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VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 21.05.2025 - 38 K 259/23 A - asyl.net: M33797
https://www.asyl.net/rsdb/m33797
Leitsatz:

Verfolgungssituation von LSBTIQ-Personen in Georgien:

1. LSBTIQ-Personen (Lesben, Schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche und queere Menschen) sind in Georgien Verfolgungshandlungen durch den georgischen Staat und durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt, gegen die sie zu schützen der georgische Staat nicht hinreichend willens oder in der Lage ist, und die in ihrer Kumulation eine gravierende Verletzung ihrer Menschenrechte und damit eine flüchtlings­relevante Verfolgung darstellen und dabei an einen Verfolgungsgrund anknüpfen, ohne dass eine interne Fluchtalternative besteht, so dass ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist (Rn. 22) (Rn. 23) (Rn. 25) (Rn. 32) (Rn. 45) (Rn. 53) (Rn. 54) (Rn. 58).

2. Die Stigmatisierungen und Diskriminierungen von LSBTIQ-Personen durch die georgische Öffentlichkeit sowie die ausgeübte physische und psychische Gewalt erreichen ein solches Maß, während die Aufklärung und Verfolgung dieser Taten durch den georgischen Staat gleichzeitig in einem nur derart geringen Umfang stattfindet, dass nicht nur von einzelnen Übergriffen und vereinzelten Schutzlücken, sondern zur Überzeugung der Kammer von einem systemischen Schutzproblem auszugehen ist (Rn. 46).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Georgien, homosexuell, LGBTI, lesbisch, soziale Gruppe, staatliche Verfolgung
Normen: AsylG § 3a, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3d
Auszüge:

[...]

17 I. Die Klägerin hat einen Anspruch darauf, dass ihr wegen einer ihr in Georgien wegen ihrer Homosexualität drohenden Verfolgung die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird. [...]

25 2. Homosexuelle – wie die Klägerin – und insgesamt LSBTIQ-Personen (Lesben, Schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche und queere Menschen; Orientierung an der von der Beauftragten der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt verwendeten Begriffsbestimmung) sind in Georgien Verfolgungshandlungen durch den georgischen Staat ausgesetzt.

26 Der Beklagten ist zwar dahingehend zuzustimmen, dass die Vornahme gleichgeschlechtlicher sexuellen Handlungen in Georgien nicht unter Strafe steht (siehe nur Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl [BFA], Länderinformation der Staatendokumentation: Georgien, 7. Februar 2025, S. 36f.). Ein allein daraus gezogener Schluss, dass keine unmittelbaren staatlichen Verfolgungshandlungen vorliegen (so beispielsweise wohl VG Düsseldorf, Beschluss vom 15. April 2025 – 30 L 905/25.A –, juris Rn. 55f.), greift aber zu kurz. So unterliegen LSBTIQ-Personen – jedenfalls seitdem das Gesetzespaket zu Familienwerten und zum Schutz von Minderjährigen vom 17. September 2024 am 3. Oktober 2024 in Kraft getreten ist – in vielen Bereichen staatlichen Eingriffen oder zumindest gravierenden Einschränkungen. Dies haben sowohl die Bundesregierung als auch die Europäische Union öffentlich kritisiert (siehe beispielsweise BT-Drs. 20/13175, S. 40; Rat der Europäischen Union, Schlussfolgerungen vom 17. Dezember 2024 – 16983/24 –, S. 3).

