Situation für LSBTIQ-Personen in Georgien:
1. LSBTIQ-Personen (Lesben, Schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche und queere Menschen) sind in Georgien Verfolgungshandlungen durch den georgischen Staat und durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt, gegen die sie zu schützen der georgische Staat nicht hinreichend willens oder in der Lage ist, und die in ihrer Kumulation eine gravierende Verletzung ihrer Menschenrechte und damit eine flüchtlingsrelevante Verfolgung darstellen und dabei an einen Verfolgungsgrund anknüpfen, ohne dass eine interne Fluchtalternative besteht, so dass ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist (Rn. 26).
2. Die Stigmatisierungen und Diskriminierungen von LSBTIQ-Personen durch die georgische Öffentlichkeit sowie die ausgeübte physische und psychische Gewalt erreichen ein solches Maß, während die Aufklärung und Verfolgung dieser Taten durch den georgischen Staat gleichzeitig in einem nur derart geringen Umfang stattfindet, dass nicht nur von einzelnen Übergriffen und vereinzelten Schutzlücken, sondern zur Überzeugung der Kammer von einem systemischen Schutzproblem auszugehen ist (Rn. 47).
3. Aufgrund der aktuellen Entwicklungen in Georgien in den vergangenen Jahren ist die Kammer davon überzeugt, dass LSBTIQ-Personen in Georgien einer mittelbaren staatlichen Verfolgung dergestalt ausgesetzt sind, dass durch den georgischen Staat gezielt ein gesellschaftliches Klima geschaffen wird, das eine systematische Ausgrenzung und Übergriffe von Verfolgungsintensität begünstigt, und sie daher als Asylberechtigte anzuerkennen sind (Rn. 64).
4. Eine auf § 29a AsylG gestützte Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet ist zwingende Tatbestandsvoraussetzung für das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 7 S. 1 Nr. 1 AufenthG. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Bundesamt grundsätzlich von der Einstufung eines Landes als sicherer Herkunftsstaat ausgeht und ob diese Einstufung mit höherrangigem Recht vereinbar ist; vielmehr ist entscheidend, ob das Bundesamt mit dem angefochtenen Bescheid den konkreten Asylantrag der rechtsschutzsuchenden Person aufgrund dieser Einstufung als offensichtlich unbegründet im Sinne von § 29a AsylG abgelehnt hat (Rn. 70).
(Amtliche Leitsätze)
[...]
17 I. Die klagende Person hat einen Anspruch darauf, dass ihr wegen einer ihr in Georgien wegen ihrer Homo- bzw. Transsexualität drohenden Verfolgung die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird. [...]
26 2. Homo- bzw. Transsexuelle – wie die klagende Person – und insgesamt LSBTIQ-Personen (Lesben, Schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche und queere Menschen; Orientierung an der von der Beauftragten der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt verwendeten Begriffsbestimmung) sind in Georgien Verfolgungshandlungen durch den georgischen Staat ausgesetzt. [...]
46 4. Nach der Erkenntnislage im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 S. 1 AsylG) ist der georgische Staat derzeit nicht willens und nicht in der Lage, Homo- und Transsexuelle wirksam vor der geschilderten Verfolgung durch die georgische Gesellschaft zu schützen (§ 3d Abs. 1 lit. a], Abs. 2 AsylG) (so auch VG Köln, Urteil vom 8. April 2025 – 14 K 6989/22.A –, juris S. 15-17; jedenfalls Zweifel anmeldend VG Meiningen, Beschluss vom 21. November 2024 – 2 E 1015/24 Me – asyl.net: M32941, S. 7; a.A. VG Düsseldorf, Beschluss vom 15. April 2025 – 30 L 905/25.A –, juris Rn. 58f., 72, 96ff.).
