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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 06.10.2025 - 2 BvR 755/25 - asyl.net: M33734
https://www.asyl.net/rsdb/m33734
Leitsatz:

Gerichtliche Kontrolle der Einstufung als sicheres Herkunftsland: 

1. Gerichte müssen auch ohne entsprechende Rüge berücksichtigen, ob die in Anhang I der Richtlinie 2013/32/EU genannten materiellen Voraussetzungen für die Einstufung eines Staates als sicheres Herkunftsland verkannt worden sind (hier betreffend Ghana). 

2. Der Grundsatz der Subsidiarität verlangt, dass alle zumutbaren Rechtsschutzmöglichkeiten ausgeschöpft worden sind. Ergibt sich aufgrund eines Urteils des EuGH eine geänderte Sach- und Rechtslage, die sachlich einen Abänderungsantrag gemäß § 80 Abs. 7 VwGO rechtfertigt, ist der Grundsatz der Subsidiarität nicht gewahrt, wenn ein Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO nicht gestellt wurde. 

3.  Die Bewertung der allgemeinen Situation von LGBTQI-Personen in Ghana ist nach gegenwärtiger Rechtslage auch unabhängig davon vorzunehmen, ob der Vortrag des Beschwerdeführers zu seiner sexuellen Orientierung glaubhaft erscheint.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: sichere Herkunftsstaaten, Ghana, Verfassungsbeschwerde, Grundsatz der Subsidiarität, Subsidiarität, sexuelle Orientierung, homosexuell, bisexuell,
Normen: AsylG § 29a Abs. 1, 2013/32/EU Art. 37, 2013/32/EU Anhang I
Auszüge:

[...]

11 1. Es spricht Überwiegendes dafür, dass der angegriffene Beschluss des Verwaltungsgerichts den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht gerecht geworden ist. [...]

16 e) Stellt sich bei dieser Rechtsprüfung eine entscheidungserhebliche unionsrechtliche Frage, die im Hauptsacheverfahren voraussichtlich eine Vorlage des dann letztinstanzlich entscheidenden Gerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union erfordert, so gebietet Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, dies im Eilverfahren bei der Prüfung der Erfolgsaussichten zu berücksichtigen. Häufig wird dann jedenfalls die offensichtliche Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts – unabhängig von der eigenen, notwendig nur vorläufigen rechtlichen Einschätzung des entscheidenden Gerichts – nicht bejaht werden können. Diese Grundsätze gelten auch, wenn sich ein Beschwerdeführer auf eine bereits in einem anderen Verfahren erfolgte Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union beruft. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die Vorlagefrage auch in seinem eigenen Verfahren entscheidungserheblich und eine Vorlage des dann letztinstanzlich entscheidenden Gerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union im Hauptsacheverfahren – vorbehaltlich der Möglichkeit der Aussetzung im Hinblick auf die in dem bereits vorgelegten anderen Verfahren zu erwartende Klärung – erforderlich ist [...].

18 g) Im vorliegenden Fall ist bereits nicht ersichtlich, dass das Verwaltungsgericht die anzulegenden Prüfungsmaßstäbe korrekt erkannt hat. In der Folge ergeben sich auch erhebliche Zweifel an der Begründungstiefe der angegriffenen Entscheidung vom 12. Mai 2025.

