Sexuelle Orientierung muss auch ausgelebt werden:
1. Ist das Ausleben einer sexuellen Orientierung in foro externo nicht oder kaum zu erwarten, weil die entsprechende sexuelle Orientierung auch in Deutschland nicht oder kaum entsprechend ausgelebt wird, knüpft sich an ihr bloßes Bestehen in foro interno nicht die berechtigte Annahme begründeter Furcht vor Verfolgung (Rn. 35).
2. § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG (juris: AsylVfG 1992) erfordert keine Kausalität zwischen der Vernichtung des Identitäts- oder Reisedokuments und einer etwaigen Verhinderung der Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit. Der in der Vorschrift zum Ausdruck gebrachte Irrealis ("ermöglicht hätte") bezieht sich nicht darauf, dass die Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit nicht hat erfolgen können, sondern darauf, dass das dies ermöglichende Dokument vernichtet oder beseitigt worden ist (Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung) (Rn. 43).
(Amtliche Leitsätze)
[...]
34 Es kann dahinstehen, ob das Vorbringen des Antragstellers zu der vorgetragenen homosexuellen Handlung und zu seiner sexuellen Orientierung allgemein glaubhaft ist. Eine Bestrafung wegen der vorgetragenen einmaligen Handlung als 19jähriger ("Dort im Auto hatten wir Sex miteinander gehabt") erscheint schon deshalb nicht beachtlich wahrscheinlich, weil der Antragsteller selbst vorgetragen hat, er habe seine sexuelle Orientierung – und damit die vorgetragene Handlung – gegenüber seiner Familie und allgemein wegen der Regierung verheimlichen müssen. Damit gibt es keinerlei Anhaltspunkte, dass die Handlung staatlicherseits überhaupt zur Kenntnis gelangt wäre. Darüber hinaus gibt es keine Hinweise darauf, dass die Handlung unter Berücksichtigung der nach iranischem Strafrecht hohen Beweisanforderungen überhaupt gerichtsfest nachgewiesen werden könnte. Der Antragsteller trägt Furcht vor Verfolgung im Falle der Rückkehr in den Iran auch nicht vor ("Ich habe keine große Angst, keine Furcht. Ich hatte dort keine Probleme").
35 Eine identitätsprägende, ernsthafte und dauerhafte bisexuelle Orientierung ist auf Grundlage des Vorbringens des Antragstellers bei dem Bundesamt und in diesem Verfahren nicht feststellbar. Vorgetragen ist insoweit einzig eine homosexuelle Handlung im Alter von 19 Jahren (ca. 2020/2021), also vor etwa vier Jahren. Der Antragsteller macht nicht geltend, dass er danach im Iran, in der Türkei oder in Deutschland in irgendeiner Weise entsprechend einer bisexuellen Orientierung gelebt hätte ("Ich habe nur diese eine Erfahrung mit dem 19-Jährigen Mann aus …, als ich auch 19 Jahre alt war"). Insbesondere hat er seitdem weder eine weitere Beziehung mit einem Mann geführt ("Nein") noch ersichtlich homosexuelle Handlungen unternommen. Gibt er an, er habe erst in der Türkei etwas von LGBTQ gehört, dort erfahren, dass es unterschiedliche sexuelle Orientierungen gebe, und dann an sich festgestellt, dass er bisexuell sei, rechtfertigen diese vagen und pauschalen Angaben die Annahme einer ernsthaften und dauerhaften bisexuellen Orientierung nicht, denn der Antragsteller legt nicht substantiiert und überzeugend dar, sein Leben in Zukunft entsprechend einer solchen bisexuellen Orientierung führen zu wollen. Auf die Frage, wie er seine sexuelle Orientierung in Deutschland ausleben wolle, gab er lediglich an, er sei neu hier und wisse nicht, was ihn erwarte. Soweit er auf Nachfrage ferner angab, in Deutschland könne man sein sexuelles Leben in Freiheit leben, wobei er nicht nur wegen seiner sexuellen Orientierung hierhergekommen sei, lässt dies einen Rückschluss auf eine ernsthafte und dauerhafte bisexuelle Orientierung nicht zu. Die Aussage betrifft vielmehr Sexualität an sich, nicht aber eine bestimmte sexuelle Orientierung, und ist von daher unspezifisch. Neuere tatsächliche Umstände nach der Anhörung bei dem Bundesamt, die eine andere Einschätzung rechtfertigten, sind weder dargelegt noch ersichtlich.