47 Einzelne geschilderte Übergriffe gegenüber Homo- und Transsexuellen belegen zwar grundsätzlich nicht die Schutzunwilligkeit bzw. Schutzunfähigkeit des Staates (vgl. BayVGH, Beschluss vom 23. November 2017 – 9 ZB 17.30302 –, juris Rn. 4; siehe auch
Sächs. OVG, Beschluss vom 20. Januar 2022 – 3 A 636/21.A –, juris Rn. 19). Auch das Fortbestehen vereinzelter Verfolgungshandlungen und damit einhergehende gewisse Schutzlücken schließen die Wirksamkeit des Schutzes nicht grundsätzlich aus (VGH Baden- Württemberg, Urteil vom 7. März 2013 – A 9 S 1873/12 –, juris Rn. 127; VG Berlin, Urteil vom 8. Januar 2025 – VG 17 K 248/23 A –, juris Rn. 44; VG Düsseldorf, Beschluss vom 15. April 2025 – 30 L 905/25.A –, juris Rn. 98f.; VG Köln, Urteil vom 19. Mai 2025 – 22 K 6422/23.A –, juris Rn. 72). Die Stigmatisierungen und Diskriminierungen von LSBTIQ- Personen durch die georgische Öffentlichkeit sowie die ausgeübte physische und psychische Gewalt erreichen aber ein solches Maß, während die Aufklärung und Verfolgung dieser Taten gleichzeitig in einem nur derart geringen Umfang stattfindet, dass nicht nur von einzelnen Übergriffen und vereinzelten Schutzlücken, sondern zur Überzeugung der Kammer von einem systemischen Schutzproblem auszugehen ist.
48 Zwar hatte der georgische Staat auch unter Führung der seit 2012 amtierenden Regierungspartei Georgischer Traum zunächst rechtliche Rahmenbedingungen zum Schutz von LSBTIQ-Personen geschaffen. So wurde eine nationale Strategie zum Schutz der Menschenrechte in Georgien für die Jahre 2014 bis 2020 verabschiedet, die unter anderem die Aufgabe beinhaltet hatte, Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität zu bekämpfen, und Aktionspläne geschaffen, die Maßnahmen zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte von LSBTIQ-Personen enthielten (dazu mit Nachweisen VG Berlin, Urteil vom 21. November 2019 – VG 38 K 170.19 A –, juris Rn. 67). Auf dieser Grundlage bestand zunächst die berechtigte Hoffnung, dass es lediglich noch etwas Zeit brauche, bis die eingeleiteten staatlichen Schritte vollumfänglich in allen Lebensbereichen griffen (siehe etwa VG Hannover, Urteil vom 18. Februar 2015 – 1 A 109/13 –, juris S. 9, 11, 11f.; ähnlich VG Chemnitz, Urteil vom 1. November 2017 – 1 K 3325/16.A –, juris S. 15; VG Berlin, Urteil vom 29. August 2019 – VG 31 K 597.17 A –, EA S. 5f.). Die anhaltende positive Entwicklung in Georgien fand Anerkennung und Berücksichtigung bei der Einstufung Georgiens als sicherer Herkunftsstaat durch die Bundesrepublik Deutschland (dazu BAMF, Länderkurzinformation Georgien, SOGI, Februar 2025, S. 1; siehe auch die Gesetzesbegründung BT-Drs. 20/862, S. 17f.) und bei der Verleihung des Status eines Beitrittskandidaten zur Europäischen Union (siehe beispielsweise Europäische Kommission, Georgia 2023 Report, SWD(2023) 697 final, 8. November 2023, S. 28f., 37f., 41).
49 Ob sich diese Hoffnung erfüllt hatte, wurde in der Folgezeit in der erstinstanzlichen Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt (verneinend VG Berlin, Urteil vom 21. November 2019 – VG 38 K 170.19 A –, juris Rn. 69ff.; VG Berlin, Beschluss vom 18. Oktober
2021 – VG 38 L 594/21 A –, juris Rn. 25ff.; VG Berlin, Urteil vom 1. April 2022 – VG 38 K 467/20 A –, juris Rn. 46ff.; ebenso VG Halle, Urteil vom 7. August 2023 – 5 A 374/22 Hai – asyl.net:m31795, S. 18ff.; VG Meiningen, Urteil vom 13. November 2023 – 2 K
1355/22 Me –, juris, S. 16ff.; bejahend VG Hamburg, Urteil vom 17. September 2020 – 17 A 5630/19 –, juris S. 13ff.; VG Potsdam, Urteil vom 16. Juli 2021, – VG 2 K 3159/18.A –, juris S. 16; VG Sigmaringen, Urteil vom 9. November 2021 – A 13 K 4977/18 –, juris S. 6; VG Dresden, Urteil vom 24. Mai 2022 – 7 K 1997/20.A –, juris S. 11; VG Greifswald, Urteil vom 12. Oktober 2022 – 6 A 898/20 HGW –, juris Rn. 25ff.; VG Trier, Urteil vom 18. Juni 2024 – 7 K 683/24.TR –, juris S. 11, 13ff.). Zu einer Beurteilung durch Oberverwaltungsgerichte in einem Berufungsverfahren kam es trotz zugelassener Berufungen (siehe unter anderem Sächs. OVG, Beschluss vom 15. März 2024 – 2 A 415/22.A –, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 6. Januar 2022 – OVG 12 N 190/21 –, – OVG 12 N 192/21 –, – OVG 12 N 205/21 –, – OVG 12 N 221/21 –, – OVG 12 N 239/21 – [Berufungsverfahren u.a. unter dem Aktenzeichen OVG 12 B 6/22]) nicht, weil die Beklagte in allen Berufungsverfahren auf Grund nicht näher benannter Umstände des Einzelfalles die klagenden Personen klaglos stellte. Nach der Rechtsprechung des (erst- und letztinstanzlich zuständigen) Schweizer Bundesverwaltungsgerichts war "der Wille der georgischen Behörden, Angehörige der LGBTI-Gemeinschaft gegen Übergriffe von privaten Drittpersonen wirksam zu schützen, mangelhaft" und "unternahmen die Behörden wenig oder nichts gegen die Diskriminierungen, die Belästigungen und die Gewalt gegen LGBTIPersonen" (Schweizer Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 22. Dezember 2023 – D- 7480/2018 –, Nr. 6.3., 6.4.3.; a.A. Österreichisches Bundesverwaltungsgericht, Entscheidung vom 31. Januar 2024 – W 215 2241567-1/29 E –, S. 76f., das von einer Verbesserung in den letzten Jahren ausgeht).