19 aa) Im Rahmen seiner Prüfung, ob ernstliche Zweifel an dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge bestehen, hat das Verwaltungsgericht ausschließlich auf den Maßstab der Verfassungswidrigkeit der Einstufung Ghanas als sicherer Herkunftsstaat abgestellt, ohne sich in erkennbarer Weise mit unionsrechtlichen Vorgaben, wie sie sich insbesondere aus der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes ergeben, und der diesbezüglichen Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union auseinanderzusetzen. In der Folge ist es auch von einer grundsätzlichen Bindung an die Einstufung Ghanas als sicherer Herkunftsstaat ausgegangen, ohne auf die Frage einzugehen, ob eine solche Bindungswirkung auch im Anwendungsbereich der Richtlinie 2013/32/EU bestehen kann. Insofern hat sich das Verwaltungsgericht insbesondere nicht mit dem auch vom Beschwerdeführer bereits im fachgerichtlichen Verfahren und Bezug genommenen Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union vom 4. Oktober 2024 beschäftigt, in welchem dieser ausgeführt hat, dass ein möglicher Verstoß gegen die in der Richtlinie 2013/32/EU enthaltenen Anforderungen an die Einstufung als sicherer Herkunftsstaat einen Aspekt darstelle, den ein Gericht im Zuge der vorgeschriebenen umfassenden Ex-nunc-Prüfung zu berücksichtigen habe. Die Gerichte müssten auch ohne entsprechende Rüge berücksichtigen, ob die in Anhang I der Richtlinie genannten materiellen Voraussetzungen für eine solche Einstufung verkannt worden seien (EuGH, CV, 04.10.2024, C-406/22, EU:C:2024:841, Rn. 98).

20 bb) Darüber hinaus hat sich das Verwaltungsgericht auch nicht mit den unterschiedlichen Rechtsfolgen auseinandergesetzt, die sich aus der Unionsrechtswidrigkeit einer Norm auf der einen Seite, und deren Verfassungswidrigkeit auf der anderen ergeben.

21 (1) So ist eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG (nur) dann notwendig und möglich, wenn ein Gericht eine entscheidungserhebliche Norm (hier: Anlage II zum AsylG) für verfassungswidrig hält. Grund ist die alleinige Normverwerfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts, die der Wahrung der Autorität des Gesetzgebers dient und Rechtsunsicherheit sowie Rechtszersplitterung verhindern soll [...]. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass ein Gericht, das die Bestimmung eines Landes zum sicheren Herkunftsstaat für verfassungswidrig hält und dies im Einzelfall entscheidungserheblich ist, das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen hat [...].

22 (2) Geltendes Unionsrecht entfaltet demgegenüber nur einen Anwendungs-, aber keinen Geltungsvorrang vor nationalem Recht; ein Verstoß gegen Unionsrecht führt daher nicht ohne weiteres zur Nichtigkeit der nationalen Regelung [...]. Wenn ein Fachgericht entscheidet, dass ein Gesetz dem Unionsrecht widerspricht und deshalb aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts nicht angewandt werden darf, ist dieses Gesetz nicht mehr entscheidungserheblich im Sinne von Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG [...].

23 h) Diese Erwägungen verdeutlichen, dass die Frage der Verfassungswidrigkeit im Anwendungsbereich geltenden Unionsrechts nicht den alleinigen Maßstab für die Beurteilung darstellen kann, ob die Einstufung eines Landes als sicherer Herkunftsstaat im Einklang mit höherrangigem Recht steht und somit die vorgesehenen Rechtswirkungen entfalten kann. Vielmehr sind im Anwendungsbereich geltenden Unionsrechts neben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch unionsrechtliche Vorgaben und die Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union zu berücksichtigen. Wenn unter Beachtung der sich daraus ergebenden Maßstäbe von der Unionsrechtswidrigkeit der Einstufung auszugehen ist, muss die zugrundeliegende Norm jedenfalls im Rahmen der Prüfung, ob internationaler Schutz im unionsrechtlichen Sinne zu gewähren ist, unangewendet bleiben [...].

24 2. Die Verfassungsbeschwerde ist jedoch unzulässig, da der Beschwerdeführer nicht dargelegt hat, den Grundsatz der Subsidiarität gewahrt zu haben.

25 a) Der Grundsatz der Subsidiarität verlangt, dass Beschwerdeführer nicht nur den Rechtsweg im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG erschöpfen, sondern darüber hinaus auch alle zumutbaren Rechtsschutzmöglichkeiten zur Verhinderung oder Beseitigung der geltend gemachten Grundrechtsverletzung formal durchlaufen. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dabei geklärt, dass ein Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO eine solche Rechtsschutzmöglichkeit darstellt [...].

26 b) Einer Verweisung auf einen Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO steht dabei nicht entgegen, dass sich eine derartige Möglichkeit erst nach Erhebung der Verfassungsbeschwerde eröffnet hat. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde auch nachträglich entfallen [...]. Eine Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht ist auch dann nicht mehr gerechtfertigt, wenn sich nachträglich ein Weg eröffnet, auf dem die Beseitigung der geltend gemachten Beschwer ohne Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts erwirkt werden kann [...].

