Rechtsprechungsübersicht: Schutzstatus afghanischer Asylsuchender nach Machtübernahme der Taliban

Mit dem Abzug der internationalen Streitkräfte und der Machtübernahme der Taliban hat sich die Lage in Afghanistan erheblich verändert. In vielen Asylverfahren stellt sich die Frage, welche Auswirkungen die aktuellen Entwicklungen auf den Schutzstatus hier lebender afghanischer Asylsuchender haben. Wir veröffentlichen nachfolgend eine Übersicht der aktuellen Rechtsprechung zu diesem Thema.

Hinweis: Die nachfolgende Meldung wurde am 16.12.2021 aktualisiert und um den Link zum Beitrag von Feneberg und Petterson im Verfassungsblog ergänzt.

In Hinblick auf die Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lassen sich noch keine klaren Linien erkennen. Zunächst hatte das BAMF die Asylverfahren von afghanischen Asylsuchenden nach eigenen Angaben „rückpriorisiert“ und damit de facto zeitweilig ausgesetzt. Laut BAMF wurde nur in solchen Fällen entschieden, in denen die Schutzbedarfe der Betroffenen unabhängig von der Taliban-Machtübernahme eindeutig vorlagen. Nunmehr hat das BAMF angekündigt, die Asylverfahren von afghanischen Schutzsuchenden wiederaufzunehmen und für seine Afghanistan-Entscheidungen die nunmehr veröffentlichten Leitlinien des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) heranzuziehen (siehe asyl.net Meldung vom 11.11.2021: Übersicht zu aktuellen Berichten über die Lage in Afghanistan).

Auch in laufenden Klageverfahren verwiesen Gerichte zuweilen auf die dynamische Situation und die derzeitigen Schwierigkeiten, die Lage in Afghanistan sicher zu beurteilen. Vermehrt wird jedoch in aktuellen gerichtlichen Entscheidungen mittlerweile Bezug auf die veränderte Sachlage genommen. Der folgende Beitrag soll einen ersten Überblick über die Auswirkungen der Entwicklungen in Afghanistan auf die Asylrechtsprechung geben, wobei der Zeitraum nach der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 in den Blick genommen wird.

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft

Mit der Machtübernahme der Taliban hat sich für verschiedene Personengruppen die Verfolgungsgefahr erheblich erhöht. Das VG Arnsberg (M30139) stellt hierzu fest, dass Personen, die sich journalistisch mit dem Ziel einer kritischen Berichterstattung betätigt haben, die sich für Menschenrechte eingesetzt haben oder die mit der afghanischen Regierung oder ausländischen Organisationen zusammengearbeitet haben, von Repression und Verfolgung durch die Taliban bedroht sind. Den Angaben der Taliban, man werde von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber diesen Personengruppen absehen, könne vor dem Hintergrund gegenteiliger medial dokumentierter Übergriffe nicht geglaubt werden.

Das VG Freiburg hat sich in mehreren Entscheidungen mit der aktuellen Entwicklung in Afghanistan auseinandergesetzt. So drohe Personen eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung, die nach ihren Wertvorstellungen, ihren politischen Überzeugungen, ihrer Sozialisierung und ihrem Erscheinungsbild nicht in der Lage wären, sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan an die dortigen Lebensverhältnisse anzupassen. Sie würden in den Verdacht geraten, „westliche“ Verhaltensweisen und Wertvorstellungen übernommen zu haben und sich damit in Widerspruch zu den radikal-fanatisch religiösen Vorstellungen zu setzen, die das von den Taliban ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan kennzeichnen. In der Folge wurde etwa unter dem Schlagwort der „Verwestlichung“ für einen afghanischen Mann (M30076) ebenso die Flüchtlingseigenschaft bejaht wie für eine alleinstehende Frau (M30176).

