckt sein: 

"1. Zeiten, in denen die Behörden aufgrund von Täuschungshandlungen eines drittstaatsangehörigen Ausländers irrig annehmen, dieser sei Unionsbürger und freizügigkeitsberechtigt, können im Rahmen von § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG nicht berücksichtigt werden, wenn in diesem Zeitraum einer Abschiebung ansonsten weder rechtlich noch tatsächlich etwas entgegenstand.

2. Zu den Voraussetzungen für die Herleitung eines Aufenthaltsrechts aus dem Schutz des Privatlebens nach Art. 8 EMRK

3. Kinder im Alter von bis zu 10 Jahren haben nur ausnahmsweise ein von der Beziehung zu ihren Eltern und Geschwistern unabhängiges Privatleben von solchem Gewicht, dass es einer Aufenthaltsbeendigung entgegen steht."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Bleiberecht, Täuschung, Identitätstäuschung, Aufenthaltsdauer, Rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer, Schutz von Ehe und Familie, faktischer Inländer,
Normen: AufenthG § 25b, AufenthG § 25 Abs. 5, GG Art. 6, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

b) Gegen die Auffassung des Verwaltungsgerichts, bei der Berechnung der Aufenthaltszeit nach § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG könne der Zeitraum vom 17.10.2016 (Anmeldung des Wohnsitzes in Bremen mit der gefälschten griechischen ID-Karte) bis zum 10.05.2021 (erstmalige Erteilung einer Duldung) nicht berücksichtigt werden, da der Kläger damals weder eine Duldung noch eine Aufenthaltsgestattung oder Aufenthaltserlaubnis besaß, wendet der Kläger im Zulassungsverfahren sinngemäß ein, dass ein Zeitraum, in dem die Behörden irrig annehmen, einem Ausländer stehe kraft Gesetzes ein Aufenthaltsrecht zu, das ihm tatsächlich nicht zusteht, mit einem geduldeten Aufenthalt gleichzusetzen sei. Damit stellt er die Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts nicht schlüssig in Frage.

Gemäß § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG regelmäßig voraus, dass sich der Ausländer für einen bestimmten Zeitraum "ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten hat".

Dass der Kläger zwischen dem 17.10.2016 und dem 10.05.2021 weder eine Aufenthaltsgestattung (§ 55 AsylG) noch eine Aufenthaltserlaubnis (§ 7 AufenthG) besaß, bestreitet er im Zulassungsverfahren nicht.

Sein Aufenthalt war aber auch mindestens bis zum 06.05.2021, als er seine wahre Staatsangehörigkeit der Ausländerbehörde offenbarte, nicht "geduldet". Geduldet im Sinne des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG ist der Aufenthalt nach allgemeiner Ansicht allerdings nicht nur, wenn eine Duldung erteilt wurde, sondern bereits dann, wenn die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für eine Duldung nach § 60a AufenthG vorlagen, insbesondere weil ein Abschiebungshindernis bestand oder der Aufenthalt durch die zuständige Behörde faktisch gestattet wurde [...]. Im hier fraglichen Zeitraum wurde der Aufenthalt des Klägers in Deutschland von der zuständigen Behörde aber nicht "faktisch" gestattet, sondern die Behörde nahm irrig an, der Kläger besitze ein kraft Gesetzes bestehendes Aufenthaltsrecht als Unionsbürger. Der Kläger trägt im Zulassungsverfahren auch nicht vor, dass die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für eine Duldung in diesem Zeitraum vorlagen. Er nennt keinen konkreten Grund, aus dem die Behörden ihn in diesem Zeitraum nicht nach Albanien hätten abschieben können, wenn sie nicht irrig davon ausgegangen wären, er sei Unionsbürger und besitze deshalb ein Aufenthaltsrecht kraft Gesetzes.

