Die Entscheidungen des VG Berlin
Das Verwaltungsgericht Berlin hat am 2. Juni 2025 über drei Eilverfahren von Asylsuchenden entschieden, die an der deutsch-polnischen Grenze durch die Bundespolizei unmittelbar nach Polen zurückgewiesen wurden. Den Betroffenen ist demnach der Grenzübertritt in den deutschen Zuständigkeitsbereich vorläufig zu gestatten und ein Dublin-Verfahren ist einzuleiten. Das Verwaltungsgericht hat auf 22 Seiten ausführlich dargelegt, warum die Zurückweisung weder auf die Ausnahmevorschrift des Art. 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) noch auf § 18 Abs. 2 des Asylgesetzes (AsylG) gestützt werden kann.
Im Einzelnen: In den Beschlüssen zu einer mutmaßlich minderjährigen Somalierin (Beschluss vom 2.6.2025 – 6 L 191/25 – asyl.net: M33372) und zwei 19-jährigen Somaliern (Beschluss vom 2.6.2025 – 6 L 192/25 und 6 L 193/25, VIS Berlin - 6 L 192/25 - siehe auch die Links unten) wurde die Rechtmäßigkeit einer Zurückweisung an der deutsch-polnischen Grenze durch die Bundespolizei in vorläufigen Verfahren behandelt. Die Asylsuchenden versuchten jeweils am 9. Mai 2025 mit der Bahn von Polen aus nach Deutschland einzureisen. Bei einer Grenzkontrolle in Frankfurt (Oder) äußerten sie gegenüber der Bundespolizei ein Asylgesuch. Nach einer Anhörung zu der beabsichtigten Rückführung nach Polen wurde ihnen die Einreise durch Bescheid verweigert. Als Rechtsgrundlage wurde § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG angegeben, wonach eine Einreise verweigert werden kann, wenn die Einreise aus einem sicheren Drittstaat erfolgt.
Das Verwaltungsgericht hat entschieden, dass den Asylsuchenden der Grenzübertritt zu gestatten ist und ein Dublin-Verfahren einzuleiten ist.
Die Begründung des Gerichts
Die Begründung stützt das Gericht auf die folgenden Überlegungen: Der Anwendungsbereich der Drittstaatenregelung des § 18 AsylG sei zwar eröffnet, weil die Antragstellenden ein Asylgesuch geäußert haben und aus einem sicheren Drittstaat kamen. § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG sei aber aus zwei Gründen nicht anwendbar:
- Zum einen könne bei unionrechtskonformer Auslegung ein sicherer Drittstaat nur ein Staat sein kann, der nicht Mitgliedstaat der EU ist (so bereits BVerwG, Urteil vom 17.6.2020 - 1 C 35.19, ähnlich: 1 C 34.19, Asylmagazin 9/2020, S. 316 f., asyl.net: M28698; BVerwG vom 4.5.2020 – 1 C 7.19 – juris Rn. 19; BVerwG vom 21.4.2020 – 1 C 4.19 – asyl.net: M28609; und BVerwG, Beschluss vom 23.3.2017 – 1 C 20.16 – asyl.net: M25082).
- Zum anderen werde die Drittstaatenregelung vom Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt. Die Dublin-III-Verordnung, die das Verfahren zur Bestimmung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten regelt und ein Zuständigkeitsverfahren vor Erlass einer Rückführungsentscheidung vorsieht, sei vorrangig vor der nationalen Regelung des § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG anzuwenden. Sobald ein Asylgesuch geäußert werde – und zwar auch in Transitzonen und an der Grenze –, sei ein Dublinverfahren einzuleiten (Art. 20 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung, Art. 3 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-Verordnung).
Anwendungsvorrang der Dublin-III-Verordnung
Dabei komme es nur darauf an, ob die antragstellende Person sich im Hoheitsgebiet befinde, einschließlich der Grenz- und Transitzonen, und nicht auf die rechtliche Bewertung des Einreisevorgangs. Dies ergebe sich aus Art. 3 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-Verordnung. Ein Asylgesuch könne zudem, so das Gericht, auch in zulässiger Weise bei der Polizei oder dem Grenzschutz gestellt werden (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 Asylverfahrensrichtlinie), wenn die zuständige Behörde (hier das BAMF) auch über das Gesuch zuverlässig informiert werde.