In Hinblick auf die in der Rechtsprechung schon zuvor bejahte Verfolgungsgefahr von afghanischen Personen, die zum Christentum konvertiert sind (siehe beispielhaft aus dem Jahr 2019 VG Potsdam, M27957), führt das VG Freiburg aus, dass sich die Lage durch die Machtübernahme der Taliban noch einmal verschärft habe (M30181). In einer weiteren Entscheidung des VG Freiburg (M30178), stellt das Gericht eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung für einen ehemaligen Angehörigen des afghanischen Militärs fest, der sich auf eine Verfolgung durch die Taliban berufen hatte. In dem Fall berücksichtigte das Gericht auch, dass Familienangehörige des Betroffenen aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit (Vater und Onkel für Polizei und Justiz tätig, Ehefrau berufstätig) in das Blickfeld der Taliban geraten waren. Zudem war es von einer Vorverfolgung der Betroffenen überzeugt, sodass abzuwarten bleibt, ob die Entscheidung auch auf die Angehörigen der afghanischen Armee übertragbar ist, die keine Vorverfolgung geltend machen.

Zuerkennung des subsidiären Schutzes

Bezüglich der Zuerkennung des subsidiären Schutzes herrschte in der Rechtsprechung der letzten Jahre größtenteils Einigkeit darüber, dass in Afghanistan zwar ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne des § 4 AsylG vorgelegen habe, sich jedoch das vom BVerwG vorausgesetzte besonders hohe Niveau willkürlicher Gewalt nicht feststellen ließ (siehe beispielhaft VGH Baden-Württemberg M26716, bejahend jedoch VG Stade M29887). Im Juni 2021 stellte der EuGH (M29696 mit Anmerkung, Asylmagazin 7-8/2021) jedoch klar, dass die in der deutschen Rechtsprechung vom BVerwG übernommene Berechnung einer „Mindestopferzahl“ zur Bestimmung des Niveaus willkürlicher Gewalt nicht ausreichend sei. Vielmehr ist laut EuGH eine umfassende Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmen (siehe auch asyl.net Meldung vom 23.6.2021: EuGH: „Mindestopferzahl“ nicht allein ausschlaggebend für Gefahrenprognose beim subsidiären Schutz). Unklar bleibt, welche konkreten Auswirkungen diese Klarstellung auf die durch die Rechtsprechung vorgenommen Bewertung des Gefährdungsniveaus in Afghanistan hat.

In diesem Zusammenhang kommt es entscheidend darauf an, ob nach Einschätzung der Gerichte in Afghanistan noch ein (landesweiter) bewaffneter Konflikt herrscht. Dies verneint etwa das VG München in einer Entscheidung von Ende August (M30182). Hierbei verweist das Gericht explizit darauf, dass keine Kampfhandlungen mehr zwischen der (ehemaligen) Regierung und den Taliban stattfinden. Ungeachtet des fortwährenden Konfliktes zwischen der Gruppe des sogenannten Islamischen Staats und den Taliban liege somit eine ernsthafte Bedrohung des Lebens von Zivilpersonen nicht mit der notwendigen Gefahrendichte vor.

Feststellung von Abschiebungsverboten

Schon aufgrund der humanitären Auswirkungen der Covid-19-Pandemie stellten die Verwaltungsgerichte vermehrt Abschiebungsverbote für afghanische Schutzsuchende fest. Die konkrete Einteilung von Fallgruppen und die Bewertung der Lage erfolgten jedoch nicht einheitlich. So sah beispielsweise der VGH Baden-Württemberg Ende 2020 (M29309) die Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG auch bei alleinstehenden leistungsfähigen und erwachsenen Männern als erfüllt an, wenn keine besonderen begünstigenden Umstände, etwa ein zur Unterstützung fähiges soziales Netzwerk, vorliegen. Andere Gerichte verneinten hingegen bis zum Sommer 2021 für diese Personengruppe ein Abschiebungsverbot und verwiesen insbesondere auf das Vorliegen von Rückkehrhilfen im Falle einer freiwilligen Ausreise (siehe asyl.net Meldung vom 16.3.2021: Rechtsprechungsübersicht: Pandemiebedingte Gefahrenlage bei Rückkehr nach Afghanistan).

