EuGH stärkt Rechte von Asylsuchenden bei Asylfolgeanträgen

In einer Entscheidung von September 2021 hat der EuGH grundlegende Feststellungen zur Prüfung von Asylfolgeanträgen getroffen. Die Ausführungen des EuGH haben auch Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage.

Hinweis: diese Meldung wurde am 2.11.2021 sowie am 17.11.2021 um Auskünfte des BAMF zur Umsetzung der EuGH-Vorgaben ergänzt

Ausgangssituation und Vorlagefragen

Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „XY gegen Österreich“ (C-18/20, M29993) erging im Fall eines Schutzsuchenden aus dem Irak, der 2015 in Österreich erstmals einen Asylantrag gestellt hatte. Nachdem die Ablehnung seines Asylantrags und seines gerichtlichen Rechtsbehelfs hiergegen im Jahr 2018 rechtskräftig wurden, stellte der vom EuGH mit dem Pseudonym “XY“ bezeichnete irakische Staatsangehörige einen Asylfolgeantrag. Im Erstverfahren hatte er geltend gemacht, aufgrund des im Irak weiterhin herrschenden Krieges und seiner Weigerung, für schiitische Milizen zu kämpfen, um sein Leben fürchten zu müssen. Seinen Folgeantrag begründete er damit, homosexuell und aufgrund dessen im Irak bedroht zu sein. Im Erstverfahren habe er diesen wirklichen Grund für seinen Asylantrag nicht angegeben, da er auch in Österreich Verfolgung aufgrund seiner sexuellen Orientierung befürchtet habe. Erst später sei ihm klar geworden, dass diese Gefahr nicht bestünde.

Sein Folgeantrag wurde von der österreichischen Asylbehörde als unzulässig abgelehnt. In erster gerichtlicher Instanz wurde die Ablehnung vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt. Hiergegen legte “XY“ Revision ein. Der hierfür zuständige Verwaltungsgerichtshof befand, dass die Vorgaben der EU-Asylverfahrensrichtlinie möglicherweise österreichischen Regelungen entgegenstehen und legte daher die sich in diesem Verfahren ergebenden Fragen dem EuGH vor.

Der Verwaltungsgerichtshof hatte festgestellt, dass es nach österreichischem Recht keine spezifischen Bestimmungen zur Prüfung von Asylfolgeanträgen gibt, vielmehr richteten sich diese nach den allgemein für das Verwaltungsverfahren geltenden Regelungen. Diese sehen vor, dass das Vorbringen zur möglichen Änderung einer Entscheidung nach Eintritt der Rechtskraft grundsätzlich zurückzuweisen ist. Bei Asylfolgeanträgen könnten nach österreichischer Rechtsprechung nur solche Umstände berücksichtigt werden, die erst nach Erlass des rechtskräftigen Bescheids eintreten. Solche, die schon vorher gegeben waren, könnten lediglich zur Wiederaufnahme des früheren Verfahrens führen, und nur dann, wenn sie ohne Verschulden der antragstellenden Person nicht geltend gemacht wurden.

Die Asylverfahrensrichtlinie sieht vor, dass bei Folgeantragstellung zunächst in einem ersten Schritt geprüft wird, „ob neue Elemente oder Erkenntnisse […] zutage getreten oder […] vorgebracht worden sind“, die zum Anspruch auf Schutzzuerkennung führen könnten (Art. 40 Abs. 2 VerfRL). Bei Verneinung dieser Prüfung, kann der Folgeantrag als unzulässig abgelehnt werden (Art. 33 Abs. 2 Bst. d VerfRL); bei Bejahung ist ein erneutes Asylverfahren durchzuführen (Art. 40 Abs. 3 VerfRL). Fraglich für den österreichischen Verwaltungsgerichtshof war, ob nur Umstände, die nach rechtskräftigem Abschluss des Erstverfahrens neu eingetreten sind zur Eröffnung eines Asylfolgeverfahrens führen oder auch solche, die bereits vorher vorhanden waren, aber erst später geltend gemacht werden.

