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OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Urteil vom 29.10.2025 - 1 LB 174/24 - asyl.net: M33781
https://www.asyl.net/rsdb/m33781
Leitsatz:

Ablehnung als unzulässig bei Verlust des in einem anderen EU-Mitgliedstaat gewährten Schutzstatus: 

1. Der in der Tschechischen Republik gewährte subsidiäre Schutz erlischt gemäß § 18 Buchst. d des tschechischen Asylgesetzes mit Ablauf der Frist, für die er gewährt wurde. Nach § 53a Abs. 1 des tschechischen Asylgesetzes kann subsidiärer Schutz in der Tschechischen Republik auch befristet gewährt werden. Es besteht aber die Möglichkeit der Verlängerung (§ 53a Abs. 4 des tschechischen Asylgesetzes).

2. Der Rechtmäßigkeit einer auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützten Unzulässigkeitsentscheidung steht nicht entgegen, dass ein Asylkläger in dem maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht mehr über den ihm in einem anderen EU-Mitgliedsstaat gewährten Schutzstatus verfügt, wenn der Verlust des Schutzstatus auf einen eigenen, freiwilligen Willensentschluss zurückzuführen ist. Dies ist nicht nur bei einem freiwillig erklärten, ausdrücklichen Verzicht auf den Schutzstatus gegenüber dem schutzgewährenden EU-Mitgliedsstaat der Fall, sondern kann auch im Falle einer freiwilligen Ausreise aus dem schutzgewährenden EU-Mitgliedsstaat und der bewusst unterlassenen Verlängerung des dort nur befristet gewährten Schutzstatus anzunehmen sein (konludenter Verzicht). Ob das Verhalten des Asylklägers als konkludenter Verzicht zu werten ist, beurteilt sich nach den Umständen des konkreten Einzelfalles.

3. Anders verhält es sich indes, wenn ganz offensichtlich auf der Hand liegt, dass sich ein EU-Mitgliedstaat nicht unionsrechtskonform verhält und z.B. zuerkannten internationalen Schutz rechtswidrig nicht weitergewährt oder entzieht und die nationalen Gerichte insoweit keinen effektiven Rechtsschutz garantieren. Dafür ist mit Blick auf die tschechische Rechtslage nichts ersichtlich.

4. Es liegen derzeit weder Anhaltspunkte für systemische Mängel des tschechischen Asylsystems vor noch lassen die Lebensbedingungen für in Tschechien anerkannt Schutzberechtigte eine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung erkennen.

5. Es ist höchstrichterlich geklärt, dass familiäre Bindungen und Kindeswohlinteressen, die einer Abschiebung entgegenstehen, nicht bereits bei der Feststellung von Abschiebungsverboten durch das Bundesamt, sondern als inlandsbezogene Belange im Einklang mit § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG und § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG allein im Rahmen der Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen sind.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Tschechische Republik, subsidiärer Schutz, internationaler Schutz in EU-Staat, Verzicht, Unterlassung, Erlöschen, Unzulässigkeit
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, RL 2004/83/EU Art. 23,
Auszüge:

[...]

a) Der Rechtmäßigkeit der auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützten Unzulässigkeitsentscheidung steht nicht entgegen, dass die Kläger in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt nicht mehr über den ihnen in Tschechien gewährten Schutzstatus verfügen. 

aa) Nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen ist der den Klägern von der Tschechischen Republik gewährte Schutzstatus zwischenzeitlich erloschen. 

