EuGH-Entscheidung zum Flüchtlingsschutz wegen Militärdienstverweigerung in Syrien

Der EuGH hat am 19. November 2020 zu mehreren Grundsatzfragen im Zusammenhang mit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für syrische Militärdienstverweigerer entschieden. Das VG Hannover hatte dem EuGH im März letzten Jahres hierzu verschiedene Fragen vorgelegt. Der Gerichtshof entschied nun, dass eine starke Vermutung dafür spreche, dass die Militärdienstverweigerung vom syrischen Staat als oppositioneller Akt ausgelegt werde. Diese Auslegung widerspricht der Entscheidungspraxis des BAMF sowie vieler deutscher Gerichte, die Betroffenen in vielen Fällen lediglich den subsidiären Schutzstatus zugesprochen hatten.

Bei der Vorlage des VG Hannover ging es um die Frage, unter welchen Umständen eine wegen Militärdienstentziehung drohende Verfolgung die Kriterien erfüllt, nach denen Flüchtlingsschutz zu gewähren ist. Dies kommt dann infrage, wenn eine drohende Bestrafung wegen Militärdienstentziehung an die politische Überzeugung des Betroffenen anknüpft. Umstritten war in vielen Asylverfahren, ob der syrische Staat Militärdienstverweigerern eine oppositionelle Haltung unterstellt und deswegen der Flüchtlingsschutz zu gewähren ist. Wurde die Frage verneint, bekamen die Betroffenen in der Regel nur den subsidiären Schutzstatus zugesprochen. Eine besondere Rolle spielt in Verfahren syrischer Schutzsuchender darüber hinaus die Regelung, dass der Flüchtlingsstatus bei einer Militärdienstentziehung auch infrage kommt, wenn dieser völkerrechtswidrige Handlungen umfassen würde. Zu den verschiedenen Aspekten dieses Themenkomplexes legte das VG Hannover dem EuGH fünf Fragen vor (M27109). Einige der wichtigsten Ausführungen des EuGH betrafen die folgenden Aspekte:

1. Keine Notwendigkeit einer "formalisierten Verweigerungshandlung"

Zunächst entschied der EuGH, dass es keine formalisierte Verweigerungshandlung braucht, um eine Verfolgungshandlung wegen der Verweigerung eines völkerrechtswidrigen Militärdienstes anzunehmen, wenn das Recht des Herkunftsstaates eine Möglichkeit der Verweigerung nicht vorsieht. In Syrien gibt es keine Möglichkeit der Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Unter Hinweis auf eine fehlende formalisierte Verweigerungshandlung hatten das BAMF und verschiedene Gerichte bisher den Kausalzusammenhang zwischen drohender Verfolgungshandlung und dem Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung verneint. Nach ihrer Auffassung, die der EuGH nun verwarf, wäre es für die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes notwendig gewesen, dass Betroffene die Verweigerung nach außen kundtun.

2. Mögliche Beteiligung an Kriegsverbrechen

Weiter entschied der EuGH, dass bei Ableistung eines Militärdienstes in einem von wiederholten und systematischen Kriegsverbrechen gekennzeichneten Konflikt anzunehmen sei, dass sich Betroffene unabhängig von dem konkreten Einsatzgebiet an solchen Verbrechen beteiligen müssten. Die Gefahr der Beteiligung an Kriegsverbrechen sei somit auch begründet, wenn das Einsatzgebiet zum Zeitpunkt der Verweigerungshandlung noch nicht feststehe. Hintergrund dieser Vorlagefrage war die EuGH-Entscheidung in der Rechtssache "Shepherd gegen Deutschland" (M22674), welche durch die nationale Rechtsprechung bisher so interpretiert wurde, dass es für die Annahme einer möglichen Beteiligung an Kriegsverbrechen nicht ausreiche, wenn "das Militär" insgesamt für solche Verbrechen verantwortlich sei, sondern nur wenn dies für die konkrete Einheit gelte.

3. Anknüpfung einer möglichen Verfolgung an die (unterstellte) politische Überzeugung

Die weiteren Fragen des VG Hannover betrafen die Verknüpfung von Verfolgungshandlungen und Verfolgungsgrund im Zusammenhang mit Art. 9 Abs. 2 Bst. e QRL. Hierzu stellte der EuGH nun klar, dass auch bei Vorliegen eines Regelbeispiels für eine Verfolgungshandlung (hier die Verweigerung eines völkerrechtswidrigem Militärdienstes) diese an einen Verfolgungsgrund anknüpfen muss. Hier können bei der Militärdienstverweigerung unter anderem die politische oder die religiöse Überzeugung sowie die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe infrage kommen. Zu fragen ist also danach, ob der syrische Staat davon ausgeht, dass die Militärdienstverweigerung aufgrund eines der genannten Eigenschaften oder Überzeugungen der betroffenen Person erfolgt ist. Der Gerichtshof führt aus, dass es hierzu einer genauen Prüfung durch die nationalen Behörden bedarf.

Der EuGH stellt in diesem Zusammenhang explizit fest, dass es nicht Sache der schutzsuchenden Person sein kann, den Beweis für die Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund zu erbringen, mit der sie aufgrund der Verweigerung des Militärdienstes rechnen muss. Dazu verweist der Gerichtshof auf Art. 4 der QualifikationsRL, der zwar Schutzsuchenden eine Darlegungspflicht hinsichtlich der Begründung ihres Schutzantrags auferlegt, gleichzeitig aber die Beweisnot Schutzsuchender anerkennt und sie beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen von einer Nachweispflicht befreit. Die Gründe für die Verweigerung des Militärdienstes seien insofern subjektive Gesichtspunktes des Schutzantrags, für die ein Beweis besonders schwer erbracht werden kann. Die nationalen Behörden müssen diese Verknüpfung prüfen, es spreche jedoch eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung in Zusammenhang mit einem der in Art. 10 QualifkationsRL genannten Verfolgungsgründe stehe.

Hierzu führt der EuGH aus, dass in einem Bürgerkrieg eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass unabhängig von der tatsächlichen Motivation des Betroffenen die Militärdienstverweigerung als Akt politischer Opposition ausgelegt wird. Dabei ist es nach den Vorgaben der QualifikationsRL unerheblich, ob die betroffene Person tatsächlich die entsprechende politische Überzeugung vertritt. Entscheidend ist allein, ob ihr diese vom verfolgenden Staat unterstellt wird.

Entscheidung des EuGH:

Ausführliche Entscheidungsbesprechungen:


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