36 Überdies kann von einem Ausländer zwar nicht erwartet werden, dass er seine Sexualität im Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden. Ist aber – wie hier – von Vornherein ein Ausleben der sexuellen Orientierung in foro externo nicht oder kaum zu erwarten, weil die entsprechende sexuelle Orientierung auch in Deutschland nicht oder kaum entsprechend ausgelebt wird, knüpft sich an ihr bloßes Bestehen – allenfalls – in foro interno nicht die berechtigte Annahme begründeter Furcht vor Verfolgung. [...]
41 2. Schließlich begegnet auch die mit einer Ausreisefrist von einer Woche verbundene Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet keinen ernstlichen Zweifeln.
42 Ein Asylantrag ist nach § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG unter anderem dann als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer ein Identitäts- oder ein Reisedokument, das die Feststellung seiner Identität oder Staatsangehörigkeit ermöglicht hätte, mutwillig vernichtet oder beseitigt hat oder die Umstände offensichtlich diese Annahme rechtfertigen.
43 Diese Vorschrift setzt Art. 32 Abs. 2 i.V.m. Art. 31 Abs. 8 Buchst. d der Richtlinie 2013/32/EU um. Soweit der Tatbestand verlangt, dass das vernichtete oder beseitigte Dokument die Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit ermöglicht hätte, schließt dies die Anwendung der Regelung – entgegen einer verbreiteten Auffassung – nicht schon dann aus, wenn aus anderen Gründen keine Zweifel an der Identität und der Staatsangehörigkeit des Ausländers bestehen. Soweit die Kammer in der Vergangenheit in Einzelrichterentscheidungen eine andere Rechtsauffassung hierzu vertreten hat (vgl. insbesondere noch VG Berlin, Beschluss vom 15. November 2024 – VG 35 L 460/24 A – amtl. EA, S. 2), wird diese Rechtsprechung aufgegeben. § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG erfordert keine Kausalität zwischen der Vernichtung des Identitäts- oder Reisedokuments und einer etwaigen Verhinderung der Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit. Vielmehr geht die Norm von der abstrakten Eignung von Identitäts- und Reisedokumenten für diese Feststellungen aus. Der in der Vorschrift zum Ausdruck gebrachte Irrealis ("ermöglicht hätte") bezieht sich nicht darauf, dass die Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit nicht hat erfolgen können, sondern darauf, dass das dies ermöglichende Dokument vernichtet oder beseitigt worden ist. Dies ergibt sich insbesondere aus den anderen, gleich verbindlichen Sprachfassungen des der Regelung zugrunde liegenden Art. 31 Abs. 8 Buchst. d der Richtlinie 2013/32/EU. Diese verlangen nicht, dass das betreffende Dokument die Identitätsfeststellung erst ermöglicht, sondern nur, dass es zu entsprechenden Feststellungen beigetragen hätte (englisch: "would have helped"; französisch: "aidé à établir"; spanisch: "habría contribuido a establecer"). Anhaltspunkte dafür, dass der deutsche Gesetzgeber den Tatbestand des § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG insoweit enger fassen wollte als die Vorgaben der Richtlinie, sind nicht ersichtlich. Dies ergibt sich insbesondere nicht aus der Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung, wonach der Tatbestand die nach früherer Rechtslage in § 30 Abs. 1 Nr. 2 und 5 AsylG a.F. geregelten Fälle der Täuschung über die Identität oder Staatsangehörigkeit durch Vernichtung oder Beseitigung eines Identitäts- oder Reisedokuments, "umfasst" (vgl. BT-Drs. 20/9463, 56). Der Umstand, dass diese Fallkonstellationen von der Regelung erfasst sein sollen, ist nicht gleichzusetzen damit, dass die Regelung nach dem Willen des Gesetzgebers auf diese Fälle beschränkt sein soll (so auch BeckOK-AuslR, AsylG, § 30 Rn. 31). Auch in teleologischer Hinsicht ist keine entsprechende Beschränkung