EGMR, Urteil vom 23.7.2020, Nr. 40503/17, 42902/17, 43643/17 (Art. 3 EMRK, Art. 4 EMRK-Protokoll Nr. 4, Art. 13 EMRK)
In diesem Fall stellte der EGMR fest, dass die polnische Grenzpolizei bei der Zurückweisung einer Gruppe russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volkszugehörigkeit nach Belarus gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung, das Verbot der Kollektivausweisung sowie das Recht auf eine wirksame Beschwerde verstoßen hat. Dabei war zwischen den Beteiligten strittig, ob die Betroffenen überhaupt den Wunsch geäußert hatten, in Polen einen Asylantrag stellen zu wollen.
Die Entscheidung betrifft Personen, die zwischen 2016 und 2017 mehrfach – im Fall des Beschwerdeführenden M. K. sogar öfter als dreißigmal – versuchten, an den polnisch-belarussischen Grenzübergängen Terespol und Czeremca-Polowce nach Polen einzureisen. An der Grenze brachten sie gegenüber der Grenzpolizei vor, in Belarus keinen Zugang zu einem angemessenen Asylverfahren zu haben. Zudem gaben sie an, dass ihnen bei einer möglichen Rückführung in die Russische Föderation Folter oder andere Formen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung drohten. Die polnische Grenzpolizei verweigerte den Beschwerdeführenden die Einreise nach Polen und schob sie nach Belarus zurück. Nach den Angaben der Grenzpolizei hatten die Beschwerdeführenden kein Asylbegehren geäußert. Nach erneuten Versuchen der Grenzüberquerung wurden die Asylanträge einiger Betroffener an die polnische Behörden weitergeleitet.
Der Gerichtshof folgte dem Vortrag der Beschwerdeführenden, an der Grenze den Wunsch geäußert zu haben, einen Asylantrag stellen zu wollen. Er verweist in diesem Zusammenhang auf zahlreiche Berichte nationaler Menschenrechtsinstitutionen, NGOs und der Medien, wonach die Entgegennahme von Asylanträgen durch die polnische Grenzpolizei routinemäßig verweigert werde. Diese Praxis sei auch in Entscheidungen des obersten polnischen Verwaltungsgerichts dokumentiert, welches im fraglichen Zeitraum ebenfalls Unregelmäßigkeiten im Verfahren bei der Befragung von Personen an der betroffenen Grenze festgestellt hatte. Auch hätten die Beschwerdeführenden die Grenzübertrittsversuche durch die Vorlage zahlreicher Dokumente zu ihren Asylanträgen belegen können. Insofern schenkte der Gerichtshof der Argumentation der polnischen Regierung keinen Glauben.
Der Gerichtshof stellte fest, dass aufgrund der Verweigerung eines Verfahrens, in dem die Anträge der Beschwerdeführenden auf internationalen Schutz geprüft werden konnten, die Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK bestanden hätte. Durch die Zurückweisung der Betroffenen hätte die Gefahr der Kettenabschiebung in die Russische Föderation bestanden. Polen hätte prüfen müssen, ob die Asylanträge der Betroffenen von den belarussischen Behörden ernsthaft geprüft würden und ob eine mögliche Rückführung in die Russische Föderation einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellen könnte. Die Beschwerdeführenden seien dem tatsächlichen Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Folter ausgesetzt gewesen. Zudem hätte Polen den Betroffenen den Verbleib im Bereich der polnischen Gerichtsbarkeit erlauben müssen, um eine ordnungsgemäße Prüfung der Anträge durch eine zuständige inländische Behörde zu ermöglichen. Dies gelte unabhängig davon, ob die Betroffenen Dokumente bei sich gehabt hätten, die sie zum Überschreiten der polnischen Grenze berechtigt hätten.
Der EGMR stellte zudem eine Verletzung des Verbots der Kollektivausweisung nach Art. 4 EMRK-Protokoll Nr. 4 fest. Während des Grenzverfahrens seien die Erklärungen der Beschwerdeführenden bezüglich ihres Wunsches, internationalen Schutz zu beantragen, missachtet worden. Es sei zwar für jede Person eine Einzelentscheidung ergangen. In diesen seien aber die jeweils individuell vorgebrachten Fluchtgründe nicht richtig wiedergegeben worden. Einigen Betroffenen sei auch nicht gestattet worden, rechtlichen Beistand zu konsultieren oder der persönliche Zugang zu diesem sei verhindert worden, obwohl Anwält*innen an der Grenzkontrollstelle gewesen seien und gefordert hätten, ihre Mandant*innen zu treffen.
Die Betroffenen hätten sich zudem gesetzeskonform verhalten, indem sie versuchten, die Grenze auf legale Weise über einen offiziellen Grenzkontrollpunkt zu überqueren. Die Missachtung der individuellen Verfolgungsgründe sei somit nicht auf ihr eigenes Verhalten zurückzuführen.
Das Vorgehen der polnischen Grenzpolizei bestätige sich auch in unabhängigen Berichten über die Situation an den Kontrollpunkten. Die hier behandelten Fälle seien Beispiele einer umfassenderen staatlichen Politik der Einreiseverweigerung für Personen, die versuchten, über Belarus einzureisen. Die Berichte würden eine durchgängige Praxis beschreiben, nach der an der Grenze nur sehr kurze Interviews geführt würden, bei denen die Aussagen der Betroffenen zur Begründung ihrer Asylanträge missachtet würden. Diese würden lediglich in sehr kurzen offiziellen Notizen falsch wiedergegeben, um die Asylsuchenden als Wirtschaftsmigrant*innen ablehnen zu können.
Der Gerichtshof entschied hier anders als in der erst im März diesen Jahres gefällten Entscheidung Asady u. a. gg. die Slowakei (asyl.net: M28254) zur Zurückweisung afghanischer Schutzsuchender an der slowakisch-ukrainischen Grenze. In dem Verfahren war ebenfalls strittig gewesen, ob den Betroffenen individuell Gelegenheit zur Stellung von Asylanträgen gegeben wurde. Hier hatte der EGMR jedoch entschieden, dass keine Beweise dafür vorlägen, dass die Asylgesuche der Betroffenen ignoriert worden seien.
