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VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 15.10.2025 - 15 A 5036/24 - asyl.net: M33744
https://www.asyl.net/rsdb/m33744
Leitsatz:

Systemische Mängel des Asylverfahrens in Polen:

In Polen gibt es systemische Mängel im Asylverfahren, die darin liegen, dass Dublin-Rückkehrende ihr Asylverfahren nicht wiederaufnehmen können, sondern auf ein Folgeantragsverfahren verwiesen werden. Außerdem wird landesweit die Annahme von Asylanträgen von Personen verweigert, die irregulär über Belarus nach Polen eingereist sind.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Polen, Dublinverfahren, systemische Mängel, Abschiebungsanordnung, Asylantragstellung, Aufnahmebedingungen, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Zuständigkeitsübergang
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4
Auszüge:

[...]

b. Die Zuständigkeit Polens ist indes auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen, weil in Polen derzeit systemische Mängel des Asylverfahrens bestehen. [...]

Nach diesen Maßstäben droht dem Kläger bei einer Rückführung nach Polen unmenschliche und erniedrigende Behandlung aufgrund systemischer Mängel des polnischen Asylverfahrens. Solche systemischen Mängel liegen zum Entscheidungszeitpunkt darin, dass Polen Dublin-Rückkehrern die Wiederaufnahme ihres Asylverfahrens verweigert und sie stattdessen darauf verweist, einen neuen Asylantrag in Form eines Folgeantrags zu stellen. Zugleich verweigert Polen aktuell landesweit die Annahme von Asylanträgen von Personen, die irregulär über Belarus nach Polen eingereist sind. Dublin-Rückkehrer haben aufgrund dieser konfligierenden Regelungen, jedenfalls bei einer vorherigen Einreise über Belarus, keinen Zugang mehr zum polnischen Asylverfahren. Infolgedessen drohen ihnen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Inhaftierung und willkürliche Abschiebung in ihre Herkunftsländer wie auch Verelendung mangels Zugangs zu den materiellen Aufnahmebedingungen für Asylbewerber. [...]

Neben gewalttätigen Übergriffen beschneiden polnische Grenzschutzkräfte die Rechte von Geflüchteten auch dadurch, dass sie sie dazu veranlassen, verfahrensbeendende Erklärungen abzugeben. [...]

bb. Die aktuelle Gesetzeslage in Polen sowie die Art und Weise, auf die diese Gesetze zum Entscheidungszeitpunkt von den polnischen Behörden angewendet werden, führen dazu, dass der Kläger bei einer Rückführung nach Polen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keinen Zugang zum Asylverfahren erhalten wird. [...]

Das Asylverfahren des Klägers in Polen gilt mithin aufgrund seiner Ausreise nach Deutschland und des Ablaufs der neunmonatigen Frist als abgeschlossen. Damit ist er bei den polnischen Behörden nicht mehr als Asylantragsteller registriert. Um erneut Zugang zum Asylverfahren erhalten zu können, muss er einen Folgeantrag stellen. Aufgrund der neuen gesetzlichen Regelungen und der extensiven Auslegung dieser Regelungen durch die polnischen Behörden droht dem Kläger nunmehr sogar, bezugnehmend auf seine irreguläre Einreise aus Belarus, der Zugang zum polnischen Asylverfahren vollständig verwehrt zu werden. [...]

Es bestehen jedoch bereits seit Längerem Bedenken, ob Dublin-Rückkehrer in Polen immer berechtigt sind, ihr ursprüngliches Asylverfahren wieder aufzunehmen (Danish Refugee Council, Poland. Reception conditions and access to the asylum procedure for Dublin returnees, 30.06.2025, S. 6). Die polnische NGO Stowarzyszenie Interwencji Prawnej (SIP, auch: Association for Legal Intervention) dokumentierte Fälle, in denen bei Dublin-Rückführungen von Personen, die bisher kein Asyl in Polen beantragt hatten, selbst ein ausdrücklicher Wunsch, Asyl zu beantragen, von den Grenzschutzbeamten ignoriert und erst nach rechtlicher Intervention registriert wurde (Danish Refugee Coun-cil, Poland. Reception conditions and access to the asylum procedure for Dublin re-turnees, 30.06.2025, S. 7). Seit etwa Mitte September 2025 verweigert Polen nunmehr nach den Feststellungen der NGO SIP landesweit die Annahme von Asylanträgen von Schutzsuchenden, die über Belarus geflohen sind. Dies betrifft nicht nur Asylanträge, die an der Staatsgrenze zu Belarus gestellt werden, sondern auch solche von Antragstellern, die sie sich Hunderte von Kilometern von der Grenze entfernt befinden, beispielsweise in Warschau oder Stettin, und versuchen, ihre Anträge bei den zuständigen Stellen einzureichen (SIP, 22.09.2025, https://interwencjaprawna.pl/en/poland-refuses-to-accept-asylum-applications-nationwide/). [...]