Wurde auf Grundlage der Dublin-III-Verordnung ein Dublin-Verfahren eingeleitet, hat dies folgende Konsequenzen: Nach der Äußerung eines Asylgesuchs muss nach der Verordnung ein Verfahren zur Bestimmung des für das Asylverfahren zuständigen Mitgliedstaates eingeleitet werden, bevor eine Zurückweisung erfolgt. Wird ein anderer Mitgliedstaat als der, in dem das Asylgesuch geäußert wurde, für zuständig gehalten, so ist ein Verfahren nach Art. 21 ff. Dublin-III-Verordnung einzuleiten, um ein Aufnahmegesuch zu stellen. Erst nach der Zustimmung zur Aufnahme durch den Mitgliedstaat kann eine Überstellungsentscheidung erfolgen.
Die Anwendung der Dublin-III-Verordnung steht laut dem VG Berlin, dass sich hierzu auf Rechtsprechung des EuGH beruft, auch sonst nicht zur Disposition der einzelnen Mitgliedstaaten. Sie könne weder einfach außer Kraft gesetzt werden noch durch bilaterale Abkommen umgangen werden. Auch die Annahme einer Dysfunktionalität des europäischen Sekundärrechts in Bezug auf Migration und Grenzsicherung oder das unionsrechtswidrige Verhalten anderer Mitgliedstaaten könne keine Nichtanwendung der Verordnung begründen. Der Hinweis auf Rechtsverstöße anderer Mitgliedstaaten stelle keine Rechtfertigung für eigenes unionsrechtswidriges Verhalten dar. Zudem habe der EuGH festgestellt, dass auch ein "Massenzustrom" keine Suspendierung der Zuständigkeitsregelungen der Dublin-III-Verordnung bewirke (vgl. EuGH, Urteil vom 26.7.2017 – C-646/16 [Jafari] – asyl.net: M25273 und Urteil vom 19.11,2009 – C-118/07 – juris Rn. 48).
Nichtanwendbarkeit von Art. 72 AEUV
Die Nichtanwendung der Dublin-III-Verordnung könne schließlich auch nicht auf Art. 72 AEUV gestützt werden. Dieser Artikel lässt Ausnahmen von der Anwendbarkeit asylrechtlicher europäischer Bestimmungen bei Gefahren für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit zu. Im vorliegenden Fall könne sich Deutschland aber nicht auf diese Klausel berufen, denn es lasse sich nach ständiger Rechtsprechung des EuGH aus der Vorschrift kein „immanenter Vorbehalt ableiten, der jede Maßnahme, die im Interesse der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit getroffen wird, vom Anwendungsbereich des Unionsrechts ausnähme“. Die Anwendung des Art. 72 AEUV bedürfe zudem einer Darlegung konkreter Gründe für die Annahme einer tatsächlichen, gegenwärtigen und hinreichend erheblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Die öffentliche Sicherheit umfasse dabei sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats. Hierzu zählten etwa die Beeinträchtigung des Funktionierens staatlicher Einrichtungen und wichtiger öffentlicher Dienste, das Überleben der Bevölkerung, die Gefahr erheblicher Störungen der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker sowie Beeinträchtigungen militärischer Interessen. Allein aus der Nennung der Asylantragszahlen oder der Anzahl erfolgten Grenzübertritte lasse sich eine solche Gefahr nicht ableiten. Dieser Vortrag genüge den rechtlichen Anforderungen nicht, zumal nicht begründet worden sei, inwiefern sich die Asylantragszahlen auf die Sicherheit und Ordnung auswirkten und eine Gefahr für die Bevölkerung oder die staatlichen Institutionen vorliege. Außerdem sei nicht vorgetragen worden, inwiefern die Zurückweisung von Schutzsuchenden an den deutschen Grenzen dazu geeignet wäre, eine solche Gefahr abzuwenden.
Wenn Art. 72 AEUV nicht anwendbar sei, sei auf andere, im Europarecht geregelte Verfahren zurückzugreifen. Vorrangig anzuwenden sei danach Art. 33 Dublin-III-VO, der einen Mechanismus zur Frühwarnung, Vorsorge und Krisenbewältigung vorsehe, um den Druck und/oder die Probleme beim Funktionieren eines Asylsystems zu bewältigen und gleichzeitig den Schutz der Grundrechte von Schutzsuchenden gewährleiste. Weiter bestehe die Möglichkeit der Durchführung eines sogenannten Grenzverfahrens gemäß Art. 43 Abs. 1 der Asylverfahrensrichtlinie. Danach haben die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, Verfahren festzulegen, um auch an den Grenzen und in Transitzonen über die Zulässigkeit eines Asylantrages zu entscheiden, also ein Dublin-Verfahren einzuleiten und durchzuführen. Dass diese bestehenden sekundärrechtlichen Mechanismen ausgeschöpft worden seien, sei nicht ersichtlich.