Zudem stellte der Gerichtshof auch eine Verletzung des Rechts auf wirksame Beschwerde aus Art. 13 in Verbindung mit Art. 3 EMRK und Art. 4 des EMRK-Protokolls Nr. 4 fest. Es fehle ein Rechtsbehelf mit automatisch aufschiebender Wirkung.
Zuletzt sei Polen auch nicht seinen Verpflichtungen nach Art. 34 EMRK nachgekommen, die wirksame Ausübung der EMRK nicht zu behindern. Denn es habe die vom EGMR nach Art. 39 der Verfahrensordnung EGMR aufgegebenen einstweiligen Maßnahmen nur mit erheblicher Verzögerung oder gar nicht erfüllt.
Der Gerichtshof sprach den Beschwerdeführenden Entschädigungen zu.
Urteil des EGMR vom 24.03.2020, Nr. 24917/15 (Art. Art. 4 EMRK-Protokoll Nr. 4, Art. 13 EMRK),
Link zur Entscheidung bei asyl.net: M28254
In diesem Fall stellte der EGMR fest, dass die slowakische Grenzpolizei bei der Zurückweisung einer Gruppe afghanischer Staatsangehöriger in die Ukraine nicht gegen das Verbot der Kollektivausweisung verstoßen hat, obwohl zwischen den Beteiligten umstritten ist, ob den Betroffenen individuell Gelegenheit zur Stellung von Asylanträgen gegeben wurde.
Das Urteil betrifft eine Gruppe von 19 afghanischen Männern, die im November 2014 mitten in der Nacht von der slowakischen Grenzpolizei zusammen mit 13 weiteren Landsleuten, versteckt in einem LKW aufgefunden wurden. Während ihre Landsleute (jeweils fünf Frauen und Männer und zwei Kinder) an ein Aufnahmezentrum für Asylsuchende weitergeleitet wurden, wurden die 19 Männer in eine Grenzpolizeistation gebracht.
Dort wurden sie laut der Protokolle der slowakischen Grenzpolizei am Morgen jeweils genau zehn Minuten lang durch zwei Polizeibeamt*innen befragt, für die Sprachmittlung ins Persische sei eine Person hinzugezogen worden. Allerdings weisen die Protokolle Überschneidungen auf, so dass hiernach dieselben Personen zeitgleich mehrere Interviews geführt haben sollen. Die Protokolle sind weitgehend gleichlautend: alle Befragten hätten angegeben, dass sie nicht verfolgt worden seien und dass sie nach Deutschland weiterreisen wollten. Allen Betroffenen gegenüber ergingen gleichlautende Bescheide, mit Ausweisungen in die Ukraine, die sie mit Signatur quittiert hatten. Am Abend desselben Tages wurden die Betroffenen in die Ukraine verbracht, wo sie in einer vorläufigen Abschiebungshafteinrichtung festgehalten wurden.
Die Beschwerdeführer machten einen Verstoß gegen das Verbot von Kollektivausweisungen nach Art. 4 EMRK-Protokoll Nr. 4 geltend. Zudem sahen sie sich in ihrem Recht auf wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK verletzt, da sie keine Möglichkeit gehabt hätten, gegen die Rückschiebung vorzugehen. So seien sie nicht ausreichend identifiziert worden. Nur wenige von ihnen seien angehört worden. Außerdem habe man sie zur Unterzeichnung von Dokumenten in Slowakisch, deren Inhalt ihnen unbekannt war, gebracht, indem ihnen mitgeteilt wurde, dass diese ihre Asylgesuche und Weiterleitung in eine Aufnahmeeinrichtung betreffen würden.
Der Gerichtshof verweist zunächst auf seine Rechtsprechung zu Art. 4 EMRK-Protokoll Nr. 4, Demnach sei nicht unbedingt in allen Fällen eine Anhörung durchzuführen und eine Ausweisung sei auch dann nicht kollektiv, wenn mehreren Personen gegenüber ähnliche Entscheidungen gefällt werden (Khlaifia u.a. gg. Italien, Urteil vom 15.12.2016).
Im vorliegenden Fall spekuliert der Gerichtshof, die Bescheide seien wohl deshalb gleichlautend, weil die Anhörungsprotokolle aller Betroffenen keine Anhaltspunkte für eine unmenschliche Behandlung, weder in der Ukraine noch anderweitig enthielten. In Bezug auf die Anhörungsprotokolle stellt der Gerichtshof zwar Unstimmigkeiten fest. Die Erklärung der slowakischen Regierung, dass die ausweislich der Protokolle zeitgleichen Befragungen tatsächlich nur Nachtzeit-bedingte Aufzeichnungsfehler seien, hält der Gerichtshof zwar für wenig plausibel. Es reiche aber nicht aus, um nachzuweisen, dass die Anhörungen überhaupt nicht stattgefunden hätten. Überdies seien solche nicht unbedingt erforderlich.
Der EGMR stellt zwar fest, dass es zwischen den Beteiligten umstritten ist, ob die Betroffenen überhaupt Asylanträge gestellt haben, bzw. stellen konnten. Beweise dafür, dass ihre Angaben falsch übersetzt worden wären und dass Asylgesuche ignoriert worden seien, lägen jedoch nicht vor.
Die laut EGMR zentrale Frage, ob den Betroffenen ausreichend Gelegenheit gegeben wurde, Gründe gegen die Zurückschiebung vorzubringen, bejaht der Gerichtshof. Dabei vermutet er, die kurze Dauer der Anhörungen sei wohl auf fehlende substanzielle Angaben der Betroffenen zurückzuführen. Auch im Verfahren vor dem EGMR sei nicht vorgebracht worden, dass den Betroffenen aufgrund der Zurückweisung EMRK-Verletzungen drohten. Darüber hinaus spreche die Aufnahme der weiteren 13 aufgegriffenen Personen ins Asylverfahren dafür, dass den 19 Männern ein solches nicht willkürlich verwehrt wurde. Insgesamt sei das Vorbringen der Betroffenen ausreichend individuell geprüft worden und es habe keine Kollektivausweisung stattgefunden.