27 c) Beschwerdeführer vor dem Bundesverfassungsgericht sind dabei gehalten, ihre Verfassungsbeschwerde bei entscheidungserheblicher Veränderung der Sach- und Rechtslage aktuell zu halten und die Beschwerdebegründung gegebenenfalls nachträglich zu ergänzen [...].

28 d) Vorliegend hat der Beschwerdeführer nicht dargelegt, dass ein Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO im Nachgang des Urteils des Gerichtshofes der Europäischen Union vom 1. August 2025 [...] aussichtslos oder unzumutbar gewesen wäre.

29 aa) Die Aussichtslosigkeit eines Antrages nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO liegt zum einen insofern nicht auf der Hand, als die Klärung einer Rechtsfrage durch den Gerichtshof der Europäischen Union zu einer Veränderung der Umstände im Sinne des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO führen kann [...].

30 bb) Zum anderen erscheint auch nicht von vornherein ausgeschlossen, dass ein Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO geeignet wäre, die Beseitigung der mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemachten Beschwer zu erwirken.

31 [...] Der Umstand, dass ein Mitgliedstaat beschlossen habe, sichere Herkunftsstaaten durch einen Gesetzgebungsakt zu bestimmen, könne ein nationales Gericht nicht an der – sei es auch nur inzidenten – Prüfung hindern, ob bei der Bestimmung des betreffenden Drittstaats als sicherer Herkunftsstaat die in Anhang I der Richtlinie genannten materiellen Voraussetzungen für eine solche Bestimmung erfüllt seien [...]. Die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes und die Wirksamkeit der gerichtlichen Kontrolle der Erfüllung der in Anhang I der Richtlinie genannten materiellen Voraussetzungen erforderten dabei, dass sowohl der betreffende Antragsteller als auch das angerufene Gericht nicht nur Kenntnis von den Gründen für eine solche Ablehnung erlangen könnten, sondern auch Zugang zu den Informationsquellen haben könnten, auf deren Grundlage der betreffende Drittstaat als sicherer Herkunftsstaat bestimmt wurde [...]. Auch müssten Gerichte prüfen können, ob die in Anhang I der Richtlinie genannten materiellen Voraussetzungen erfüllt seien, indem es andere Informationen berücksichtige, die es gegebenenfalls selbst eingeholt habe [...]. Mit Blick auf die materiellen Voraussetzungen für die Einstufung eines Drittstaates als sicherer Herkunftsstaat hat der Gerichtshof der Europäischen Union schließlich klargestellt, dass ein Herkunftsstaat, der für bestimmte Personengruppen die in Anhang I der Richtlinie genannten materiellen Voraussetzungen nicht erfülle, nach gegenwärtiger Rechtslage nicht als sicher eingestuft werden könne [...].

32 cc) Im Falle eines Abänderungsantrages hätte das Verwaltungsgericht daher eine Neubewertung der Frage vorzunehmen, inwieweit es an die gesetzgeberische Einstufung Ghanas als sicherer Herkunftsstaat gebunden ist, und in diesem Zusammenhang zu prüfen, ob die in Anhang I der Richtlinie 2013/32/EU genannten materiellen Voraussetzungen mit Blick auf Ghana erfüllt sind. Dabei hätte es insbesondere zu berücksichtigen, dass eine Bewertung der allgemeinen Situation von LGBTQI-Personen jedenfalls nach gegenwärtiger Rechtslage auch unabhängig davon vorzunehmen ist, ob der Vortrag des Beschwerdeführers zu seiner sexuellen Orientierung glaubhaft erscheint.

33 3. Aus den genannten Gründen erweist sich auch die vom Beschwerdeführer erhobene Rüge einer Verletzung von Art. 16a GG als unzulässig. Denn es erscheint nicht ausgeschlossen, dass auf einen Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO ernstliche Zweifel auch an dem diesbezüglichen Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge bejaht würden. [...]