des Tatbestands geboten. Die Regelung will ihrem Sinn und Zweck nach durch die Sanktion der Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet Ausländer – auch generalpräventiv – von der Vernichtung und Beseitigung ihrer Dokumente abhalten, und zwar unabhängig davon, ob das Ziel der Verschleierung letztlich im Einzelfall erreicht wird oder nicht. Der durch den Richtliniengeber und den Gesetzgeber missbilligte Zustand liegt in der vorsätzlichen Vernichtung und Beseitigung selbst, nicht erst in deren möglichem Ergebnis. Hierdurch soll die Vorschrift erkennbar auch der Beschleunigung der Asylverfahren dienen und zur Sicherung einer etwaigen zukünftigen Rückführung beitragen (vgl. auch VG Ansbach, Beschluss vom 6. Februar 2025 – 1 S 24.32356 – juris, Rn. 62; BeckOK-AuslR, AsylG, § 30 Rn. 31). Für die Verhängung einer an diesen Zwecken ausgerichteten Sanktion ist es ausreichend, dass ein vernichtetes oder beseitigtes Dokument zur Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit – wie zuvor gezeigt – beigetragen hätte, unabhängig davon, ob und ggf. wie diese Feststellung letztlich erfolgt ist oder nicht. Was demgegenüber die Annahme eines Kausalitätserfordernisses rechtfertigen soll, insbesondere an welchen Zwecken eine – sich durch Wortlaut und Gesetzesbegründung nicht aufdrängende – Einschränkung des Tatbestands ausgerichtet sein soll, lässt die Gegenauffassung offen und überzeugt deshalb nicht.
44 In subjektiver Hinsicht verlangt der Wortlaut des § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG tatbestandlich – wie auch die Richtlinie – Mutwillen bei der Vernichtung oder Beseitigung. Mutwille ist nach allgemeinem Sprachverständnis eine absichtliche, bewusste, vorsätzliche Boshaftigkeit oder Leichtfertigkeit (www.duden.de/rechtschreibung/Mutwille, abgerufen am 28. August 2025) und erfordert demnach vorsätzliches bzw. bösgläubiges Handeln (vgl. auch andere, gleichverbindliche Sprachfassungen der Richtlinie, namentlich englisch: "in bad faith"; französisch: "de mauvaise foi"; italienisch: "in mala fede"; spanisch: "de mala fe"). Der entsprechende Vorsatz muss im Zeitpunkt der Vernichtung oder Beseitigung gegeben sein und in diesem Zeitpunkt den – ebenfalls wortgetreu der Richtlinie entnommenen – Umstand umfassen, dass das entsprechende Dokument die Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit ermöglicht (bzw. zu dieser beigetragen) hätte. Verbreitet wird vertreten, dass Mutwilligkeit darüber hinaus ein Verhalten mit dem Zweck der Verschleierung erfordere (BeckOK-AuslR, AsylG, § 30 Rn. 31; Schiebel/Schulz-Bredemeier, ZAR 2024, 267, 274 m.w.N. aus der Rspr.), insbesondere um die Durchführung des Asylverfahrens bzw. die sich ggf. daran anschließende Rückführung zu erschweren oder zu verzögern. Ob die Vernichtung oder Beseitigung der Dokumente vor der Einreise oder danach erfolgt, ist unerheblich (BeckOK-AuslR, AsylG, § 30 Rn. 31), solange sie nicht vor dem Fluchtentschluss stattgefunden hat.
45 Gemessen daran ist der Tatbestand des § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG vorliegend gegeben. Der Antragsteller hat bei seiner Anhörung bei dem Bundesamt angegeben, er habe seinen Reisepass unterwegs an der Grenze zwischen dem Iran und der Türkei weggeworfen. Hierbei handelt es sich unzweifelhaft um ein zur Feststellung der Identität und der Staatsangehörigkeit beitragendes Dokument, wobei der Vorsatz des Antragstellers zweifellos nicht nur diesen Umstand umfasste, sondern sein Handeln zudem am Zweck der Verschleierung ausgerichtet war. Er hat nämlich schriftsätzlich vorgetragen, sein Verhalten stelle "nach ständiger Praxis im Fluchtkontext kein seltenes Verhalten" dar, "etwa um sich einer Rückführung zu entziehen". An einer entsprechenden Zwecksetzung bestehen danach keine ernstlichen Zweifel. [...]