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VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 17.09.2025 - 38 L 324/25 A - asyl.net: M33800
https://www.asyl.net/rsdb/m33800
Leitsatz:

Einstufung Georgiens als sicheres Herkunftsland ist unionsrechtswidrig: 

1. Die Bestimmung Georgiens als sicherer Herkunftsstaat ist nicht mit Unionsrecht vereinbar und daher nicht anwendbar (Rn. 20).

2. Der Bestimmung Georgiens als sicherer Herkunftsstaat steht sowohl die Lage von LSBTIQ-Personen in Georgien als auch die Lage in den Regionen Abchasien und Südossetien entgegen (Rn. 24).

3. Das Unionsrecht steht nicht nur einer Regelung entgegen, bei der ausdrücklich nicht sicherere Landesteile von der Einstufung als sicherer Herkunftsstaat ausgenommen werden, sondern auch einer Regelung, bei der zwar der Herkunftsstaat insgesamt zu einem sicheren Herkunftsstaat bestimmt wurde, aber Teile seines Gebietes nicht sicher sind (Rn. 28).

4. Die Annahme einer fehlenden Asylrelevanz i.S.d. § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG (juris: AsylVfG 1992) ist nicht auf gänzlich asylfremdes Vorbringen beschränkt, sondern – auch nach der unionrechtlich bedingten Neufassung der Offensichtlichkeitsgründe – dann zu bejahen, wenn das Vorbringen der Schutzsuchenden zwar eine asylrechtliche Prüfung eröffnet, diese Prüfung aber ohne Ansehen der Glaubhaftigkeit des Vorbringens offensichtlich und zweifelsfrei zu dem Ergebnis führt, dass kein Schutz zu gewähren ist; dies ist insbesondere dann der Fall, wenn offenkundig Möglichkeiten des landesinternen Schutzes oder einer inländische Fluchtalternative (vgl. § 4 Abs. 3 AsylG (juris: AsylVfG 1992) i.V.m. § 3d und § 3e AsylG (juris: AsylVfG 1992)) bestehen und sich die Schutzsuchenden darauf verweisen lassen müssen (Rn. 33).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Georgien, sichere Herkunftsstaaten, offensichtlich unbegründet
Normen: AsylG § 29a, AsylG § 30 Abs. 1 Nr. 1, GG Art. 16a
Auszüge:

[...]

12 1. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Bundesamtes, den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Abs. 1 AsylG) bzw. des
subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 AsylG) als unbegründet abzulehnen. 

13 Für den Antragsteller wurden keine eigenständigen Asylgründe vorgetragen. Soweit er sich auf die von seinen Eltern geltend gemachten Gründe beruft, folgt daraus auch für ihn weder ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft noch auf subsidiären Schutz. [...]

17 2. Auch bestehen im Ergebnis keine ernstlichen Zweifel daran, dass der Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen ist. Zwar ist nach Ansicht der erkennenden Kammer die Einstufung Georgiens als sicherer Herkunftsstaat nicht mit höherrangigem Recht vereinbar, so dass § 29a AsylG als Rechtsgrundlage für den Offensichtlichkeitsausspruch – wie von der Antragsgegnerin vorrangig angenommen – nicht zur Anwendung kommen kann (dazu unter a]). Dies führt indes nicht zum Erfolg des Eilverfahrens, da vorliegend der Offensichtlichkeitsausspruch auf § 30 Abs. 1 AsylG gestützt werden kann (dazu unter b]).

18 a) Der Offensichtlichkeitsausspruch kann nicht auf § 29a Abs. 1 AsylG gestützt werden. [...]

24 (1) Der Bestimmung Georgiens als sicherer Herkunftsstaat steht bereits die Lage von LSBTIQ-Personen (Lesben, Schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche und queere  Menschen) in Georgien entgegen.