Da laut EGMR keine Kollektivausweisung festgestellt werden konnte und keine Verletzung des Rechts auf Leben nach Art. 2 EMRK oder des Folterverbots nach Art. 3 EMRK vorgebracht worden sei, lehnte der Gerichtshof die geltend gemachte Verletzung von Art. 13 EMRK als offensichtlich unbegründet ab.
Anders als in dem stark kritisierten Urteil des EGMR in der Rechtssache N.D. und N.T. gg. Spanien (asyl.net: M28138) zu „Push-Backs“ aus der spanischen Exklave Melilla, welches die Große Kammer des Gerichtshofs einstimmig fällte, erging die hiesige Einzelkammerentscheidung mit nur einer knappen Mehrheit von vier gegen drei Stimmen. In dem abweichenden Votum wird insbesondere auf die Unterschiede zur Situation in Melilla hingewiesen. So seien hier nur 32 Personen aufgegriffen worden (im Gegensatz zu den Vielen, die den spanischen Grenzzaun zu überwinden versuchten), die keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dargestellt hätten. Zudem habe die Slowakei im Gegensatz zu Spanien keinen Zugang zu legalen Möglichkeit der Äußerung von Asylgesuchen an Grenzübergängen bereitgestellt. Laut abweichendem Votum wird bereut, dass die Mehrheitsentscheidung so gelesen werden könne, als würden Kollektivausweisungen gebilligt.
Wie auch beim N.D. und N.T. Urteil wird kritisiert, dass der Gerichtshof die tatsächliche Situation an den Grenzen ignoriere. Konkret wird bemängelt, dass der EGMR nicht gewillt ist die Schwierigkeiten zu berücksichtigen, die in der Praxis bestehen, Beweise für bestimmtes behördliches Vorbringen zu erbringen (http://eumigrationlawblog.eu/a-hole-of-unclear-dimensions-reading-nd-and-nt-v-spain/).
In diesem Urteil stellte die Große Kammer des Gerichtshofs fest, dass die Zurückschiebung ohne Verfahren (sogenanntes Push-Back) von zwei Personen rechtmäßig war. Sie hatten versucht, von Marokko in die spanische Exklave Melilla zu gelangen. Damit revidierte die Große Kammer eine frühere Entscheidung einer Kammer des EGMR (siehe unten, Entscheidung vom 3.10.2017).
Das Urteil betrifft zwei junge Männer, die am 13. August 2014 zusammen mit etwa 70 anderen Personen versucht hatten, über die Grenzzäune auf das spanische Territorium Melilla zu kommen. Einer der Betroffenen war im Jahr 2012 vor dem bewaffneten Konflikt in Mali geflohen, der andere stammt aus Côte d’Ivoire. Beim Versuch, die drei Grenzzäune der Exklave zu überwinden, wurden sie von der spanischen Guardia Civil aufgehalten, die sie marokkanischen Sicherheitskräften übergab. Diese trieben wiederum die Betroffenen gewaltsam nach Marokko zurück und verbrachten sie anschließend ins Landesinnere.
Mit Unterstützung des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und Brot für die Welt erhoben die Betroffenen 2015 Beschwerde vor dem EGMR und machten einen Verstoß gegen das Verbot von Kollektivausweisungen nach Art. 4 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK geltend. Auch sahen sie sich in ihrem Recht auf wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK verletzt, da sie keine Möglichkeit gehabt hätten, gegen die Rückschiebung vorzugehen. Aufgrund der Bedeutung des Verfahrens nahmen mehrere Drittbeteiligte Stellung (»third party interventions«), so etwa der Menschenrechtskommissar des Europarats und UNHCR. Amnesty International, der Europäische Flüchtlingsrat ECRE und weitere Organisationen beteiligten sich mit einer gemeinsamen Stellungnahme.
In seiner Entscheidung bestätigte die Große Kammer zunächst die vorhergehende Kammerentscheidung, dass die EMRK auf diese Fälle anwendbar ist. Die spanische Regierung hatte argumentiert, das im Gebiet der Grenzzäune eine Ausnahme von ihrer territorialen Zuständigkeit bestünde. Der Gerichtshof konnte aber auf dem Gebiet keine Einschränkung der effektiven Staatsgewalt Spaniens erkennen, weshalb die durch Art. 1 EMRK bestimmte staatliche Bindung an die in der EMRK gewährleisteten Rechte gelte. Unter Bezug auf seine Entscheidung vom 23.2.2012 in der Rechtssache Hirsi Jamaa und andere gegen Italien, in der es um die Zurückweisung auf hoher See ging (siehe Nachricht dazu auf migrationsrecht.net), betonte der EGMR, dass es kein Gebiet außerhalb des Rechts geben könne, in dem Migrant*innen ihre EMRK‑Rechte verwehrt werden könnten.
Im Hinblick auf das Verbot der Kollektivausweisung stellte der Gerichtshof fest, dass es für dessen Anwendung nicht darauf ankommt, ob es sich beim Vorgehen der spanischen Grenzschutzbehörden um eine Einreiseverweigerung oder eine Rückführung handelte, da die Ausweisung beides umfasse. Eine solche Ausweisung ist dann kollektiv, wenn sie gegenüber mehreren Personen ohne Berücksichtigung der individuellen Umstände erfolgt. Angesichts des sich aus Art. 3 EMRK ergebenden Zurückweisungsverbots (»Non-Refoulement«) ist dies laut Rechtsprechung des EGMR zu verhindern. In der früheren Kammerentscheidung hatte der EGMR festgestellt, dass in dem Fall eine verbotene Kollektivausweisung stattgefunden hat.