Nach § 14a Abs. 1 des Gesetzes 325/1999 über Asyl und zur Änderung des Gesetzes 283/1991 über die Polizei der Tschechischen Republik in der seit dem 01.10.2025 geltenden Fassung (im Folgenden: tschechisches Asylgesetz) wird einem Ausländer, der die Voraussetzungen für die Gewährung von Asyl nicht erfüllt, subsidiärer Schutz gewährt, wenn festgestellt wird, dass berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass ihm bei einer Rückführung in den Staat seiner Staatsangehörigkeit oder im Falle der Staatenlosigkeit seines letzten ständigen Wohnsitzes die tatsächliche Gefahr eines schwerwiegenden Schadens drohen würde und er aufgrund dieser Gefahr den Schutz dieses Staates nicht
in Anspruch nehmen kann oder will. Gemäß § 18 Buchst. d tschechisches Asylgesetz erlischt der internationale Schutz mit Ablauf der Frist, für die der subsidiäre Schutz gewährt wurde. Der subsidiäre Schutz wird in Tschechien für den Zeitraum gewährt, in dem der Person, die subsidiären Schutz genießt, ernsthafter Schaden droht, mindestens jedoch für ein Jahr. Der Person, die subsidiären Schutz genießt, wird der Aufenthalt im Hoheitsgebiet für den in der Entscheidung über die Gewährung des subsidiären Schutzes festgelegten Zeitraum gestattet (§ 53a Abs. 1 tschechisches Asylgesetz). Gemäß § 53a Abs. 4 tschechisches Asylgesetz ist eine Person, die subsidiären Schutz genießt, berechtigt, eine Verlängerung der Dauer des subsidiären Schutzes zu beantragen (Satz 1). Das Ministerium verlängert die Dauer des ergänzenden Schutzes, wenn der Person, die subsidiären Schutz genießt, weiterhin ernsthafter Schaden droht und keine Gründe für dessen Entzug vorliegen (Satz 2 Halbsatz 1). Der subsidiäre Schutz wird dann um mindestens zwei Jahre verlängert (Satz 3 Halbsatz 1). 

In Erkenntnisquellen sowie verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen zur Situation von in Tschechien anerkannten Schutzberechtigten wird teilweise angenommen, dass in Tschechien lediglich die Aufenthaltserlaubnis dieser Personen, nicht aber der Schutzstatus selbst befristet gewährt wird (so Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Tschechien vom 14.08.2023, S. 11 (im Folgenden: BFA 2023); Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Greifswald vom 18.09.2017, S. 3 (im Folgenden: AA 2017); VG Ansbach, Beschl. v. 02.12.2024 - AN 18 S 24.50101, juris Rn. 34 und Beschl. v. 02.06.2025 - AN 18 S 25.50394, juris Rn. 41; VG Trier, Urt. v.
06.02.2020 - 7 K 1994/19.TR, juris Rn. 43). Gegen dieses Verständnis spricht jedoch der eindeutige Wortlaut der § 18 Buchst. d, § 53a tschechisches Asylgesetz sowie die Auskunft des tschechischen Innenministeriums vom 10.10.2025, in der es heißt, dass der Schutzstatus „abgelaufen“ und „nicht in Kraft“ sei. Auch die Systematik des tschechischen Asyl gesetzes streitet für ein Erlöschen des Schutzstatus selbst. § 18 Buchst. d ist in dem Abschnitt „Gründe für den Entzug und das Erlöschen von Asyl oder subsidiärem Schutz“ geregelt, dort unmittelbar nach der Vorschrift zum Entzug des subsidiären Schutzes (§ 17a). Zudem enthält das tschechische Asylgesetz in §§ 59 ff. gesonderte Regelungen zur „Aufenthaltsgenehmigung“ und zu deren Gültigkeitsdauer (ebenfalls eine Befristung des subsidiären Schutzes annehmend: Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt vom 28.11.2019). 

Ausgehend davon ist dem Kläger zu 1. der subsidiäre Schutz nach mehreren Verlängerungen befristet bis zum 22.06.2024 gewährt worden. Eine darüberhinausgehende Verlängerung der Schutzgewährung ist nicht erfolgt. Der der Klägerin zu 2. am 09.09.2020 gewährte subsidiäre Schutzstatus war bis zum 09.09.2022 befristet und wurde ebenfalls nicht verlängert. 

bb) Das Erlöschen des Schutzstatus der Kläger in Tschechien hat nicht zur Folge, dass § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG keine taugliche Rechtsgrundlage der Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamtes wäre. 

