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VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Beschluss vom 06.08.2025 - 7 V 2097/25 - asyl.net: M33735
https://www.asyl.net/rsdb/m33735
Leitsatz:

Ernstliche Zweifel an der Einstufung Ghanas als sicheres Herkunftsland: 

1. Die Einstufung Ghanas als sicheres Herkunftsland begegnet erheblichen Zweifeln, da die materiellen Voraussetzungen des Anhangs I der Richtlinie 2013/32/EU im Hinblick auf LGBTQI*-Personen voraussichtlich nicht erfüllt sind. 

2. Geschlechtsverkehr zwischen Personen gleichen Geschlechts ist nach dem ghanaischen Strafgesetzbuch verboten. LGBTQI*-Personen drohen Übergriffe durch staatliche und nichtstaatliche Akteure. 

3. Staatlicher oder interner Schutz ist in Ghana nicht verfügbar. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ghana, sichere Herkunftsstaaten, geschlechtsspezifische Verfolgung, soziale Gruppe, staatlicher Schutz, interner Schutz,
Normen: AsylG § 29a Abs. 1, 2011/95/EU Art. 10 Abs. 1 Bst. d), 2011/95/EU 2011/95/EU, 2013/32/EU Art. 37 Abs. 1, 2013/32/EU Anhang I
Auszüge:

[...]

I. Die Antragstellerin begehrt Eilrechtsschutz gegen die ihr – infolge der Ablehnung ihres Asylantrages – angedrohte Abschiebung nach Ghana. [...]

2. Soweit das Bundesamt diese qualifizierte Ablehnung auf § 29a Abs. 1 AsylG i.V.m. Anlage II zum AsylG, in der Ghana als sicherer Herkunftsstaat aufgeführt ist, stützt, bestehen nach Auffassung der erkennenden Einzelrichterin erhebliche Zweifel, ob die materiell-rechtlichen Vorgaben des Unionsrechts in Art. 37 der Richtlinie 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie) an die Einstufung eines Staates als sicherer Herkunftsstaat in Bezug auf Ghana vorliegen. [...]

Nach der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 1. August 2025 – C-758/24, juris Rn. 89 ff.) steht Art. 37 der Richtlinie 2013/32/EU der Bestimmung eines Drittstaates als sicherer Herkunftsstaat entgegen, sofern für bestimmte Personengruppen die in Anhang I der Richtlinie genannten materiellen Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Denn gemäß dem Wortlaut des Anhangs I setze die Bestimmung eines Drittstaates als sicherer Herkunftsstaat voraus, dass nachweislich "generell" und "durchgängig" weder Verfolgung noch Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe sowie keine Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zu befürchten sind. Hieraus folge – unter Berücksichtigung einer gebotenen restriktiven Auslegung von Art. 37 der Richtlinie 2013/32/EU als Ausnahmevorschrift –, dass ein Drittstaat nur dann als sicherer Herkunftsstaat ausgewiesen werden dürfe, wenn die Voraussetzungen des Anhangs I für die gesamte Bevölkerung uneingeschränkt gelten.

Ein Gericht, das – wie vorliegend – mit einem Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung befasst ist, mit der ein Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt wird, der im Rahmen der besonderen Regelung für Anträge von Antragstellern aus nach Art. 37 der Richtlinie 2013/32/EU als sichere Herkunftsstaaten eingestuften Drittstaaten geprüft wurde, ist zur umfassenden Prüfung berechtigt und verpflichtet, ob die in Anhang I der Richtlinie genannten materiellen Voraussetzungen für eine solche Einstufung verkannt worden sind, auch wenn dies nicht ausdrücklich zur Begründung des Rechtsbehelfs geltend gemacht wird [...].

b. Dies zugrunde gelegt hat die erkennende Einzelrichterin erhebliche Bedenken, ob die Einstufung Ghanas als sicherer Herkunftsstaat den materiellen Voraussetzungen von Art. 37 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU genügt. Es sprechen gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass Ghana die in Anhang I der Richtlinie 2013/32/EU genannten materiellen Voraussetzungen jedenfalls nicht in Hinblick auf LGBTQI*-Personen erfüllt.

aa. Aus Sicht der erkennenden Einzelrichterin ergeben sich aus den Erkenntnismitteln belastbare Anzeichen dafür, dass LGBTQI*-Personen in Ghana von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren ausgehende Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU zu befürchten haben. Ihre Situation stellt sich wie folgt dar:

Geschlechtsverkehr zwischen Personen gleichen Geschlechts fällt unter Sektion 104 [...] des ghanaischen Strafgesetzbuches und wird mit Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren bestraft [...]. Zwar wird die Strafvorschrift in der Praxis nicht mehr angewandt [...]. Unabhängig davon, ob Freiheitsstrafen in Ghana tatsächlich verhängt werden, sind LGBTQI*-Personen in Ghana staatlichen und nichtstaatlichen Übergriffen ausgesetzt. Es kommt zu willkürlichen Verhaftungen, Erpressungen und erzwungenen Outings durch die Polizei [...]. Aufgrund der allgemeinen homophoben Grundstimmung in Politik und Gesellschaft finden – zum Teil über die sozialen Medien organisierte – gewalttätige körperliche Angriffe durch die Bevölkerung auf LGBTQI*-Personen statt [...]. Die Strafverfolgungsbehörden nehmen zwar vereinzelt Ermittlungen bei entsprechenden Übergriffen auf, zeigen sich jedoch häufig parteiisch zugunsten der tatverdächtigen Angreifer [...].

Die Lage für LGBTQI*-Personen in Ghana hat sich zuletzt durch den Entwurf eines Anti-LGBTQI*-Gesetz, das im Februar 2024 einstimmig durch das ghanaische Parlament beschlossen, jedoch nicht vom Präsidenten unterzeichnet wurde, weiter verschlechtert. [...]

bb. LGBTQI*-Personen stellen aus Sicht der Einzelrichterin in Ghana auch eine "soziale Gruppe" im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) der Richtlinie 2011/95/EU dar, da sie von der Gesellschaft – insbesondere unter Berücksichtigung des zuletzt eingebrachten Anti-LGBTQI*-Gesetzesentwurfs – als andersartig betrachtet werden [...].

cc. Der ghanaische Staat ist zudem gemäß Art. 6 Buchstabe c) der Richtlinie 2011/95/EU weder willens noch in der Lage, LGBTQI*-Personen Schutz vor nichtstaatlicher Verfolgung zu bieten. Aus den vorstehend genannten Erkenntnismitteln ergibt sich auch, dass interne Schutzmöglichkeiten im Sinne von Artikel 8 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU nicht bestehen, da LGBTQI*-Personen in keinem Landesteil offen und ohne die Gefahr gewalttätiger Übergriffe leben können. [...]