Auch die Große Kammer bestätigte nun, dass es zu keiner Identitätsfeststellung der einzelnen Personen gekommen war. Allerdings befand sie, dass die Betroffenen selbst schuld daran waren, dass keine individuelle Prüfung erfolgte, indem sie zusammen mit anderen versuchten, die Grenzzäune zu überwinden. Dabei betont der Gerichtshof vielfach in seinem Urteil, dass die Zäune unter Ausnutzung der großen Zahl von Personen und unter Gewaltanwendung »gestürmt« worden seien.
Laut EGMR hätten die Beschwerdeführer stattdessen zur Verfügung stehende legale Einreisewege nutzen können, nämlich insbesondere die Asylantragstellung an offiziellen spanischen Grenzübergängen. Den Einwänden der Beschwerdeführer und Drittbeteiligten, dass es tatsächlich keinen Zugang zu diesen Grenzposten gab, entgegnete der Gerichtshof, dass Spaniens Verantwortung hierfür nicht belegt worden sei. Berichten zufolge (unter anderem von UNHCR und dem Menschenrechtskommissar des Europarats) werden insbesondere Personen aus Sub-Sahara Afrika durch »racial profiling« und rigide Passkontrollen von der marokkanischen Polizei davon abgehalten, spanische Grenzübergänge zu erreichen. Der EGMR selbst beschäftigt sich in seinem Urteil ausführlich mit Statistiken zu Asylanträgen an einem nahegelegenen Grenzübergang, die bestätigen, dass dort über mehrere Jahre fast gar keine Asylanträge von Personen aus afrikanischen Staaten südlich der Sahara gestellt wurden. Er argumentiert aber, dass in dem Fall, dass der Zugang tatsächlich von Seiten Marokkos erschwert werde, Spanien keine Pflicht habe, Betroffene aus Marokko in seine eigene Zuständigkeit zu bringen. Seitens Spanien reiche es aus, an Grenzübergängen die Möglichkeit der Asylantragstellung zu bieten. In diesem Zusammenhang geht der Gerichtshof nicht darauf ein, dass sich die Betroffenen zum Zeitpunkt der Ausweisung bereits auf spanischem Boden befunden haben.
Abschließend betont der Gerichtshof, dass die staatliche Pflicht besteht, die Kontrolle externer Grenzen so zu gestalten, dass die Rechte Schutzsuchender angesichts des Zurückweisungsverbots gewährleistet werden und verweist konkret auf die Bereitstellung von Grenzübergängen, zu denen Zugang bestehen sollte.
Auch in Bezug auf das Recht auf wirksame Beschwerde konnte der EGMR keinen Verstoß feststellen. Er befand, dass der Mangel an einem Rechtsbehelf gegen die Ausweisung eine Folge des unrechtmäßigen Einreiseversuchs der Beschwerdeführer war.
Das Urteil wurde vehement kritisiert. Das ECCHR, welches die EGMR-Beschwerde initiiert hatte, sprach von einem »schweren Rückschlag für die Rechte von Flüchtenden und Migrant*innen« (ecchr.eu, Der Fall N.D. und N.T. gegen Spanien). Ein Bündnis europäischer Organisationen missbilligte das Urteil in einer gemeinsamen Erklärung und betonte, dass das Non-Refoulement‑Prinzip aufrecht erhalten werden müsse (abrufbar bei rav.de, Mitteilung vom 21.2020). Zum Teil wurde die Entscheidung als »Schock« für die effektive Gewährleistung von Menschenrechten an den europäischen Außengrenzen bezeichnet (verfassungsblog.de vom 14.2.2020). Der Gerichtshof habe unter anderem verkannt, dass das Verbot von Kollektivausweisungen unbedingt gilt und keine Einschränkung durch das Verhalten Betroffener erfahren kann. Pro Asyl kritisierte, dass der Gerichtshof die tatsächliche Situation an den Grenzen ignoriere (proasyl.de vom 14.2.2020). Zudem warnt die Organisation, dass ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen worden sei. Tatsächlich wird aktuell versucht, das Vorgehen Griechenlands an seinen Grenzen durch das EGMR-Urteil »N. D. und N. T.« zu rechtfertigen. In Bezug auf die Situation an der griechisch-türkischen Grenze wird jedoch auch klargestellt, das sich ein Verweis verbietet, insbesondere, da dort keine Einreisealternativen zur Verfügung stehen (verfassungsblog.de vom 4.3.2020).
In der Kritik wird mehrfach betont, dass die Entscheidung sich in widersprüchlicher Weise nur mit dem Kollektivausweisungs- und nicht dem Zurückweisungsverbot befasst habe. Dass der Gerichtshof dies nicht tat, liegt wohl vor allem daran, dass er die Beschwerde in Bezug auf eine Art. 3 EMRK Verletzung schon vorab aufgrund mangelnder Substanziierung als unzulässig abgelehnt hatte.
Dementsprechend wird vertreten, dass der EGMR die Ausnahme vom Verbot der Kollektivausweisung nur für den besonderen Fall des »gewaltvollen Stürmens« einer Grenzanlage unter Ausnutzung einer großen Zahl von Personen angenommen hat (verfassungsblog.de vom 21.2.2020). Das aus Art. 3 EMRK fließende Gebot der Nicht-Zurückweisung sei durch die Entscheidung »N. D. und N. T.« keineswegs infrage gestellt worden. Darüber hinaus wird diesbezüglich darauf verwiesen, dass auch das flüchtlingsrechtliche Refoulement-Verbot aus Art. 33 GFK für solche Fälle gilt und eine Pflicht zur Prüfung des Einzelfalls enthält.
Auffassung des UN-Kinderrechtsausschusses vom 1.2.2019, Communication Nr. 4/2016 (Art. 3 und 20 UN-KRK)
Der Ausschuss für die Rechte des Kindes der Vereinten Nationen (CRC) hat in diesem Fall festgestellt, dass die Zurückschiebungen ohne Verfahren (sogenannte PushBacks) von unbegleiteten Minderjährigen, die versuchen von Marokko in die spanische Enklave Melilla zu gelangen, gegen die UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) verstoßen.