25 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union verwehrt Art. 37 Asylverfahrens-RL es einem Mitgliedstaat, einen Drittstaat als sicheren Herkunftsstaat zu bestimmen, der für bestimmte Personengruppen die in Anhang I der Richtlinie genannten materiellen Voraussetzungen für solch eine Bestimmung nicht erfüllt; es geht folglich darum, dass der Drittstaat im Allgemeinen für seine gesamte Bevölkerung sicher ist, nicht nur für einen Teil von ihr (EuGH, Urteile vom 1. August 2025 – C-758/24 –, NVwZ 2025, 1409, und – C-759/24 –, juris).

26 Das trifft auf Georgien nicht zu. Nach Auffassung der Kammer droht LSBTIQ-Personen Georgien eine – die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gebietende – Verfolgung (VG Berlin, Urteile vom 21. Mai 2025 – VG 38 K 96/25 A –, juris Rn. 26ff. und – VG 38 K 259/23 A –, juris Rn. 25ff., beide rechtskräftig; so auch VG Köln, Urteil vom 8. April 2025 – 14 K 6989/22.A –, juris, S. 9ff.; siehe ferner VG Meiningen, Beschluss vom 21. November 2024 – 2 E 1015/24 Me –, juris Rn. 25). Sie sind Verfolgungshandlungen durch den georgischen Staat und nichtstaatliche Akteure ausgesetzt, gegen die sie zu schützen der georgische Staat nicht hinreichend willens oder in der Lage ist, und die in ihrer Kumulation eine gravierende Verletzung ihrer Menschenrechte und damit eine flüchtlingsrelevante Verfolgung darstellen und dabei an einen Verfolgungsgrund anknüpfen, ohne dass eine interne Fluchtalternative besteht. Die Stigmatisierungen und Diskriminierungen von LSBTIQ-Personen durch die georgische Öffentlichkeit sowie die ausgeübte physische und psychische Gewalt erreichen ein solches Maß, während die Aufklärung und
Verfolgung dieser Taten gleichzeitig in einem nur derart geringen Umfang stattfindet, dass nicht nur von einzelnen Übergriffen und vereinzelten Schutzlücken, sondern zur Überzeugung der Kammer von einem systemischen Schutzproblem auszugehen ist (VG Berlin, Urteile vom 21. Mai 2025 – VG 38 K 96/25 A –, juris Rn. 47ff. und – VG 38 K 259/23 A –, juris Rn. 46ff.).

27 (2) Zudem schließt sich die Kammer der Rechtsprechung an, wonach das Unionsrecht der Einstufung Georgiens als sicherer Herkunftsstaat wegen der Lage in den Regionen Abchasien und
Südossetien entgegensteht (VG Berlin, Beschluss vom 11. März 2025 – VG 31 L 473/24 A –, juris Rn. 19; VG Lüneburg, Beschluss vom 3. April 2025 – 2 B 62/25 –, juris Rn. 14; VG Leipzig, Beschluss vom 16. Mai 2025 – 4 L 406/25.A –, juris Rn. 25ff.; Urteil vom 7. August 2025 – 4 K 1783/25.A –, juris Rn. 85ff.; VG Dresden, Beschluss vom 5. Juni 2025 – 7 L 592/25.A –, juris Rn. 23ff.; VG Chemnitz, Beschluss vom 6. Juni 2025 – 1 L 265/25.A –, juris Rn. 18; VG Karlsruhe, Beschluss vom 17. Juli 2025 – A 18 K 4138/25 –, juris Rn. 25; sowie VG Bayreuth, Beschluss vom 8. April 2025 – B 1 S7 25.30517 –, EA S. 6ff.; siehe auch Matthies, Asylmagazin 2024, 448 [448]; Pfersich, ZAR 2025, 191 / 194 [195]; Thym, NVwZ 2025, 1377 [1379]; a.A. VG Düsseldorf, Beschluss vom 15. April 2025 – 30 L 905/25.A –, juris Rn. 14ff.).