27 Dieses Gesetzespaket zu Familienwerten und zum Schutz von Minderjährigen enthält ein Verbot der Darstellung von LSBTIQ-Beziehungen in den Medien und schränkt die "Propaganda" von gleichgeschlechtlichen Beziehungen in Fernsehsendungen, Büchern und Filmen ein, Rundfunkanstalten werden für die Verbreitung haftbar gemacht und die "propagierende" Berichterstattung unter Strafe gestellt (dazu Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [BAMF], Länderkurzinformation Georgien, SOGI [Sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität]: Situation von LGBTIQ-Personen, Februar 2025, S. 2; Coalition for Equality, The State of Right of Equality in Georgia 2024, S. 17f.; Reporter ohne Grenzen, Press Freedom and Journalist Safety in Peril, Rising Polarisation and a Climate of Fear – Findings of the Press Freedom Mission to Georgia, Oktober 2024, S. 4). Durch das Gesetzespaket wird Sendern ausdrücklich untersagt, Inhalte zu verbreiten, die "die Identifikation mit einem anderen als dem biologischen Geschlecht oder Beziehungen zwischen Personen desselben biologischen Geschlechts auf der Grundlage der sexuellen Orientierung fördern". Die vage Formulierung des Gesetzespakets gibt dabei Menschenrechtsorganisationen Anlass zur Sorge über mögliche Zensur und willkürliche Durchsetzung (vgl. Coalition for Equality, The State of Right of Equality in Georgia 2024, S. 17; Reporter ohne Grenzen, Findings of the Press Freedom Mission to Georgia, Oktober 2024, S. 4).

28 Ferner können LSBTIQ-Personen nicht von der grundsätzlichen Gewährleistung der Versammlungsfreiheit in der georgischen Verfassung (s. nur BFA, Länderinformation der Staatendokumentation: Georgien, 7. Februar 2025, S. 24) profitieren. Das Versammlungsrecht sexueller Minderheiten wird selten geschützt (Freedom House, Freedom in the World 2024 – Georgia, S. 11) und deren Versammlungsfreiheit ist nicht gewährleistet (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Georgien [Lagebericht Georgien 2023] vom 26. Mai 2023, Stand: April 2023, S. 8; vgl. auch U.S. Department of State [USDOS], Georgia 2023 Human Rights Report, S. 59). Nachdem die Kundgebung Tblisi Pride bereits im Jahr 2021 von gewalttätigen Ausschreitungen und tätlichen Übergriffen betroffen war (siehe dazu etwa bereits VG Berlin, Urteil vom 1. April 2022 – VG 38 K 467/20 A –, juris Rn. 33), konnte sie im Jahr 2023 zwar stattfinden, sah sich jedoch wiederum mit Gewalt konfrontiert. Am 8. Juli 2023 durchbrachen gewalttätige Gruppen die Polizeiabsperrung der Tblisi Pride. Die Veranstaltung wurde gestört und es folgten Plünderungen, wogegen die Behörden nicht die erforderlichen Maßnahmen ergriffen (USDOS, Ge-orgia 2023 Human Rights Report, S. 59 f.; UN Special Rapporteur on the situation of human rights defenders, Visit to Georgia, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights defenders, 6. März 2024, S. 9; s. auch Public Defender of Georgia, 2023 Special Report on Combating and Preventing Discrimination and the Situation of Equality, S. 12f.). Mit der Verabschiedung des Gesetzespakets zu Familienwerten und zum Schutz von Minderjährigen verschärften sich die Einschränkungen im Bereich der Versammlungsfreiheit für sexuelle Minderheiten weiter (BAMF, Länderkurzinformation Georgien, SOGI, Februar 2025, S. 1). Das Gesetzespaket umfasst ein Verbot öffentlicher Befürwortung von LSBTIQ-Beziehungen und -Personen beispielsweise durch LSBTIQ-Demonstrationen wie den Christopher Street Day (BAMF, Länderkurzinformation Georgien, SOGI, Februar 2025, S. 2; Coalition for Equality, The State of Right of Equality in Georgia 2024, S. 17). Für das Jahr 2024 verzichtete die Organisation der Tblisi Pride gänzlich auf Veranstaltungen in Präsenz während des Pride Monats und führte zur Begründung Bedenken wegen möglicher Gewalt und nach der Einführung des Gesetzespakets verstärkte Hassrede an (Human Rights Watch, Georgia Events of 2024, S. 4; ILGA,
Annual Review of the Human Rights Situation of Lesbian, Gay, Bisexual, Trans, and Intersex People, Covering the Period of January to December 2024, S. 2).