Die UN-KRK, die zu den am meisten unterzeichneten Menschenrechtsverträgen zählt, wurde als Resolution von der UN-Generalversammlung verabschiedet und trat 1990 in Kraft. Der CRC kontrolliert die Umsetzung der Konvention und entscheidet seit Inkrafttreten des 3. Fakultativprotokolls 2014 auch über Individualbeschwerden von Kindern und Jugendlichen gegen Vertragsstaaten des Protokolls (wie zB auch Deutschland, Einzelheiten siehe dimr.de unter Menschenrechtsinstrumente / CRC).
Der Entscheidung liegt der Fall eines malischen Staatsangehörigen zugrunde, der vor dem Krieg in Mali geflohen war. 2014 hatte er als unbegleiteter Minderjähriger über den Grenzzaun die spanische Enklave erreicht, wurde dort aber von der spanischen Guardia Civil abgefangen und an marokkanische Sicherheitskräfte übergeben.
Nachdem er Spanien ein zweites Mal erreichte, legte er mit Unterstützung des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und Fundación Raíces Beschwerde beim CRC ein und machte Verstöße gegen seine durch die UN-KRK geschützten Rechte geltend. Er beklagte, dass er ohne jegliches Verfahren zurückgeschoben wurde und keine Möglichkeit gehabt hatte gegen die Maßnahmen vorzugehen.
In Bezug auf die Zulässigkeit der Beschwerde, stellte der UN-Ausschuss zunächst fest, dass unabhängig davon, ob der Betroffene bereits spanischen Boden erreicht habe, das europäische Land effektiv Staatsgewalt ausgeübt habe. Mit ähnlicher Begründung hatte der EGMR in einer von ihm getroffenen Entscheidung zu Push-Backs aus der Exklave die EMRK für anwendbar gehalten (siehe Asylmagazin 10-11/2019 und asyl.net unter Recht / EGMR-Entscheidungen / Push-Backs). Zudem habe der Betroffene nicht den nationalen Rechtsweg erschöpfen müssen, da mangels einer Zurückweisungsverfügung keine Rechtsmittel gegeben waren. Darüber hinaus betonte der CRC die allgemeine staatliche Verpflichtung unbegleitete Minderjährige so bald wie möglich zu identifizieren, insbesondere an der Grenze.
Die spanische Praxis der Push-Backs von Minderjährigen, ohne sie vorher zu identifizieren, anzuhören oder auf ihre besonderen Bedürfnisse einzugehen ist laut CRC gleich mit mehreren in der UN-KRK garantierten Rechte unvereinbar. So sei gegen das Wohl des Kindes nach Art. 3 und den besonderen Schutz für unbegleitete Minderjährige nach Art. 20 dadurch verstoßen worden, dass der Betroffene weder als minderjährig identifiziert noch angehört wurde und ihm keine Gelegenheit gegeben wurde sich gegen seine Zurückweisung zu wehren. Auch der EGRM hatte in seiner Entscheidung zu Push-Backs aus Melilla Verstöße gegen das Verbot der Kollektivausweisung und das Recht auf Wirksame Beschwerde festgestellt (siehe oben).
In Anbetracht der Anwendung von Gewalt durch spanische Behörden an der Grenze und der Misshandlung, die der Betroffene bei seiner Zurückweisung erfuhr, ohne dass seine besondere Situation als Minderjähriger berücksichtigt wurde, stellte der CRC eine Art. 3 UN-KRK Verletzung und ein Verstoß gegen das Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nach Art. 37 UN-KRK fest. Die Umstände der Zurückweisung Minderjähriger an der Grenze, nämlich die Festnahme und das Anlegen von Handschellen ohne jegliche Unterstützung (juristische Beratung und übersetzte Information) käme einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleich.
Um solche Menschenrechtsverletzungen künftig zu verhindern, wies der CRC Spanien an, seine Gesetzgebung, die kollektive Ausweisung ermöglicht, abzändern. Zudem verpflichtete er Spanien zu Entschädigungszahlungen an den Betroffenen.
Link zur Entscheidung in der Datenbank des EGMR
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 10-11/2017:
Mit dieser Entscheidung verurteilte der EGMR Spanien wegen der Zurückschiebung ohne Verfahren (sogenannte Push-Backs) von zwei Personen, die versucht hatten, von Marokko in die spanische Exklave Melilla zu gelangen.
Das Urteil betrifft zwei junge Männer, die am 13. August 2014 zusammen mit etwa 70 anderen Personen versucht hatten, über die Grenzzäune auf das spanische Territorium Melilla zu kommen. Einer der Betroffenen war 2012 vor dem bewaffneten Konflikt in Mali geflohen, der andere stammt aus Côte d’Ivoire. Beim Versuch, die drei Grenzzäune der Exklave zu überwinden, wurden sie von der spanischen Guardia Civil aufgehalten, die sie marokkanischen Sicherheitskräften übergab. Diese trieben wiederum die Betroffenen gewaltsam nach Marokko zurück und verbrachten sie anschließend ins Landesinnere.
Mit Unterstützung des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und Brot für die Welt erhoben die Betroffenen Beschwerde vor dem EGMR und machten einen Verstoß gegen das Verbot von Kollektivausweisungen nach Art. 4 EMRK-Protokoll Nr. 4 geltend. Auch sahen sie sich in ihrem Recht auf wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK verletzt, da sie keine Möglichkeit gehabt hätten, gegen die Rückschiebung vorzugehen. Aufgrund der Bedeutung des Verfahrens nahmen mehrere Drittbeteiligte Stellung (»third party intervention«), so etwa der Menschenrechtskommissar des Europarats und UNHCR. Amnesty International und der Europäische Flüchtlingsrat ECRE beteiligten sich mit anderen Organisationen in einer gemeinsamen Stellungnahme.