28 Der Europäische Gerichtshof hat Art. 37 Asylverfahrens-RL dahin ausgelegt, dass er der Bestimmung eines Drittstaats als sicherer Herkunftsstaat entgegensteht, wenn Teile seines Hoheitsgebiets die in Anhang I der Richtlinie genannten materiellen Voraussetzungen für eine solche Einstufung nicht erfüllen (EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2024 – C-406/22 –, juris Rn. 83). Hinsichtlich des Verständnisses dieser unionsrechtlichen Vorgabe schließt sich die Kammer den überzeugenden Ausführungen der übrigen Verwaltungsgerichte an (ausführlich etwa VG Leipzig, Beschluss vom 16. Mai 2025 – 4 L 406/25.A –, juris Rn. 29ff.; s. auch VG Berlin, Beschluss vom 11. März 2025 – VG 31 L 473/24 A –, juris Rn. 19). Danach steht das Unionsrecht nicht nur einer Regelung entgegen, bei der ausdrücklich nicht sicherere Landesteile von der Einstufung als sicherer Herkunftsstaat ausgenommen werden (so der Vorlagefall), sondern auch einer Regelung, bei der zwar der Herkunftsstaat insgesamt zu einem sicheren Herkunftsstaat bestimmt wurde, aber Teile seines Gebietes nicht sicher sind (ausführlich etwa VG Leipzig, Beschluss vom 16. Mai 2025 – 4 L 406/25.A –, juris Rn. 32ff.; Urteil vom 7. August 2025 – 4 K 1783/25.A –, juris Rn. 92ff.; s. auch VG Berlin, Beschluss vom 11. März 2025 – VG 31 L 473/24 A –, juris Rn. 19; VG Karlsruhe, Beschluss vom 17. Juli 2025 – A 18 K 4138/25 –, juris Rn. 25; a.A. Bundesregierung, Befragung im Deutschen Bundestag vom 16. Oktober 2025, Plenarprotokoll 20/193, Frage 2). 

29 Georgien ist wegen der Lage in den abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien nicht insgesamt sicher. Die Menschenrechtslage wird in den Regionen als prekär beschrieben. Der UN- Menschenrechtsrat verabschiedet jährlich eine Resolution, welche die große Besorgnis über die Menschenrechtslage in den separatistischen Gebieten ausdrückt mit besonderem Fokus auf die Umsetzung des Rückkehrrechts von Geflüchteten sowie der mangelnden Freizügigkeit und Diskriminierung aufgrund ethnischer Herkunft (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Georgien vom 10. Juni 2025 [Lagebericht Georgien 2025], S. 17; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Georgien vom 7. Februar 2025, S. 8; ausführlich zur Lage in den Regionen s. etwa VG Leipzig, Beschluss vom 16. Mai 2025 – 4 L 406/25.A –, juris Rn. 28). Soweit es in Satz 2 der Anlage I zur Asylverfahrens-RL heißt, dass bei der Beurteilung berücksichtigt werden müsse, inwieweit Schutz vor Verfolgung und Misshandlung geboten werde, ruft die Kammer in Erinnerung, dass der georgische Staat in Abchasien und Südossetien nicht in der Lage ist, Staatsgewalt auszuüben, er also keinerlei Einfluss auf die Geschehnisse dort hat (Auswärtiges Amt, Lagebericht Georgien 2025, S. 16). [...]

32 b) An der Rechtmäßigkeit des Offensichtlichkeitsausspruchs im Fall des Antragstellers bestehen unbeschadet des Vorstehenden im Ergebnis dennoch keine ernstlichen Zweifel, weil er jedenfalls mit Blick auf § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gerechtfertigt ist. Auf die Möglichkeit des Austausches des Offensichtlichkeitsgrundes wurde der Antragsteller mit der Eingangsverfügung hingewiesen, ohne dass er insoweit Einwendungen erhoben hat. Zudem wird in dem mit der Klage angefochtenen Bescheid zur Begründung des Offensichtlichkeitsausspruches ergänzend auf § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG hingewiesen.