Der EuGH antwortete, dass ein Asylfolgeantrag auch auf letztere Umstände gestützt werden kann, also solche, die vor Abschluss des Erstverfahrens eingetreten sind, aber nicht geltend gemacht wurden. Dabei bezieht sich der Gerichtshof auf den Wortlaut der Richtlinie. „Elemente oder Erkenntnisse“ könnten insofern neu sein, als sie später „zutage getreten“ seien. Sie könnten aber auch dann als neu gelten, wenn sie zum ersten Mal „vorgebracht worden“ seien.

Daran anschließend stellte der Verwaltungsgerichtshof die Frage, ob in einem solchen Fall nach Art. 40 Abs. 3 VerfRL die Wiederaufnahme des abgeschlossenen Verfahrens ausreichend ist oder ob ein neues Verfahren eingeleitet werden muss. Der EuGH hält grundsätzlich auch die Wiederaufnahme des vorherigen Verfahrens für ausreichend, wenn die hierzu bestehenden nationalen Vorschriften mit den Vorgaben der VerfRL zur Prüfung von Asylanträgen im Einklang stehen (Kapitel II VerfRL).

Ausschlussfrist für Folgeanträge nicht mehr anwendbar

In diesem Zusammenhang weist der EuGH darauf hin, dass Ausschlussfristen für die Stellung eines Folgeantrags nicht zulässig sind. In Österreich ist gesetzlich eine zweiwöchige Frist für die Beantragung der Wiederaufnahme geregelt, ab dem Zeitpunkt, in dem die betroffene Person von dem Wiederaufnahmegrund Kenntnis erlangt. In Deutschland wird, ähnlich wie in Österreich, in § 71 AsylG zum Folgeantrag auf die allgemeinen Vorschriften des § 51 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) zum Wiederaufgreifen von Verwaltungsverfahren verwiesen. Hier gilt eine Frist von drei Monaten ab dem Zeitpunkt, in dem die betroffene Person Kenntnis vom Wiederaufnahmegrund erhalten hat.

Das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geht aufgrund des EuGH-Urteils inzwischen davon aus, dass die in § 51 Abs. 3 VwVfG geregelte Dreimonatsfrist zur Stellung eines Folgeantrags hinfällig geworden ist. Dies teilte ein Mitarbeiter des BAMF bei einer vom Bundesamt organisierten Fachtagung („Asylrecht in der Praxis“) am 7. Oktober 2021 mit. Die relevanten Auszüge aus der Präsentation des BAMF wurden auf der Website berlin-hilft.com veröffentlicht. Auch gegenüber Pro Asyl hat das BAMF in einer E-Mail vom 5. November 2021 mitgeteilt, dass es "die Ausschlussfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG [...] nicht mehr anwenden" wird. Weiterhin kann in diesem Zusammenhang auf eine aktuelle Entscheidung des VG Schleswig-Holstein verwiesen werden: Darin hat das VG festgestellt, dass die „nationale Fristgebundenheit bei Folgeanträgen [...] dem Unionsrecht entgegen[steht]“ (VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 23.9.2021 – 13 A 196/21 – M30121).

Berücksichtigung neuer Elemente und Erkenntnisse

In seinen Vorlagefragen an den EuGH bezog sich der österreichische Verwaltungsgerichtshof schließlich auf die Regelung des Art. 40 Abs. 4 VerfRL. Demnach können EU-Mitgliedstaaten vorsehen, dass Folgeanträge nur auf Umstände gestützt werden können, die unverschuldet im früheren Verfahren nicht geltend gemacht werden konnten. Er fragte, ob das im Erstverfahren verschuldet unterlassene Vorbringen beim Folgeantrag auch nach den allgemeinen Verwaltungsvorschriften ausgeschlossen werden darf, wenn im nationalen Recht keine Sondernorm zur Umsetzung der Richtlinienbestimmung erlassen wurde. Der EuGH führte hierzu aus, dass die Bestimmung des Art. 40 Abs. 4 VerfRL nicht unbedingt ist, da ihre Wirkung von spezifischen nationalen Umsetzungsvorschriften abhänge. Daher habe sie keine unmittelbare Wirkung und könne keine Verpflichtung für Einzelpersonen begründen. Wenn also ein Mitgliedstaat keine Sondernormen zur Umsetzung von Art. 40 Abs. 4 erlassen habe, dann könne er nicht nach seinen allgemeinen verwaltungsrechtlichen Vorschriften die Folgeantragsprüfung ablehnen, weil die antragstellende Person ihren Folgeantrag auf Umstände stützt, die sie verschuldet im Erstverfahren nicht vorgebracht hat.