(1) Der Wortlaut der deutschen Sprachfassung des Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes vom 26.06.2013 (im Folgenden: Asylverfahrensrichtlinie) als auch des diese Vorschrift in nationales Recht umsetzenden § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG verlangt, dass ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz „gewährt hat“. Das Erfordernis des Fortbestandes des Schutzstatus im Zeitpunkt der Unzulässigkeitsentscheidung oder zu einem späteren Zeitpunkt lässt sich dieser Formulierung nicht entnehmen (darauf abstellend: BayVGH, Urt. v. 28.03.2024 - 24 B 22.31136, juris Rn. 15; SaarlOVG, Beschl. v. 29.08.2024 - 2 A 48/24, juris Rn. 12). Die Gesetzesbegründung zu § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (BT-Drs. 18/8615, S. 51) ist unergiebig. Der Erwägungsgrund 43 zur Asylverfahrensrichtlinie deutet indes darauf hin, dass der Unionsgesetzgeber hinsichtlich der Befugnis der Mitgliedstaaten, Asylanträge bei einer vorangegangenen Schutzgewährung in einem anderen Mitgliedstaat als unzulässig abzulehnen, grundsätzlich von dem Erfordernis eines  fortbestehenden Schutzstatus ausgegangen sein dürfte. Dort heißt es in Satz 2, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sein sollten, „einen Antrag auf internationalen Schutz in der Sache zu prüfen, wenn der erste Asylstaat dem Antragsteller […] anderweitig ausreichend Schutz gewährt und die Rückübernahme des Antragstellers in diesen Staat gewährleistet ist.“ (ebenfalls auf die Gewährleistung des internationalen Schutzes in dem anderen Mitgliedstaat abstellend: EuGH, Urt. v. 22.02.2022 - C-483/20, juris Rn. 24). Zugleich räumt die Asylverfahrensrichtlinie den Mitgliedstaaten aber die Befugnis ein, zu regeln, dass der internationale Schutz im Falle eines eindeutigen Verzichts der Person mit Anspruch auf internationalen Schutz auf ihre Anerkennung als solche von Rechts wegen erlischt (Art. 45 Abs. 5 Satz 1 Asylverfahrensrichtlinie). In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist daher anerkannt, dass der ausdrücklich erklärte, freiwillige Verzicht auf den gewährten Schutzstatus die Wirkung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht beseitigt und wie der Fortbestand des Schutzes zu behandeln ist (BayVGH, Beschl. v. 21.05.2019 - 21 ZB 16.50029, Rn. 12 f.; VGH BW, Beschl. v. 12.03.2025 - A 4 S 256/24; OVG SH, Urt. v. 22.06.2023 - 4 LB 6/22, Rn. 62; allgemein den Fortbestand der Schutzgewährung nicht verlangend: BayVGH, Urt. v. 28.03.2024 - 24 B 22.31136, Rn. 15; SaarlOVG, Beschl. v. 29.08.2024 - 2 A 48/24, Rn. 12; OVG Bln-Bbg, Urt. v. 23.04.2025 - 3 B 41/23, Rn. 19; offenlassend: SächsOVG, Urt. v. 18.06.2025 - 5 A 446/17.A, Rn. 21, alle zitiert nach juris). Zutreffend wird insoweit darauf hingewiesen, dass ein anderes Verständnis dem Sinn und Zweck des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG und der unionsrechtlichen Grundlage in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Asylverfahrensrichtlinie entgegenstünde. Nach diesen Vorschriften soll Sekundärmigration verhindert und sichergestellt werden, dass nur der Mitgliedstaat des zuerst durchgeführten Asylverfahrens zuständig ist und dies grundsätzlich auch bleibt. Es kann daher nicht in das Belieben des Schutzberechtigten gestellt werden, den ihm bereits gewährten Schutz durch eigenes Handeln oder Unterlassen zum Erlöschen zu bringen oder Widerrufsgründe zu  schaffen, um anschließend ein weiteres Asylverfahren in einem anderen Mitgliedstaat
durchzuführen (OVG Bln-Bbg, a.a.O. Rn. 19 m.w.N.).

