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VG Frankfurt/Oder

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Zitieren als:
VG Frankfurt/Oder, Urteil vom 03.09.2025 - 8 K 1666/24.A - asyl.net: M33769
https://www.asyl.net/rsdb/m33769
Leitsatz:

Keine Gruppenverfolgung von Hazara oder Ismaeliten in Afghanistan: 

1. Die Glaubensgemeinschaft der Ismailiten unterliegt in Afghanistan keiner Gruppenverfolgung. Es fehlen Anhaltspunkte für eine Verfolgungsgefahr, die über Alltagsdiskriminierungen und vereinzelte Übergriffe auf Gemeindemitglieder hinausgeht. 

2. Hazara unterliegen in Afghanistan keiner Gruppenverfolgung. Trotz einer Serie gezielter Massentötungen im September 2024 und einem Anstieg von Anschlägen des ISKP fehlt es an der erforderlichen Verfolgungsdichte. 

3. Stellen Hazara jedoch aus einer auf der Glaubensüberzeugung aufbauenden politischen Überzeugung den Herrschaftsanspruch der Taliban in Frage und äußern sich entsprechend, besteht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsgefahr. 

(Leitsätze der Redaktion) 

Schlagwörter: Afghanistan, Hazara, Ismailiten, Schiiten, religiöse Verfolgung, Gruppenverfolgung, politische Verfolgung, Taliban,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5
Auszüge:

[...]

26 Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG.

27 Unter Berücksichtigung aller bei Schluss der mündlichen Verhandlung zu Tage liegenden Umstände (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) hat das Gericht infolge der Erkenntnisse aus der informatorischen Befragung des Klägers in Zusammenschau mit seinen Angaben aus dem Verwaltungsverfahren unter Berücksichtigung der ins Verfahren eingeführten Erkenntnisse zur Situation in Afghanistan die Überzeugung gewonnen (vgl. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), dass der Kläger unter den sehr individuellen Voraussetzungen seines Falles keine religiös oder ethnisch bedingte Verfolgung zu befürchten hat, hingegen wegen seiner politischen Überzeugung eine begründete Furcht vor Verfolgung in Afghanistan hegt.

28 Auf die von ihm geltend gemachte Verfolgungsgefahr infolge seiner Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Ismailiten kann sich der Kläger nicht berufen. Zwar wäre insoweit ein Verfolgungsgrund i.S.v. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG denkbar; es fehlt indes an hinreichenden Anhaltspunkten dafür, dass die seit Anbeginn ihrer Existenz als vergleichsweise kleine Minderheit unter Diskriminierungen mannigfaltiger Art leidende Ismailiten-Gemeinde in Afghanistan [...] mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer landesweiten Gruppenverfolgung [...] unterliegt, da über Alltagsdiskriminierungen und vereinzelte Übergriffe auf Gemeindemitglieder hinaus keine gleichsam alle Gemeindemitglieder treffende Verfolgungsgefahr aus den Erkenntnisunterlagen hervorgeht; der Kläger macht insoweit nichts glaubhaft. Im Übrigen hat der Kläger selbst vorgetragen, dass nicht einmal seine eigenen Familienmitglieder vor Ort wegen ihrer Konfessionszugehörigkeit Nachstellungen erlitten hätten sowie dass andere Mitglieder seiner Gemeinde - augenscheinlich unbehelligt - in andere Stadtviertel oder Provinzen ("zurück-") gegangen seien, was darauf schließen lässt, dass Ismailiten durchaus relativ unbehelligt in Afghanistan leben können. [...]

31 Der Kläger unterliegt auch als Hazara keiner Gruppenverfolgung oder einer individuellen ethnisch bedingten Verfolgung (§§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Eine Gruppenverfolgung der Hazara kann nicht festgestellt werden. Dem steht nicht entgegen, dass Human Rights Watch im September 2024 eine fortgesetzte Serie gezielter Massentötungen an Hazara dokumentiert, wonach man von über 700 Opfern seit 2021 spreche und internationalen Schutz fordere; auch bezüglich des Berichts von UNAMA für das 4. Quartal 2024, wo ein deutlicher Anstieg einschlägiger ISKP-Anschläge aufgezeigt und 87 getötete oder verletzte Zivilpersonen allein in diesem Zeitraum benannt werden, darunter zahlreiche Hazara, führt nicht auf die Annahme einer Gruppenverfolgung.

32 In der anderweitigen aktuellen Rechtsprechung wird - soweit ersichtlich - einhellig davon ausgegangen, dass es für die Annahme einer Gruppenverfolgung an der erforderlichen "Verfolgungsdichte" fehlt [...]. Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln ist davon auszugehen, dass die Hazara einen Anteil von 9 bis 20 Prozent der Gesamtbevölkerung Afghanistans stellen [...]. Angesichts der Einwohnerzahl von ca. 41 Mio. Menschen leben demnach in Afghanistan mehr als 3,5 Mio. Hazara. Unter diesen Voraussetzungen ist eine Anzahl von 17 Toten und mehr als 700 Verletzten aus dieser Bevölkerungsgruppe innerhalb eines Zeitraums von mehr als drei Jahren (der Bericht von Human Rights Watch wurde am 13. September 2024 veröffentlicht) nicht geeignet, eine Gruppenverfolgung zu belegen. Entsprechendes gilt für die Anzahl von 87 getöteten und verletzten Personen im Zeitraum eines Quartals, von denen nicht alle, sondern "zahlreiche" Betroffene der Gruppe der Hazara zuzurechnen waren. [...]

34 Freilich hat der Kläger mit seinen in der mündlichen Verhandlung glaubhaft gemachten politischen Bekundungen, hinsichtlich derer auf das Verhandlungsprotokoll verwiesen wird, zur Überzeugung des Gerichts eine jedenfalls nunmehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ("real risk") anzunehmende Verfolgungsgefahr wegen der kundgetanen eigenen politischen Überzeugung zu befürchten. Seine das Taliban-Regime aus dessen Sicht beleidigenden und dessen Herrschaftsanspruch widersprechenden Äußerungen nimmt ihm das Gericht insbesondere deshalb als identitätsprägende politische Überzeugung ab, weil sie auf den an anderer Stelle dargestellten Glaubensüberzeugungen des Klägers aufbauen und der dem Kläger geläufigen Grundhaltung entsprechen in Bezug auf seine in Afghanistan tatsächlich gelebte Glaubensüberzeugung namentlich zur öffentlichen gemeinschaftlichen (Glaubens-) Versammlung der Geschlechter. Die vom Kläger glaubhaft gemachte politische Überzeugung wird von den de-facto-Machthabern in Afghanistan nicht toleriert werden, stellt sie doch ihren religiös verbrämten umfassenden Machtanspruch gänzlich in Frage.

35 Zwar hat der Kläger seine diesbezüglichen Angaben erst in der mündlichen Verhandlung vorgetragen; es handelt sich jedoch nicht um einen ausgeschlossenen Nachfluchtgrund. Die begründete Furcht vor Verfolgung i.S.v. § 3 Abs. 1 AsylG kann nämlich auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist (§ 28 Abs. 1a AsylG). Dies ist bei dem Kläger angesichts seiner bereits in Afghanistan während der Betätigung innerhalb der Ismailiten-Glaubensgemeinschaft an den Tag gelegten inneren Grundeinstellung der Fall, auch wenn er zuvor mit den gesellschaftspolitischen Folgerungen aus seiner religiösen Grundüberzeugung bislang nicht in den politischen Raum hinein wirksam geworden war, nunmehr sogar mit einer die friedlichen Glaubensgrundsätze in Frage ziehenden Radikalität. [...]