In seiner Entscheidung stellte der EGMR zunächst fest, dass die EMRK auf diese Fälle anwendbar ist, unabhängig davon, ob die Push-Backs nun auf spanischem oder marokkanischem Boden erfolgten. Dabei bezog sich der Gerichtshof auf seine Entscheidung vom 23.2.2012 in der Rechtssache Hirsi Jamaa und andere gegen Italien, in der es um die Zurückweisung auf hoher See ging (siehe Nachricht dazu auf migrationsrecht.net). Dem Urteil zufolge ist ein Staat durch Art. 1 EMRK an die in der EMRK bestimmten Rechte auch dann gebunden, wenn er außerhalb seines Territoriums effektiv Staatsgewalt ausübt.
An der Grenze Melillas hatte Spanien laut EGMR bei den Rückführungen tatsächlich Kontrolle über die Betroffenen und daher rechtlich seine Hoheitsgewalt ausgeübt. Laut Gerichtshof kommt es demnach für die Anwendung der EMRK nicht darauf an, ob sich die betroffene Person bereits auf dem Gebiet des Mitgliedstaats befunden hat. Diese Bestätigung der Hirsi-Rechtsprechung ist von weitreichender Bedeutung, wie auch ECCHR in einer Meldung auf seiner Website betont. Daraus folgt nämlich, dass bei zahlreichen stattfindenden und geplanten Maßnahmen der EU-Staaten an ihren Außengrenzen oder auf hoher See gegenüber Personen, die einzureisen versuchen, die in der EMRK festgeschriebenen Menschenrechte zu gewährleisten sind.
Im Hinblick auf das Verbot der Kollektivausweisung erkannte der Gerichtshof im Vorgehen der spanischen Grenzschutzbehörden eindeutig eine Ausweisung, die auch eine Behandlung an der Grenze und die Einreiseverweigerung umfasse. Dass es sich um eine Kollektivausweisung handelte, machte der EGMR daran fest, dass keinerlei Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidung ergangen war und es noch nicht einmal zur Feststellung der Identitäten der Betroffenen gekommen war. So hätten diese keine Gelegenheit gehabt, Beschwerden gegen die Maßnahmen vorzubringen. Unter Bezug auf seine Entscheidung in der Rechtssache Khlaifia und andere gegen Italien vom 15.12.2016 (siehe Asylmagazin 1–2/2017, S. 33) betonte der Gerichtshof, dass das Verbot der Kollektivausweisung aber gerade der Verhinderung von Ausweisungen ohne Berücksichtigung der individuellen Umstände der Betroffenen diene.
In der Rechtssache Khlaifia hatte die Große Kammer des Gerichtshofs jedoch entgegen der Entscheidung einer seiner Kammern keinen Verstoß gegen das Verbot der Kollektivausweisung festgestellt, da die Betroffenen von italienischen Behörden identifiziert worden waren und daher Gelegenheit gehabt hätten, Gründe gegen ihre Abschiebung vorzubringen. Im vorliegenden Fall hält der EGMR somit den Mindeststandard aufrecht, dass Einreisewillige vor Ausweisung zumindest zu identifizieren sind.
Daher wurde die Entscheidung als Präzedenzurteil gegen die langjährige spanische Abschiebepraxis von Menschenrechtsorganisationen begrüßt (siehe z. B. ProAsyl, Meldung vom 13.10.2017). Als bedenklich an der Entscheidung wurde aber kritisiert, dass der Gerichtshof, wie zuvor in den Rechtssachen Khlaifia und Hirsi die »neuen Herausforderungen« betont, die sich den europäischen Staaten bei der Migrationskontrolle stellten. Diese vom EGMR zitierten vermeintlichen Sachzwänge beruhten allerdings stark auf der sich durchsetzenden öffentlichen Meinung, die wiederum keinen Einfluss auf den menschenrechtlichen Schutz Einzelner haben dürfte (ausführlich hierzu siehe den Beitrag von Dana Schmalz im Flüchtlingsforschungsblog).
Die Entscheidung wurde von einer Kammer des Gerichtshofs getroffen und ist noch nicht rechtskräftig. Spanien hat noch die Gelegenheit, die Überprüfung der Entscheidung durch die Große Kammer des Gerichtshofs durch Verweisung der Rechtssache nach Art. 43 EMRK zu beantragen.
Link zur Entscheidung in der Datenbank des EGMR
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 4/2017:
In dieser bedeutsamen Entscheidung hat der EGMR festgestellt, dass das Festhalten von Asylsuchenden in einer Transitzone in Ungarn und die Abschiebung nach Serbien gegen die EMRK verstößt. Das Urteil erfolgte ungefähr zeitgleich mit der Verabschiedung eines umstrittenen neuen Gesetzes in Ungarn, welches die Möglichkeit vorsieht, alle Schutzsuchenden für die Dauer des Asylverfahrens in Transitzonen zu inhaftieren (vgl. Nachricht in diesem Heft auf S. 121).
Die Beschwerdeführer, zwei junge Männer aus Bangladesch, waren über Griechenland und die sogenannte Balkanroute im September 2015 nach Ungarn eingereist und hatten sofort Asylanträge gestellt. Sie wurden daraufhin in einem etwa 110 qm2 großen abgeriegelten und bewachten Teil der Transitzone Röszke für etwa drei Wochen festgehalten. Ihre Asylanträge wurden als "unzulässig" abgelehnt, da die ungarische Regierung Serbien 2015 als "sicheren Drittstaat" eingestuft hat. Im Anschluss wurden die Beschwerdeführer nach Serbien abgeschoben (vgl. hierzu auch den Bericht von bordermonitoring.eu und Pro Asyl vom Juli 2016, ecoi.net 329865) .
Vor dem EGMR machten die Beschwerdeführer einen Verstoß gegen das Verbot von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nach Art. 3 EMRK aufgrund der Bedingungen in der Transitzone und der Gefahr der Kettenabschiebung über Serbien nach Griechenland geltend, in das seit 2011 auch laut EGMR nicht überstellt werden darf. Zudem sahen sie sich in ihrem Recht auf Freiheit nach Art. 5 Abs. 1 EMRK, ihrem Recht auf gerichtliche Haftprüfung nach Art. 5 Abs. 4 EMRK und ihrem Recht auf wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK verletzt, da sie das Gelände nicht verlassen durften, keinen Zugang zu Beschwerdemechanismen hatten und ihnen der Kontakt zu ihren Anwälten nicht möglich war.