Nichts anderes kann nach Auffassung des Senats gelten, wenn der Verlust des Schutzstatus nicht aufgrund eines ausdrücklich erklärten Verzichts gegenüber dem schutzgewährenden Staat erfolgt, aber ebenfalls auf einem eigenen, freiwilligen Willensentschluss zurückzuführen ist. Der Senat schließt sich insoweit der herrschenden obergerichtlichen Rechtsprechung an (vgl. nur BayVGH, Urt. v. 09.01.2024 - 24 B 23.30364, Rn. 43 und Beschl. v. 20.04.2023 - 24 ZB 23.30078, Rn. 16 f.; OVG Bln-Bbg, Urt. v. 23.04.2025 - 3 B 41/23, Rn. 19; HessVGH, Urt. v. 26.10.2021 - 8 A 1852/20.A, Rn. 29; wohl auch OVG LSA, Beschl. v. 12.09.2022 - 3 L 198/21, Rn. 6, alle zitiert nach juris). Erlischt der Schutzstatus in dem schutzgewährenden Staat aufgrund eines Handelns oder Unterlassens des Schutzberechtigten, das nach den Gesamtumständen als konkludenter Verzicht auf den gewährten Schutz zu werten ist, ist dieser Fall nicht anders zu behandeln als der des ausdrücklich erklärten Verzichts. In beiden Fällen ist der Verlust des Schutzstatus Folge eines freien, eigenen Willensentschlusses des ursprünglich Schutzberechtigten. Wie beim ausdrücklich erklärten Verzicht widerspräche es dem Sinn und Zweck des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG und seiner unionsrechtlichen Grundlage, den nach der Schutzgewährung in einem anderen Mitgliedstaat mit einem weiteren Asylantrag befassten  Mitgliedstaaten die Befugnis zur Ablehnung des Asylantrages als unzulässig abzusprechen. Einschränkend geht der Senat mit dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg aber davon aus, dass eine Unzulässigkeitsentscheidung im Falle des Verlustes des Schutzstatus dann nicht auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt werden darf, wenn ganz offensichtlich auf der Hand liegt, dass sich ein Mitgliedstaat nicht unionsrechtskonform verhält und z.B. zuerkannten internationalen Schutz rechtswidrig nicht weitergewährt oder entzieht und die nationalen Gerichte insoweit keinen effektiven Rechtsschutz garantieren (OVG Bln-Bbg, a.a.O. Rn. 20).

(2) Gemessen daran ist der Verlust des Schutzstatus der Kläger vorliegend auf deren eigenen, freiwilligen Willensentschluss zurückzuführen und wie der Fortbestand des Schutzstatus zu behandeln. Durch ihre Ausreise aus Tschechien und ihr Verhalten nach der Einreise ins Bundesgebiet haben die Kläger konkludent zum Ausdruck gebracht, auf den ihnen zuvor gewährten Schutz zu verzichten. Sie haben sich bewusst entschieden, den ihnen in Tschechien lediglich befristet gewährten Schutzstatus nicht verlängern zu lassen. Dies hatte das Erlöschen des Schutzstatus zur Folge (§ 18 Buchst. d tschechisches Asylgesetz). [...]

b) § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist trotz des Umstandes, dass der Tochter der Kläger im März 2023 durch das Bundesamt bestandskräftig subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, eine taugliche Rechtsgrundlage der Unzulässigkeitsentscheidung.

Die Gewährung internationalen Schutzes durch einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union hindert zwar nicht die Zuerkennung des von einem schutzberechtigten Familienangehörigen abgeleiteten internationalen Familienschutzes. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG findet daher in Fällen des § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 bis 3 AsylG keine Anwendung (BVerwG, Urt. v. 17.11.2020 - 1 C 8.19, juris Rn. 17 ff. und Urt. v. 26.09.2024 - 1 C 11.23, juris Rn. 14). Die Kläger haben aber keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären  Schutzes aus abgeleitetem Recht gemäß § 26 Abs. 5 Satz 1 und Satz 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 AsylG. Denn ein Anspruch auf Zuerkennung abgeleiteten internationalen Schutzes zugunsten eines drittstaatsangehörigen Familienangehörigen scheidet aus, wenn das Kind, dem in Deutschland internationaler Schutz zuerkannt worden ist, – wie hier – in Deutschland geboren wurde (BVerwG, Urt. v. 15.11.2023 - 1 C 7.22, juris Rn. 12 ff.). [...]