In der jüngeren Rechtsprechung wird nun vermehrt auf die Verschlechterung der wirtschaftlichen und humanitären Lage nach der Machtübernahme der Taliban hingewiewen. In der Folge stellten die Gerichte regelmäßig Abschiebungsverbote fest, wobei in einigen Fällen die bisherige Rechtsprechung der jeweiligen Kammer aufgegeben wurde. Beispielhaft führt das Verwaltungsgericht Cottbus (M30140) in einer Entscheidung aus, dass die Rückkehrhilfen im Falle einer freiwilligen Ausreise nicht mehr verfügbar seien. Somit könne, entgegen vorheriger Entscheidungen, nicht mehr davon ausgegangen werden, dass diese eine ausreichende Kompensation für die schwierige humanitäre Lage darstellen. Das VG Köln (M30112) kommt – anders als noch im Frühjahr – zu dem Schluss, dass auch eine besondere Leistungsfähigkeit, etwa eine gute berufliche Qualifikation, nicht mehr ausreichend sei, um eine Existenzsicherung zu gewährleisten. Das VG München (M30197) stellt in einer Entscheidung ein Abschiebungsverbot fest, obwohl der Kläger in Afghanistan über familiäre Bindungen verfügte. Es könne nicht sicher davon ausgegangen werden, dass die in Afghanistan verbliebene Großfamilie die Existenz des Betroffenen absichern würde. Vielmehr sei davon auszugehen, dass er auch innerhalb seiner Familie als „verwestlicht“ zurückgewiesen werde und zudem verurteilt werden würde, da er es nicht geschafft habe, sich in Europa eine Existenz aufzubauen.

Weitere Entscheidungen zu Abschiebungsverboten haben Valentin Feneberg und Paul Petterson in einem Beitrag für den Verfassungsblog ausgewertet (Link unten). Sie kommen ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die meisten Gerichte, die seit Mitte August Entscheidungen zu dieser Frage getroffen haben, vom Vorliegen von Abschiebungsverboten wegen der Verschlechterung der humanitären Lage ausgehen. Mehrheitlich werde dabei vertreten, dass für Personen, die nicht über besondere soziale Netzwerke oder finanzielle Ressourcen verfügten, die konkrete Gefahr der Verelendung bei einer Rückkehr bestehen würde. Auch einige Gerichte, die diese Gefahr zuvor nicht grundsätzlich gesehen hätten, hätten sich dieser Auffassung mittlerweile angeschlossen. Demgegenüber weisen die Autoren aber auch auf vereinzelte anderslautende Entscheidungen hin, in denen nicht von einer Verschlechterung der ökonomischen Lage ausgegangen werde oder in denen diese Frage gar nicht thematisiert werde. Feneberg und Petterson kritisieren in diesem Zusammenhang generell die unsystematische Veröffentlichungspraxis und die häufig intransparente Bewertung von Gefährdungslagen durch die Gerichte.

Asylfolge- und -zweitanträge

Viele afghanische Schutzsuchende haben in der Bundesrepublik oder einem anderen Mitgliedstaat der EU bereits erfolglos ein Asylverfahren abgeschlossen und stellen sich nunmehr die Frage, ob die Veränderungen in Afghanistan einen Anspruch auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens begründen.

Grundsätzlich wäre es ihnen möglich, auch weiterhin noch einen Folgeantrag zu stellen, obwohl die Machtergreifung der Taliban nunmehr mehrere Monate zurückliegt. Inzwischen ist geklärt, dass die bisher in Deutschland gesetzlich vorgesehene Antragstellungsfrist von drei Monaten ab Kenntnis des Wiederaufnahmegrundes europarechtswidrig ist (siehe EuGH M29993, asyl.net Meldung vom 28.10.2021: EuGH stärkt Rechte von Asylsuchenden bei Asylfolgeanträgen).