Den Betroffenen, deren Asylanträge nicht von den zuständigen Behörden entgegengenommen werden, drohen deshalb Inhaftierung und Abschiebungen in ihre Herkunftsländer. Angesichts dieser neuen, verschärften Praxis fordert die NGO Pro Asyl, Überstellungen nach Polen im Rahmen des Dublin-Verfahrens sofort zu stoppen (Pro Asyl, Pres-semitteilung, 25.09.2025, https://www.proasyl.de/pressemitteilung/polen-setzt-asyl-recht-aus-bundesregierung-muss-pushbacks-und-abschiebungen-in-das-land-stop-pen/).

(b) Der Kläger ist irregulär über Belarus nach Polen eingereist und gilt in Polen derzeit nicht als Asylsuchender, sodass die neue Regelung auch gegen ihn angewendet zu werden droht. Stellt eine geflüchtete Person in Polen keinen Asylantrag, kommt es zu einem Rückführungsverfahren, es sei denn, es besteht eine andere Rechtsgrundlage für den Aufenthalt, z. B. eine Aufenthaltsgenehmigung oder ein Visum. Laut der NGO SIP mangelt es an den Einreisestellen nach Polen, einschließlich des Flughafens, erheblich an rechtlichen Informationen und Rechtsbeistand. Der Mangel an Informationen kann schwerwiegende rechtliche Folgen für die betroffene Person haben (Danish Refugee Council, Poland. Reception conditions and access to the asylum procedure for Dublin returnees, 30.06.2025, S. 7).

Die beschriebenen Bedenken werden nicht dadurch ausgeräumt, dass die polnischen Behörden sich gegenüber der Beklagten zur Wiederaufnahme des Klägers bereit erklärt haben. Zum einen erfolgte diese Zusage bereits im August 2024 und damit vor der formellen Aussetzung des Rechts auf Asyl an der polnisch-belarussischen Grenze (Februar 2025), vor der Erklärung des Ministerpräsidenten, keine Dublin-Überstellungen mehr entgegenzunehmen (März 2025) und auch vor der Einführung der noch weitergehenden Praxis, Asylanträge von über Belarus nach Polen eingereisten Personen landesweit nicht mehr entgegenzunehmen (September 2025). Außerdem hat die polnische NGO Rule of Law Institute (Fundacja Instytut na rzecz Państwa Prawa) in einem kürzlich erschienenen Bericht festgestellt, dass die Garantien der polnischen Regierung in Rückführungsverfahren nicht vertrauenswürdig sind. [...]

In einer Bewertung aus dem Jahr 2024 stellte die Europäische Kommission mehrere Mängel in den Rückführungsverfahren Polens fest. Die Beobachtungen hoben Bedenken hinsichtlich des Grundsatzes der Nichtzurückweisung hervor, Mängel, die die Verfahrensgarantien für Personen, die einer Rückführung unterliegen, untergraben, und wiesen auf umfassendere strukturelle Probleme hin. Dazu gehörten der eingeschränkte Zugang zu Rechtsbeistand, Hindernisse für eine wirksame Berufung gegen Rückführungsentscheidungen und Schwächen in den Überwachungsmechanismen für Zwangsrückführungen (Danish Refugee Council, Poland. Reception conditions and access to the asylum procedure for Dublin returnees, 30.06.2025, S. 9). Im Jahr 2025 dokumentierte das Rule of Law Institute eine erhebliche Anzahl schwerwiegender Vorfälle im Zusammenhang mit der Behandlung von Asylbewerbern. Auf der Grundlage dieser Be-obachtungen wies die Organisation darauf hin, dass die Bedingungen in Polen Anlass zu ernsthaften Bedenken geben, die nach Ansicht des Instituts eine Aussetzung der Dublin-Überstellungen in dieses Land rechtfertigen (Fundacja Instytut na rzecz Państwa Prawa, 09.04.2025, https://panstwoprawa.org/en/wiedza/gwarancje-polskiego-panstwa-nie-sa-warte-zlamanego-grosza/). [...]

cc. Sollte es bei einer Rückführung des Klägers nach Polen nicht unmittelbar zu einer Inhaftierung und Abschiebung in den Sudan kommen, droht ihm noch immer Verelendung mangels Zugangs zu den materiellen Aufnahmebedingungen für Asylbewerber. [...]

c. Die Zuständigkeit Polens ist, selbstständig tragend, auch deshalb auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen, weil die Überstellungsfrist am 12.02.2025 abgelaufen ist. Die polnischen Behörden haben sich am 12.08.2024 zur Wiederaufnahme des Klägers bereit erklärt. Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. [...]