Rechtsprechungsübersicht: Niedrigere Leistungen für Alleinstehende in Sammelunterkünften verfassungswidrig?

Seit dem Jahr 2019 erhalten alleinstehende Asylsuchende, die in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind, geringere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Sozialgerichte halten die Regelung überwiegend für verfassungswidrig. Das SG Düsseldorf hat die Frage nun dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt.

Das „Dritte Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes“, welches als Teil des sogenannten Migrationspakets beschlossen wurde, führte unter anderem die Regelung ein, wonach alleinstehende erwachsene Personen, die in einer Sammelunterkunft untergebracht sind, in eine niedrigere Bedarfsstufe eingruppiert werden. Sie erhalten gegenüber Leistungsbeziehenden der Bedarfsstufe 1 (Alleinstehende außerhalb von Gemeinschaftsunterkünften) um etwa 10%reduzierte Leistungen. Dies ist sowohl bei Bezug von AsylbLG-Grundleistungen (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 Bst. b AsylbLG) als auch bei sogenannten Analogleistungen (§ 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG), also dem Bezug von SGB-Leistungen nach einem Aufenthalt von über 18 Monaten, vorgesehen. Begründet wurde diese Reduzierung damit, dass die Betroffenen aufgrund der gemeinsamen Unterbringung mit anderen Personen “Synergie- und Einspareffekte” bei der Haushaltsführung erzielen könnten. Als „Schicksalsgemeinschaft“ hätten sie sogar die „Obliegenheit“, gemeinsam zu wirtschaften (BT-Drs. 19/10052, S. 24 f.). Gegen die als „Zwangsverpartnerung“ heftig kritisierte Regelung wurden bereits während des eilig durchgeführten Gesetzgebungsverfahrens von Fachleuten verfassungsrechtliche Bedenken geäußert (so etwa die Stellungnahme der Caritas).

SG-Rechtsprechung: Herabstufung ist verfassungswidrig

Auch die uns vorliegende Rechtsprechung hält die Herabstufung überwiegend für verfassungswidrig. Mehrheitlich gehen die Sozialgerichte davon aus, dass ein Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 1 GG vorliegt. Zudem wird ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG angenommen.

Die Gerichte stützen sich hierbei zum einen darauf, dass keine empirischen Erkenntnisse darüber existierten, ob Personen, die in Sammelunterkünften untergebracht werden, durch gemeinsames Haushalten Einspareffekte erzielen könnten, die die Kürzungen rechtfertigen würden. Mit dieser Begründung gab als Erstes das SG Landshut (M27766) einem Eilrechtsantrag statt. Zudem sei nicht davon auszugehen, dass nicht miteinander verwandte Personen in einer Gemeinschaftsunterkunft die Voraussetzungen für die Annahme einer Bedarfsgemeinschaft erfüllten. So oder ähnlich argumentierten verschiedene weitere Sozialgerichte und gewährten Eilrechtsschutz gegen die Herabstufung (siehe asyl.net Meldung vom 25.2.2020).

LSG-Rechtsprechung: überwiegend verfassungsrechtliche Bedenken

In zwei frühen Entscheidungen von Landessozialgerichten wurde Eilrechtsschutz zunächst versagt. Das LSG Baden-Württemberg (M28196) und das LSG Berlin-Brandenburg (M28234) gingen beide davon aus, dass sie im Eilverfahren keine Leistungen zusprechen könnten, für die es im Gesetz keine Grundlage gebe. Sie prüften allerdings die Verfassungsmäßigkeit der Regelung im Eilverfahren gar nicht bzw. nur oberflächlich (siehe Anmerkung von David Werdermann, AM 5/2020).

Inzwischen liegen LSG-Entscheidungen vor, in denen Eilrechtsschutz gewährt wurde. Das LSG Sachsen befand die vermeintlichen Einspareffekte bei summarischer Prüfung als zweifelhaft und eine vorläufige Einstufung in die höhere Bedarfsstufe angesichts des verfassungsrechtlich gebotenen Existenzminimums für sachgerecht (M28323). Auch das LSG Mecklenburg-Vorpommern bejahte in zwei Entscheidungen die Eilbedürftigkeit, da es sich um nicht unerhebliche Kürzungen existenzsichernder Leistungen handle (M28511 und M29376). Es ist der Auffassung, dass „erhebliche Bedenken“ gegen die Verfassungsmäßigkeit der niedrigeren Einstufung bestehen und erachtet eine verfassungskonforme Auslegung für geboten: Im Rahmen dieser Auslegung müsse„als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal“ zusätzlich zum Gesetzeswortlaut verlangt werden, dass Betroffene im Einzelfall tatsächlich und nachweisbar ihren Haushalt gemeinsam mit anderen Personen führen. Die Beweislast hierfür trage die Behörde, die für die Leistungsgewährung zuständig sei.

Die verfassungskonforme Auslegung hält auch das LSG Hessen (M29534) für erforderlich, welches jüngst zu der Frage der Grundleistungsreduzierungen zu entscheiden hatte. Es weist darüber hinaus darauf hin, dass europäisches Recht zu beachten sei. Dieses gebiete bei Personen, die in den Anwendungsbereich der EU-Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU) fallen – darunter etwa Asylsuchende -  die Gewährung der höheren Bedarfsstufe.

Vorlage des SG Düsseldorf an das BVerfG

Am 13. April 2021 hat nun das SG Düsseldorf (M29541) ein Verfahren ausgesetzt und dem BVerfG die Frage vorgelegt, ob die Reduzierung von Analogleistungen nach § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG, soweit Alleinstehende betroffen sind, verfassungskonform ist. Das BVerfG wird gebeten, die gesetzliche Regelung im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG und dem Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG zu prüfen.

Anders als das LSG Mecklenburg-Vorpommern und das LSG Hessen ist das SG der Auffassung, dass keine verfassungskonforme Auslegung möglich sei. Ähnlich wie bereits andere Sozialgerichte meint es, dass allein durch die Gemeinschaftsunterbringung keine Einspareffekte erzielt werden können. Die Betroffenen lebten nicht freiwillig zusammen, es gebe kulturelle, sprachliche und religiöse Hürden, ein Näheverhältnis könne nicht vorausgesetzt werden. Zudem sei der Bedarf, bei dem ein größeres Einsparpotenzial gegeben wäre, wie etwa die Inneneinrichtung und der Hausrat, gar nicht von den fraglichen Leistungen umfasst. Die Ungleichbehandlung mit anderen Leistungsberechtigten, wie etwa Asylsuchenden, die außerhalb von Sammelunterkünften leben, mit SGB-Leistungsberechtigten oder mit Personen, die in Wohngemeinschaften leben, sei nicht nachvollziehbar begründet worden.

Die Vorlage des SG Düsseldorf basiert auf einer Mustervorlage der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF). Die zivilgesellschaftliche Organisation, die sich mit rechtlichen Mitteln für Grund- und Menschenrechte einsetzt, stellt Muster für unterschiedliche Fallkonstellationen der Reduzierung von AsylbLG-Leistungen bereit, um zügig Vorlagen zum BVerfG zu bewirken. Darüber hinaus stehen noch weitere Materialien zur Verfügung, wie etwa:


Hinweis

Aufgrund vielfältiger Gesetzesänderungen können einzelne Arbeitshilfen in Teilen nicht mehr aktuell sein. Wir bemühen uns, so schnell wie möglich eine aktualisierte Version zu verlinken. Bis dahin bitten wir Sie, auf das Datum der Publikation zu achten und zu überprüfen, ob die Informationen noch korrekt sind.

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