Mit diesen Ausführungen hat der EuGH die österreichische Rechtslage eindeutig als europarechtswidrig bezeichnet: In Österreich ist allein im Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz geregelt, dass ein Antrag auf Wiederaufgreifen nur dann zulässig ist, wenn die antragstellende Person ohne grobes Verschulden außerstande war, die Gründe im ersten Verfahren vorzutragen. Eine spezielle Norm im Asylverfahrensrecht fehlt hingegen.

Ob die Rechtsprechung des EuGH in diesem Punkt auch auf die deutsche Rechtslage übertragbar ist, ist offenbar schon jetzt strittig: In Deutschland wird im Asylgesetz (§ 71 AsylG) bei der Frage der Zulässigkeit von Folgeanträgen auf die allgemeinen Vorschriften des VwVfG verwiesen. Somit existiert also anders als in Österreich eine Regelung zur Zulässigkeit von Folgeanträgen. Allerdings besteht diese nur aus einem Verweis auf das allgemeine Verwaltungsverfahrensrecht – ob ein derartiger Verweis ausreicht, um die vom EuGH entwickelte Anforderung einer „Sondernorm“ zu erfüllen, ist fraglich.

Das BAMF geht jedenfalls davon aus, dass die deutsche Rechtslage hierzu auch nach der Entscheidung des EuGH richtlinienkonform ist, allerdings sieht es zugleich auch Anpassungsbedarf, wie sich aus der bei berlin-hilft.com zitierten Präsentation sowie aus der E-Mail des BAMF an Pro Asyl vom 5. November 2021 ergibt:

Demnach vertritt das BAMF nun die Rechtsauffassung, dass die Vorschrift des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG (nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage) "im Sinne des Artikel 40" der Verfahrensrichtlinie auszulegen ist. Im Rahmen dieser Auslegung solle nicht mehr die "nachträgliche Änderung der Sachlage" geprüft werden, sondern vielmehr die Frage, "ob neue Elemente oder Erkenntnisse [...] zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht" worden sind. Grundsätzlich können damit also künftig auch "neue Erkenntnisse" Berücksichtigung finden, die sich allein aus dem Vorbringen der Schutzsuchenden ergeben und nicht notwendigerweise aus einer nachträglichen Änderung der Sachlage.

Zugleich hält das Bundesamt aber offenbar daran fest, dass Gründe, die im Erstverfahren durch eigenes Verschulden der schutzsuchenden Person nicht vorgebracht wurden, nach wie vor nicht berücksichtigt werden müssen. Diese "Präklusion" neu vorgebrachter Elemente findet sich in Art. 40 Abs. 4 der Verfahrensrichtlinie, allerdings als Regelung, die für die Mitgliedstaaten optional ist ("Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass [...]"). Wenn ein Mitgliedstaat diese Regelung anwenden will, muss er diese also ausdrücklich in das nationale Recht überführen. Strittig könnte es hier nach der neuen Entscheidung des EuGH sein, ob die aktuelle Regelung im deutschen Recht (Verweis in § 71 AsylG auf § 51 Abs.1 bis 3 VwVfG) in ihrer jetzigen Form den Anforderungen einer richtlinienkonformen Umsetzung genügt.

Fazit

Die Entscheidung des EuGH hat somit bei der Frage der Ausschlussfrist für Folgeanträge bereits unmittelbare Auswirkungen auf die deutsche Praxis entfaltet. Auch im Bereich des Vorbringens neuer Erkenntnisse sieht das BAMF zumindest Anpassungsbedarf. Ob die deutsche Rechtslage hier tatsächlich vollständig richtlinienkonform ist, wird gegebenenfalls durch die Rechtsprechung zu klären sein.

 

Entscheidung des EuGH:


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