29 Im Bereich des Familienrechts folgen aus dem Gesetzespaket zu Familienwerten und zum Schutz von Minderjährigen massive Beschränkungen für LSBTIQ-Personen. Das darin enthaltene Verbot geschlechtsangleichender Behandlungen (siehe dazu im nachfolgenden Abschnitt) führt dazu, dass für Transgender-Personen Änderungen ihrer Geburtsurkunden und anderer rechtlicher Dokumente unmöglich geworden sind. Solche Änderungen setzten nach der gängigen Praxis vor Inkrafttreten des Gesetzespakets nämlich körperverändernde Eingriffe voraus (BAMF, Länderkurzinformation Georgien, SOGI, Februar 2025, S. 4; s. auch ILGA, Annual Review 2024, S. 3). Die Änderung des Geschlechts in offiziellen Dokumenten wurde zusätzlich verboten (Coalition for Equality, The State of Right of Equality in Georgia 2024, S. 16). Während die georgische Verfassung bereits seit dem Jahr 2018 die Ehe ausdrücklich als Verbindung von Mann und Frau definiert, wurden durch das Gesetzespaket auch alle anderen Formen rechtlicher Verbindungen gleichgeschlechtlicher Paare verboten, was auch eingetragene Lebensgemeinschaften einschließt (Coalition for Equality, The State of Right of Equality in Georgia 2024, S. 16). Dies führt auch dazu, dass im Ausland geschlossene gleichgeschlechtliche Ehen als unwirksam betrachtet werden (BAMF, Länderkurzinformation Georgien, SOGI, Februar 2025, S. 2). Das Gesetzespaket sieht zudem vor, dass die Adoption und Pflege von Minderjährigen nur heterosexuellen Personen erlaubt ist (ILGA, Annual Review 2024, S. 2).

30 Die schon bestehenden Schwierigkeiten von LSBTIQ-Personen, einen angemessenen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu erhalten (siehe Public Defender of Georgia, Report of the Public Defender of Georgia On the Situation of Protection of Human Rights and Freedoms in Georgia 2023, S. 157), haben sich durch die Verabschiedung des Gesetzespakets zu Familienwerten und zum Schutz von Minderjährigen weiter verschärft (vgl. Coalition for Equality, The State of Right of Equality in Georgia 2024, S. 16). Das Gesetzespaket verbietet unter anderem geschlechtsangleichende Behandlungen und sieht eine Haftstrafe von bis zu vier Jahren für Angehörige der Gesundheitsberufe vor, die eine transspezifische Gesundheitsversorgung anbieten (vgl. BAMF, Länderkurzinformation Georgien, SOGI, Februar 2025, S. 2 und 4; Commissioner for Human Rights [Europarat], Protect freedom of assembly and expression, ensure accountability for human rights violations and end stigmatisation of NGOs and LGBTI people, 24. Januar 2025, S. 2). Personen, die eine Hormontherapie oder andere transspezifische medizinische Unterstützung benötigen, wird durch das Gesetzespaket nun pauschal der Zugang zu jeglichen Dienstleistungen verweigert (vgl. Coalition for Equality, The State of Right of Equality in Georgia 2024, S. 16).

31 Auch im staatlich verantworteten Bildungsbereich führt das Gesetzespaket zu Familienwerten und zum Schutz von Minderjährigen zu erheblichen Einschränkungen für LSBTIQPersonen. Es klammert Fragen der sexuellen Orientierung und  Geschlechtsidentität aus dem Bildungsprozess bewusst aus, indem es zum Beispiel die Aufnahme damit in Zusammenhang stehender Themen in Lehrpläne und die Verbreitung solcher Informationen innerhalb von Bildungseinrichtungen strafbewehrt verbietet (Coalition for Equality, The State of Right of Equality in Georgia 2024, S. 16). Die Bestimmungen wurden unter anderem von der Venedig-Kommission des Europarats als diskriminierend eingestuft, da mit ihnen die Einschränkung der Aufklärung über Geschlecht und Sexualität einhergeht und Mobbing, Belästigungen sowie Gesundheitsrisiken Vorschub geleistet werde (zitiert nach ILGA, Annual Review 2024, S. 1: Europarat, Venice Commission Georgia opinion on the draft constitutional law on protecting family values and minors, 25. Juni 2024, S. 18). Hinzu kommt, dass die umfassenden Zensurmöglichkeiten in Kunst und Wissenschaft zur Selbstzensur führen und die Diskussionen über LSBTIQ-Identitäten in der Gesellschaft effektiv zum Schweigen bringen (Reporter ohne Grenzen, Findings of the Press Freedom Mission to Georgia, Oktober 2024, S. 4; ILGA, Annual Review 2024, S. 2). 