Es liegen bereits einige Entscheidungen vor, die aufgrund der Machtübernahme der Taliban vom Vorliegen von Wiederaufnahmegründen bei zuvor negativ abgeschlossenen Asylverfahren afghanischer Schutzsuchender ausgehen. So stellt das VG Düsseldorf in einem Urteil von Oktober 2021 fest, dass der Betroffene einen Anspruch auf ein weiteres Asylverfahren hat (M30115). Die Machtübernahme der Taliban stelle grundsätzlich eine Änderung der Sachlage im Sinne von § 51 Abs. 1 VwVfG dar, die nach § 71 Abs. 1 AsylG die Stellung eines Asylfolgeantrags rechtfertige. Dies gelte jedenfalls dann, wenn es in Bezug auf die individuellen Asylgründe möglich erscheint, dass aufgrund der Machtübernahme der Taliban im Ergebnis eine günstigere Sachentscheidung zu treffen wäre, was das VG im vorliegenden Fall bejaht. Laut dem Gericht können zusätzlich zu den im Verwaltungsverfahren vorgetragenen Gründen im gerichtlichen Klageverfahren neue und eigenständige Begründungsansätze für das Folgeantragsbegehren vorgetragen werden, die jeweils an den Maßstäben des § 51 Abs. 1 bis Abs. 3 VwVfG zu messen sind. Dabei bezieht sich das Gericht jedoch nicht auf die obige EuGH-Entscheidung, in der der Gerichtshof auch die Frage beantwortet hatte, welche Umstände als neue Erkenntnisse i.S.v. Art. 40 VerfRL anzusehen sind, die ein Folgeverfahren rechtfertigen. Auch bezüglich der Antragsfrist orientiert sich das VG nicht am EuGH, sondern stellt Überlegungen an dazu, welches der vielen Ereignisse in Afghanistan als fristauslösend gesehen werden könnte und dass es aufgrund der „offenkundigen, massiven und täglichen Veränderungen in Afghanistan […] bloße Förmelei“ wäre den Betroffenen auf die Benennung eines solchen Ereignisses zu verweisen.

Das OVG Rheinland-Pfalz hat in einem Verfahren im November 2021 deutlich gemacht, dass die Machtübernahme der Taliban eine Änderung der Sachlage im Sinne von § 51 Abs. 3 VwVfG darstellt, die die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens rechtfertigt. Hintergrund der Entscheidung ist ein Asylzweitantragsverfahren. Nachdem das BAMF den Antrag als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nach Afghanistan angedroht hatte, wandte der Antragsteller sich an das VG Trier. Dieses lehnte sowohl den Eilrechtsschutzantrag als auch die Klage ab, wobei es den Vortrag zur Machtübernahme der Taliban nicht berücksichtigte. Das OVG Rheinland-Pfalz ließ nun die Berufung zu, da es aufgrund der fehlenden Berücksichtigung der Machtübernahme der Taliban in der Entscheidung des VG einen Gehörsverstoß feststellte (M30173). Das OVG ordnete zudem in einem weiteren Beschluss (M30174) die aufschiebende Wirkung der Klage an, da die Machtübernahme der Taliban eine Änderung der Sachlage darstelle, das Asylbegehren somit durch das BAMF inhaltlich zu prüfen und der die Ablehnung als unzulässig voraussichtlich rechtswidrig sei.

Somit haben die Gerichte die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens also auch schon nach der alten Rechtslage (vor der genannten Entscheidung des EuGH) als erfüllt angesehen. Es spricht Vieles dafür, dass nach der EuGH-Entscheidung noch in weiteren Fällen von der Zulässigkeit von Folgeanträgen auszugehen ist.


Hinweis

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