Die Auffassung des Klägers, im Rahmen von § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG sei ein Zeitraum, in dem die Ausländerbehörde irrig annahm, dem Ausländer stehe kraft Gesetzes ein Aufenthaltsrecht zu, mit einem geduldeten Aufenthalt gleichzusetzen, überzeugt nicht. Er beruft sich insoweit allein darauf, dass sowohl ein geduldeter Aufenthalt als auch sein Aufenthalt im fraglichen Zeitraum ein rechtswidriger Aufenthalt seien. Dabei verkennt er aber einen entscheidenden Unterschied: § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG zählt Situationen auf, in denen der Aufenthalt entweder rechtmäßig ist (Aufenthaltsgestattung; Aufenthaltserlaubnis) oder die Ausländerbehörde um die Rechtswidrigkeit des Aufenthalts weiß, ihn aber nicht beenden kann oder will ("geduldet"). Der Gesetzgeber will alle Voraufenthaltszeiten angerechnet wissen, die von einem aufenthaltsregelnden Verwaltungsakt gedeckt waren oder in denen eine Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unzulässig war [...]. Die aufenthaltsrechtliche Situation des Klägers im Zeitraum Oktober 2016 bis Mai 2021 fällt darunter nicht. Sie war dadurch gekennzeichnet, dass kein aufenthaltsregelnder Verwaltungsakt vorlag, die Behörden aufgrund der wahrheitswidrigen Behauptung des Klägers, Unionsbürger zu sein, aber irrig von einem gesetzlichen Aufenthaltsrecht ausgingen, so dass sich die Frage, ob sie den Aufenthalt beenden können und wollen, für sie nicht stellte, obwohl der Aufenthaltsbeendigung soweit ersichtlich weder rechtlich oder faktisch etwas entgegengestanden hätte. [...]

cc) Der Kläger legt im Zulassungsverfahren nicht schlüssig dar, dass sich für ihn aus Art. 6 Abs. 1, 2 GG bzw. Art. 8 EMRK (Schutzbereich Familienleben) ein Ausreisehindernis im Sinne des § 25 Abs. 5 AufenthG ergibt, weil seinem Sohn wegen einer Verwurzelung in Deutschland und Entwurzelung von Albanien nach Art. 8 EMRK (Schutzbereich Privatleben) eine Ausreise nicht zugemutet werden kann bzw. im Rechtssinne unmöglich ist.

Zur Herleitung eines Aufenthaltsrechts aus Art. 8 EMRK (Schutzbereich Privatleben) ist ein durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen charakterisiertes Privatleben erforderlich, das nur noch im Bundesgebiet geführt werden kann. Hierfür kommt es einerseits auf die Integration des Ausländers in Deutschland, andererseits auf die Möglichkeit zur (Re-)Integration im Staat der Staatsangehörigkeit an. Die individuellen Lebensverhältnisse des Ausländers sind hinsichtlich der Verwurzelung in Deutschland und der Entwurzelung bezüglich des Staats der Staatsangehörigkeit konkret zu würdigen [...]. Von Bedeutung sind insbesondere die Aufenthaltsdauer, der bisherige Aufenthaltsstatus, eventuelle Straftaten, das Alter bei der Ein-reise und im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, die Beherrschung der deutschen Sprache, eine in Deutschland absolvierte Schul- oder Berufsausbildung, die Erwerbsbiographie, die Lebensunterhaltssicherung, soziales Engagement und zwischenmenschliche Beziehungen in Deutschland sowie der Grad der sprachlichen und kulturellen Entfremdung vom Heimatland [...]. Die Abwägung ist innerhalb einer Familie für jedes Familienmitglied – also hier für den Sohn des Klägers – einzeln vorzunehmen. Kinder im Grundschulalter haben allerdings allenfalls ausnahmsweise in relevantes eigenständiges Privatleben, das von der Beziehung zu ihren Eltern unabhängig ist [...].