32 3. Nach der Überzeugung der Kammer ist die Klägerin zudem als Teil der LSBTIQ-Gemeinschaft bei einer Rückkehr nach Georgien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer zielgerichteten unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung durch die georgische Gesellschaft ausgesetzt. [...]

37 Entgegen der in der mündlichen Verhandlung von der Beklagten vertretenen Auffassung ist diese homophobe Grundhaltung in der gesamten Bevölkerung Georgiens verbreitet und nicht auf einen kleinen Kreis Rechtsextremer beschränkt. Dem Vertreter der Beklagten ist lediglich insoweit zuzustimmen, dass von Radikalen und Gewalttätigen eine erhöhte Gefahr ausgeht, insbesondere was die Ausübung physischer Gewalt betrifft (siehe dazu BAMF, Länderkurzinformation Georgien, SOGI, Februar 2025, S. 3; Public Defender of Georgia, 2023 Special Report on Combating and Preventing Discrimination and the Situation of Equality, S. 11). Die ablehnende Grundhaltung ist aber nicht auf diese Gruppen beschränkt. [...]

39 b) Im Einzelnen führt diese homophobe Grundhaltung nach der vorliegenden aktuellen Erkenntnislage in nahezu allen Bereichen des täglichen Lebens zu zum Teil schwerwiegenden negativen Konsequenzen, mit denen LSBTIQ-Personen – wie die Klägerin  – umgehen müssen.

40 LSBTIQ-Personen sind in Georgien im erheblichen Umfang psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt (so auch VG Köln, Urteil vom 8. April 2025 – 14 K 6989/22.A –, juris S. 9-12). So sind sie Zielscheibe schwerer Gewalt (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation: Georgien, 7. Februar 2025, S. 37). Der Public Defender berichtet von körperlichen und verbalen Übergriffen, Schlägen und Todesdrohungen in untersuchten Fällen (Public Defender of Georgia, 2023 Special Report on Combating and Preventing Discrimination and the Situation of Equality, S. 20; ebenso USDOS, Georgia 2023 Human Rights Report, S. 57 f.). [...]

41 Den Erkenntnismitteln lässt sich in quantitativer Hinsicht nicht verlässlich entnehmen, in welchem Ausmaß es in Georgien zu physischer und psychischer Gewalt durch Privatpersonen und Gruppen gegen LSBTIQ-Personen wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität kommt, denn es stehen keine Zahlen zu Verfolgungsgeschehen und -dichte zur Verfügung (zur entsprechenden Problematik in früheren Jahren: VG Berlin, Urteil vom 21. November 2019 – VG 38 K 170.19 A –, juris Rn. 45; siehe ergänzend Auswärtiges Amt, Lagebericht Georgien 2025, S. 16: eine Statistik sei seit 2021 im Aufbau begriffen). Daraus lässt sich nach Ansicht der erkennenden Kammer indes nicht der Schluss ziehen, dass es nur – in möglicherweise zu vernachlässigenden – Einzelfällen zu physischer und psychischer Gewalt kommt. [...]

45 4. Nach der Erkenntnislage im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 S. 1 AsylG) ist der georgische Staat derzeit nicht willens und nicht in der Lage, Homo- und Transsexuelle wirksam vor der geschilderten Verfolgung durch die georgische Gesellschaft zu schützen (§ 3d Abs. 1 lit. a], Abs. 2 AsylG) (so auch VG Köln, Urteil vom 8. April 2025 – 14 K 6989/22.A –, juris S. 15-17; jedenfalls Zweifel anmeldend VG Meiningen, Beschluss vom 21. November 2024 – 2 E 1015/24 Me – asyl.net: M32941, S. 7; a.A. VG Düsseldorf, Beschluss vom 15. April 2025 – 30 L 905/25.A –, juris Rn. 58f., 72, 96ff.). [...]