50 Jedenfalls seit den Entwicklungen in Georgien seit dem Frühjahr 2023 und verstärkt seit dem Frühjahr / Sommer 2024 sowie insbesondere seit In-Kraft-Treten des Gesetzespakets zu Familienwerten und zum Schutz von Minderjährigen im Oktober 2024 steht indessen nach Überzeugung der erkennenden Kammer fest, dass der georgische Staat nicht (länger) schutzbereit und -fähig ist (so auch VG Köln, Urteil vom 8. April 2025 – 14 K 6989/22.A –, juris, S. 15-17; zweifelnd VG Meiningen, Beschluss vom 21. November 2024 – 2 E 1015/24 Me – asyl.net:M32941, S. 7; a.A. und "noch" lediglich eine "besorgniserregende" Entwicklung hinsichtlich der staatlichen Schutzprogramme annehmend VG Düsseldorf, Beschluss vom 15. April 2025 – 30 L 905/25.A –, juris Rn. 58f., 72, 96ff.).
51 So haben in den letzten zwei Jahren die homophoben Äußerungen von hochrangigen Regierungsvertretern zugenommen (Europäische Kommission, Georgia 2024 Report, SWD(2024) 697 final, 30. Oktober 2024, S. 46). Ferner erwähnen die nationale Strategie zum Schutz der Menschenrechte 2023-2030 (Verabschiedung im März 2023) und der Aktionsplan 2024-26 (Verabschiedung im Dezember 2023) die Rechte von LSBTIQ-Personen nicht (Europäische Kommission, Georgia 2024 Report, 30. Oktober 2024, S. 46; Public Defender of Georgia, 2023 Special Report on Combating and Preventing Discrimination and the Situation of Equality, S. 11f.) – anders als die frühere Strategie und die vormaligen Aktionspläne, die gerade Grundlage für die Hoffnung auf staatlichen Schutz der Menschenrechte von LSBTIQ-Personen waren (siehe oben). Zudem hat der georgische Staat am 17. September 2024 das bereits mehrfach erwähnte Gesetzespaket zu Familienwerten und zum Schutz von Minderjährigen verabschiedet, das am 3. Oktober 2024 in Kraft getreten ist. Dieses enthält – wie oben dargestellt – in vielen Bereichen staatliche Eingriffe oder sieht zumindest gravierende Beschränkungen vor (siehe oben unter 2.). So wurde unter anderem das Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung, das im Jahr 2006 in das Arbeitsgesetz aufgenommenen und im Jahr 2023 erweitert worden war, durch das Gesetzespaket aufgehoben (vgl. Equality Movement, Report on LGBTQ+ Rights Violations in Georgia 2024, S. 9, dazu VG Köln, Urteil vom 8. April 2025 – 14 K 6989/22.A –, juris S. 7f.). Die georgische Regierung argumentierte, das Gesetzespaket sei notwendig, um die traditionellen moralischen Standards in Georgien zu schützen (BAMF, Länderkurzinformation Georgien, SOGI, Februar 2025, S. 2). Unter anderem in Folge der Verabschiedung dieses Gesetzespakets haben sich die Chancen Georgiens auf einen Beitritt zur Europäischen Union vermindert und der Beitrittsprozess ist faktisch gestoppt (BAMF, Länderkurzinformation Georgien, SOGI, Februar 2025, S. 2; siehe auch Europäische Kommission, Georgia 2024 Report, 30. Oktober 2024, S. 46). Hinsichtlich der Einstufung Georgiens als sicherer Herkunftsstaat wartet die Bundesregierung die Auswirkungen des Gesetzespakets auf die konkrete Rechtspraxis ab (Deutscher Bundestag, Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs, Plenarprotokoll 20/193, 16. Oktober 2024, S. 25197C, und Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs, BT-Drs. 21/19, 4. April 2025, S. 14).