Der Gerichtshof stellte fest, dass das Festhalten der Betroffenen auf dem bewachten und von außen nicht zugänglichen Gelände "de facto" einer Inhaftierung i. S. d. Art. 5 EMRK gleichkam. Er verwarf die Argumentation der ungarischen Regierung, wonach es den Betroffenen freigestanden hätte, nach Serbien auszureisen, da sie damit ihre Asylbegehren verwirkt und sich der Gefahr des Refoulement ausgesetzt hätten. Da die Inhaftierung rein faktisch ohne formelle Entscheidung erfolgte, befand der EGMR sie als unrechtmäßig nach Art. 5 Abs. 1 EMRK. Darüber hinaus stellte er eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK fest, da es keine Haftanordnung gab, gegen die die Betroffenen gerichtlich vorgehen konnten. Obwohl der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch die Haftbedingungen verneinte, stellte er eine Verletzung von Art. 13 i. V. m. Art. 3 EMRK fest, da sich die Betroffenen über die Bedingungen nicht beschweren konnten. Schließlich befand er eine Verletzung von Art. 3 EMRK, da Ungarn nicht ausreichend gewährleistet hatte, dass die Betroffenen durch das Asylverfahren vor einer Kettenabschiebung über Serbien nach Mazedonien und Griechenland geschützt wurden. In Bezug auf letzteres verwies der EGMR auf seine Entscheidung M. S. S. gegen Belgien und Griechenland (Urteil vom 21.01.2011 - 30696/09, asyl. net: M18077, engl.), wonach den Betroffenen unmenschliche Behandlung aufgrund der Lebensbedingungen für Asylsuchende in Griechenland gedroht habe. Nebenbei bemerkte der Gerichtshof aber aktuell Verbesserungen in Griechenland. In Bezug auf das Asylverfahren in Ungarn bemängelte er, dass die des Lesens unkundigen Beschwerdeführer nur schriftliche Informationen erhalten hatten, ihnen der Zugang zu ihren Anwälten verwehrt wurde und die Asylanhörung bei einem Betroffenen in einer Sprache durchgeführt wurde, die er nicht verstand. Vor allem aber kritisierte der EGMR die schematische Anwendung der Regierungs-Liste von "sicheren Drittstaaten", die Nichtbeachtung von Länderinformationen internationaler Organisationen und die unfairen und überzogenen Anforderungen an die Beweislast der Betroffenen.
Diese Entscheidung ist insbesondere nach der aktuellen ungarischen Gesetzesänderung von großer Bedeutung auch für die Praxis in Dublin-Verfahren, in denen Asylsuchende nach Ungarn überstellt werden sollen. Bisher durften Asylsuchende in Ungarn nämlich nur dann in Transitzonen verbracht werden, wenn sie in der Nähe der serbischen Grenze aufgegriffen wurden. Nunmehr können Asylsuchende aus allen Teilen Ungarns in Transitzonen an der ungarisch-serbischen Grenze zurückgebracht werden (ausführlich hierzu die Hintergrundinformationen von Amnesty International vom März 2017, Eintrag unter Ländermaterialien in diesem Heft auf S. 156). Laut Amnesty International sind damit auch Personen, die im Rahmen des Dublin-Verfahrens aus Deutschland nach Ungarn überstellt werden, der tatsächlichen Gefahr willkürlicher Inhaftierung sowie des Refoulements ausgesetzt. Zudem ist das Urteil für Fallkonstellationen von Relevanz, in denen die Rückführung in einen "sicheren Drittstaat" erfolgen soll, denn der EGMR macht hier konkrete Vorgaben für die Anwendung der sogenannten Drittstaatenregelung im Einzelfall.
Link zur Entscheidung in der Datenbank des EGMR
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 10/2015:
Der EGMR verurteilte in der vorliegenden Entscheidung Italien wegen der Behandlung von Migranten aus Tunesien, die per Boot nach Lampedusa gekommen waren.
Die Beschwerdeführer hatten im September 2011 infolge der Unsicherheiten in Zusammenhang mit dem »arabischen Frühling« Tunesien auf dem Seeweg verlassen. Ihre Boote waren durch italienische Polizeikräfte aufgebracht und nach Lampedusa eskortiert worden. Dort waren die Beschwerdeführer in ein Internierungslager (Centro di Soccorso e Prima Accoglienza) gebracht worden.
Die Einrichtung war nach den Erkenntnissen des Gerichtshofs völlig überfüllt und die hygienischen Verhältnisse erschreckend: Es fehlten Türen, um Toiletten und Duschen zu verschließen, die Wasserversorgung war eingeschränkt. Die inhaftierten Personen mussten auf dem Boden schlafen und es war ihnen verboten, Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen. Die Kontaktsperre wurde durch ständige Überwachung sichergestellt. Nach einem Aufstand der Inhaftierten, bei dem das Lager teilweise durch Feuer zerstört wurde, wurden sie in einem Sportpark untergebracht. Die Beschwerdeführer nahmen an einer Demonstration von etwa 1800 Migranten in Lampedusa teil. Sie wurden erneut verhaftet, nach Palermo geflogen und auf Schiffen untergebracht, die ebenfalls überfüllt waren und auf denen schlechte hygienische Verhältnisse herrschten. Zusätzlich wurden sie durch Polizeibeamte beschimpft und misshandelt. Nach fünf bis sieben Tagen wurden sie zum Flughafen Palermo gebracht, vom tunesischen Konsul identifiziert und nach Tunesien abgeschoben. Die Abschiebung wurde auf eine bilaterale Vereinbarung der beiden Staaten gestützt. Der Gerichtshof stellte fest, dass die Beschwerdeführer ihrer Freiheit unter Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK beraubt wurden, da es im nationalen italienischen Recht keine Grundlage für ihre Inhaftierung gab. Weiter stellte die Haft eine willkürliche Behandlung dar. Auch wurden die Beschwerdeführer nicht über die rechtlichen oder tatsächlichen Umstände ihrer Inhaftierung informiert.