Für den Sohn des Klägers spricht, dass er in einem sehr jungen Alter (3 Jahre) nach Deutschland eingereist ist, im Verhältnis zu seinem Lebensalter schon relativ lange in Deutschland lebt (etwas mehr als sechs Jahre), hier die Grundschule besuchte, sich momentan seit etwa 2 ½ Monaten in der 5. Klasse auf einer weiterführenden Schule befinden dürfte und dass sein Lebensunterhalt durch die Erwerbstätigkeit des Klägers gesichert ist.

Gegen den Sohn des Klägers spricht allerdings, dass er zu keinem Zeitpunkt in Deutschland eine Aufenthaltserlaubnis oder ein kraft Gesetzes bestehendes Aufenthaltsrecht besaß. Namentlich war der Sohn des Klägers nie freizügigkeitsberechtigt, denn sein Vater – der Kläger – ist unstreitig nie Unionsbürger gewesen. Außer dem Schulbesuch, den unter Kindern üblichen Freundschaften und dem regelmäßigen Benutzen einer Bibliothek sind keine weiteren sozialen Bindungen des Sohnes in Deutschland konkret vorgetragen oder gar belegt. Der Schulbesuch verläuft ausweislich der Schulbescheinigung vom 27.01.2025 zwar gut, es wird aber auch nichts Außergewöhnliches berichtet. Dasselbe gilt für die dort geschilderte Zusammenarbeit von Eltern und Schule. Ausweislich der Schulbescheinigung vom 27.01.2025 beherrscht der Sohn die deutsche Sprache zwar gut, aber nicht perfekt. [...] Daraus und aus dem Umstand, dass die Deutschkenntnisse seiner Eltern beschränkt sind [...], schließt der Senat, dass der Sohn des Klägers die albanische Sprache zumindest mündlich beherrscht, weil sie die im Elternhaus vorwiegend gesprochene Sprache ist. Dies widerlegt die Behauptung des Zulassungsvorbringens, mit Albanien verbinde den Sohn ausschließlich das formale Band der Staatsangehörigkeit. Gegen die Annahme, der Sohn des Klägers führe ein Privatleben, das zumutbar nur in Deutschland geführt werden kann, spricht zudem sein Alter im Zeitpunkt der Entscheidung über den Berufungszulassungsantrag. Der Sohn ist erst 10 Jahre alt und befindet sich erst seit circa 2 ½ Monaten in der 5. Klasse. In diesem Alter sind in aller Regel die bei Weitem wichtigsten Bezugspersonen eines Kinds seine Eltern und Geschwister. Dass es sich vorliegend anders verhält, ist nicht ersichtlich. Die Eltern und die Schwester sind aber ebenfalls ausreisepflichtig und albanische Staatsangehörige, so dass anzunehmen ist, dass sie mit dem Sohn des Klägers dorthin zurückkehren. Die Eltern können ihrem Sohn bei der Eingewöhnung behilflich sein, denn sie kennen sich in Albanien gut aus, weil sie dort geboren und aufgewachsen sind und die bei weitem überwiegende Zeit ihres bisherigen Lebens dort gelebt haben.

Zusammenfassend betrachtet ist der Sohn des Klägers in keiner anderen Lage als jedes zehnjährige Kind, das sich in einer neuen Schule einleben und neue Freunde finden muss, weil es mit seinen Eltern und Geschwistern umzieht. Zwar liegt im vorliegenden Fall der Umzugsort im Ausland, aber es handelt sich um ein europäisches Land, dessen Sprache der Sohn spricht und in dem seine Eltern sich gut auskennen, so dass sie ihm bei der Eingewöhnung helfen können. Bei dieser Sachlage steht Art. 8 EMRK einer Ausreise oder Abschiebung des Sohnes nicht entgegen. Somit kann der Kläger auch nicht aus einem rechtlichen Ausreise- oder Abschiebungshindernis in der Person seines Sohnes vermittelt über Art. 8 EMRK (Familienleben) oder Art. 6 GG ein eigenes rechtliches Ausreisehindernis und einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 EMRK ableiten. [...]