52 Zur Überzeugung der erkennenden Kammer ist indes bereits jetzt auf der Grundlage der eingeführten Erkenntnismittel festzustellen, dass die Maßnahmen des georgischen Staates zum Schutz gegenüber LSBTIQ-Personen vor physischer und psychischer Gewalt (s.o. unter 3. b].) unzureichend sind, insbesondere bei der Reaktion auf Hassverbrechen (BAMF, Länderkurzinformation Georgien, SOGI, Februar 2025, S. 2, 5; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation: Georgien, 7. Februar 2025, S. 36f.; Public Defender of Georgia, 2023 Special Report on Combating and Preventing Discrimination and the Situation of Equality, S.12). Hassrede gegen LSBTIQ-Personen wird nicht wirksam untersucht oder strafrechtlich verfolgt (Europäische Kommission, Georgia 2024 Report, 30. Oktober 2024, S. 43). LSBTIQ-Personen haben sehr wenig Vertrauen in die Strafverfolgungsbehörden. Sie waren bereits in der Vergangenheit laut einem Bericht des Büros der Ombudsperson teilweise Demütigungen, Homophobie, Beschimpfungen oder Gleichgültigkeit ausgesetzt, wenn sie sich bei der Polizei über einen Gewaltvorfall beschweren, und das georgische Innenministerium versäume es, Polizeikräfte, die homophoberer Reaktionen beschuldigt werden, zur Rechenschaft zu ziehen (zitiert nach Schweizerische Flüchtlingshilfe, Georgien: LGBTQI+, 6. September 2023, S. 22). Nach aktuellen Berichten reagieren Polizei und andere Regierungsbeamte weiterhin "vereinzelt" bzw. "gelegentlich" nicht angemessen auf Fälle von Gewalt oder Belästigungen gegenüber LSBTIQ-Personen (siehe in unterschiedlichen Übersetzungen des amerikanischen Berichts BAMF, Länderkurzinformation Georgien, SOGI, Februar 2025, S. 3; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation: Georgien, 7. Februar 2025, S. 37; im Original USDOS, Georgia 2023 Human Rights Report, S. 57: "occasionally"). Schon diese "teilweise", "vereinzelte" bzw. "gelegentliche" unangemessene Behandlung führt dazu, dass drei von fünf LSBTIQ-Personen, die körperliche Gewalt erlebt hatten, bzw. mehr als vier von fünf Personen, die psychische Gewalt erlebt hatten, sich wegen ihres mangelnden Vertrauens in die Polizei und das Justizsystem weigern, die Polizei oder andere staatliche Stellen einzuschalten (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Georgien: LGBTQI+, 6. September 2023, S. 21 m.w.N.).
53 Soweit LSBTIQ-Personen zuvor Unterstützung durch nichtstaatliche Organisationen erfahren haben (siehe dazu m.w.N. BAMF, Länderkurzinformation Georgien, SOGI, Februar 2025, S. 5), ist diese durch den Erlass des Gesetzes über die Transparenz ausländischer Einflussnahme gefährdet. Aus Protest gegen das Gesetz und aus Sorge um die Folgen hat sich bisher keine der LSBTIQ-Nichtregierungsorganisationen als ausländischer Agent registrieren lassen bzw. haben diese ihre Tätigkeiten eingestellt (dazu Coalition for Equality, The State of Right of Equality in Georgia 2024, S. 10; ILGA, Annual Review 2024, S. 1). Die vage Formulierung der Vorschriften im Gesetzespaket zu Familienwerten und zum Schutz von Minderjährigen gibt zudem weiteren Anlass zur Sorge, dass Nichtregierungsorganisationen ihre Tätigkeit einstellen werden (siehe zur Entwicklung in der Russischen Föderation nach Erlass eines vergleichbaren Gesetzes im Dezember 2022: VG Potsdam, Urteil vom 24. Januar 2023 – 16 K 677/18.A –, juris Rn. 78). [...]