33 Danach ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer im Asylverfahren nur Umstände vorgebracht hat, die für die Prüfung seines  Asylantrags nicht von Belang sind. Zur Auslegung des § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG schließt sich die Kammer der Ansicht an, dass die Annahme einer fehlenden Asylrelevanz nicht auf gänzlich asylfremdes Vorbringen beschränkt, sondern – auch nach der unionrechtlich bedingten Neufassung der Offensichtlichkeitsgründe – dann zu bejahen ist, wenn das Vorbringen der Schutzsuchenden zwar eine asylrechtliche Prüfung eröffnet, diese Prüfung aber ohne Ansehen der Glaubhaftigkeit des Vorbringens offensichtlich und zweifelsfrei zu dem Ergebnis führt, dass kein Schutz zu gewähren ist (siehe zu dieser vermittelnden Ansicht Schiebel/Schulz-Bredemeier, ZAR 2024, 267 [271] m.w.N.; sowie VG Karlsruhe, Beschluss vom 17. Juli 2025 – A 18 K 4138/25 –, juris Rn. 35 m.w.N.; VG Göttingen, Beschluss vom 9. Mai 2025 – 3 B 147/25 –, juris Rn. 24 m.w.N.; Dietz, NVwZ-RR 2025, 593 [594]; Heusch, in: Kluth/Heusch, BeckOK-AusländerR, 45. Ed., Stand: 01.07.2025, § 30 AsylG Rn. 16 m.w.N. auch zur Gegenansicht). Die Beschränkung des Offensichtlichkeitsgrundes auf die (wenigen) Fällen eines rein asylfremden Vorbringens ist dem Wortlaut des Art. 31 Abs. 8 lit. a) Asylverfahrens-RL nach nicht zwingend gefordert und das dargestellte weitere Verständnis stärkt die Wirkungskraft der Regelung (effet utile). Belanglosigkeit in diesem Sinne liegt insbesondere dann vor, wenn offenkundig Möglichkeiten des landesinternen Schutzes oder einer inländische Fluchtalternative (vgl. § 4 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 3d und § 3e AsylG) bestehen und sich die Schutzsuchenden darauf verweisen lassen müssen (VG Köln, Beschluss vom 20. Juni 2025 – 22 L 1052/25.A –, juris Rn. 18ff. m.w.N.;  Heusch, in: Kluth/Heusch, BeckOK-AusländerR, 45. Ed., Stand: 01.07.2025, § 30 AsylG Rn. 16 m.w.N. auch zur Gegenansicht).

34 Nach diesem Maßstab kommt dem Vorbringen des Antragstellers keine Asylrelevanz zu. Eigenständige Asylgründe macht er nicht geltend. Soweit er sich im gerichtlichen Verfahren auf die Asylgründe seiner Eltern bezieht, die in besonderer Weise für ihn als Minderjährigen gelten würden, eröffnet deren Vorbringen hinsichtlich einer von einer Privatpersonen ausgehenden Bedrohung der Familie zwar die asylrechtliche Prüfung. Diese Prüfung führt aber ohne Ansehen der Glaubhaftigkeit des Vorbringens offensichtlich zu dem Ergebnis, dass kein Schutz zu gewähren ist. Denn selbst unterstellt, alles hätte sich so zugetragen, wie von den Eltern berichtet, bedingt dies zweifelsfrei nicht die Zuerkennung des internationalen Schutzes. Die Familie wäre dann nämlich auf den schutzbereiten und -fähigen georgischen Staat und auf das Ergreifen einer internen Fluchtalternative zu verweisen (s. bereits oben unter 1.). Es ist auch nicht davon auszugehen, dass den Eltern des Antragstellers künftig (unanfechtbar) die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutz zuerkannt wird und sich daraus ein Anspruch auf Familienasyl des Antragstellers (§ 26 Abs, 5 i.V.m. Abs. 3 AsylG) ergibt, da deren Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, ohne dass dies rechtlichen Bedenken begegnet (siehe Beschluss vom 12. August 2024 – VG 38 L 243/24 A –). [...]