In Bezug auf die Haftbedingungen nahm der Gerichtshof zur Kenntnis, dass zu der maßgeblichen Zeit ein Ausnahmezustand herrschte. Durch 50 000 Neuankömmlinge aus Tunesien und Libyen waren die italienischen Behörden mit zahlreichen Aufgaben schwer belastet (Seerettung, medizinische Versorgung, Unterbringung der Migranten und Sicherstellung der öffentlichen Ordnung). Dennoch, so der Gerichthof, war Italien dadurch nicht von seiner menschenrechtlichen Verantwortung freigestellt. Das Verbot der unmenschlichen Behandlung gemäß Art. 3 EMRK gilt absolut und kann nach Art. 15 EMRK weder durch Krieg noch durch einen anderen Notstand eingeschränkt werden.
Auch stellte der Gerichtshof fest, dass die Abschiebungen der Beschwerdeführer einen Verstoß gegen das Verbot der Kollektivausweisung darstellten. Zwar hatte jeder einzelne Beschwerdeführer schriftliche Ausweisungsentscheidungen erhalten, diese waren jedoch identisch, ohne jeglichen Hinweis auf die persönliche Situation. Weder war zuvor eine Befragung der Antragsteller durchgeführt worden, noch konnten die Antragsteller die Abschiebungsentscheidung gerichtlich überprüfen lassen. Mit der Verurteilung Italiens stellt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte klar, dass Migranten und Flüchtlinge ein Recht auf Achtung ihrer Menschenwürde haben, auch wenn sehr viele in sehr kurzer Zeit kommen und das Ankunftsland darauf schlecht vorbereitet ist.
Link zur Entscheidung in der Datenbank des EGMR
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 12/2014:
Im Fall Sharifi gegen Italien und Griechenland betonte der EGMR, dass die Dublin-Verordnung so anzuwenden ist, dass sie mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar ist. Zugrunde lag dem Fall eine Abschiebung einer Gruppe afghanischer Asylsuchender von Italien nach Griechenland. Der Gerichtshof verurteilte Italien wegen der Kollektivausweisung von vier Afghanen nach Griechenland (Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls der EMRK). Weiterhin erfolgte die Verurteilung wegen eines Verstoßes gegen Art. 3 und Art. 13 (Recht auf einen effektiven Rechtsbehelf). Griechenland wurde ebenfalls verurteilt, wobei der Gerichtshof feststellte, dass sich die mangelhaften Bedingungen im Asylverfahren und in der Unterbringung seit seinem Urteil M. S. S. gegen Belgien und Griechenland vom 21.1.2011 nicht verbessert hätten.
Im Rahmen der Anwendung der Dublin-Verordnung verbieten sich laut dem EGMR Kollektivausweisungen. Der rückführende Staat muss zudem sicherstellen, dass der aufnehmende Staat ausreichende Garantien für ein effektives Asylverfahren geben kann.
Link zur Entscheidung in der Datenbank des EGMR
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 1-2/2015:
Der Gerichtshof verurteilte in diesem Fall Belgien wegen der Auslieferung eines Terrorverdächtigen an die USA. Der Antragsteller, Nizar Trabelsi, ist ein tunesischer Staatsangehöriger, der sich mittlerweile in den USA in Haft befindet. In den USA droht ihm aufgrund von angeblichen terroristischen Aktivitäten eine lebenslange Freiheitsstrafe.
Das Urteil betrifft die Auslieferung, die von Belgien an die USA durchgeführt wurde, obwohl der Gerichtshof zuvor mit einer sogenannten vorläufigen Maßnahme nach Art. 39 seiner Verfahrensordnung die belgische Regierung aufgefordert hatte, für die Dauer des Verfahrens von der Abschiebung abzusehen. Zur Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe für einen erwachsenen Straftäter stellt der Gerichtshof fest, dass eine solche Strafe nicht grundsätzlich durch die Konvention verboten sei, sofern sie verhältnismäßig sei. Jedoch dürfe die mögliche Minderung der Strafe weder aufgrund der gesetzlichen Vorgaben (de jure) noch in der Praxis (de facto) ausgeschlossen sein. Dazu ist von Bedeutung, ob der Gefangene, der zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, in irgendeiner Weise eine Möglichkeit hat, zukünftig eine Begnadigung, eine Hafterleichterung oder eine Haftüberprüfung zu erreichen. Weiterhin muss der Gefangene über diese rechtlichen Möglichkeiten ausreichend informiert werden.
Der Gerichtshof betont zudem, dass Art. 3 EMRK grundsätzlich eine präventive Seite hat, indem die Gefahren geprüft werden müssen, bevor der Betroffene zum Opfer einer entsprechenden Menschenrechtsverletzung wird – im vorliegenden Fall also vor einer Verurteilung in den USA. Im Auslieferungsverfahren hatten die USA zu keinem Zeitpunkt die Zusicherung gegeben, dass der Betroffene eine Möglichkeit zur Minderung der vermutlich drohenden lebenslänglichen Freiheitsstrafe erhalten wird.
Darüber hinaus stellt der Gerichtshof fest, dass durch die Nichtbeachtung der vorläufigen Maßnahme des EGMR der Schutz für den Betroffenen unumkehrbar verhindert worden sei und dementsprechend eine Verletzung des Rechts auf persönliche Antragstellung gemäß Art. 34 EMRK vorliege. Der Gerichtshof hebt die besondere Bedeutung hervor, die seine vorläufigen Maßnahmen haben. Er betont die wesentliche Bedeutung, die die vorläufigen Maßnahmen im System der Europäischen Menschenrechtskonvention spielen. Durch die Missachtung der vorläufigen Maßnahme des Gerichtshofs habe Belgien bewusst und unumkehrbar im vorliegenden Fall den Schutzstandard der Rechte aus Art. 3 EMRK unterlaufen. Dementsprechend stellt der Gerichtshof fest, dass Belgien die Verpflichtungen aus Art. 34 missachtet hat.