LSG Berlin

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Zitieren als:
LSG Berlin, Urteil vom 17.08.2001 - L 4 AL 16/00 - asyl.net: C1689
https://www.asyl.net/rsdb/C1689
Leitsatz:

1. Für die Entscheidung, ob eine besondere Härte im Sinne von § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ArGV vorliegt (Härtefall-Arbeitserlaubnis) sind vor allem die Grundrechte und die in ihnen zum Ausdruck kommende Werteordnung zu beachten.

2. Der generelle Ausschluss jeder Möglichkeit, sich und seine Familie selbstverantwortlich eine Lebensgrundlage zu schaffen, widerspricht dem Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG).

3. Macht die Ausländerbehörde die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 4 AuslG abhängig von der “wirtschaftlichen Integration” eines Ausländers, der sich seit vielen Jahren mit seiner Familie nur geduldet (§ 55 AuslG) in Deutschland aufhält, für den keine Ausreisemöglichkeit besteht und dessen Abschiebung nicht betrieben wird (staatenloser Palästinenser aus dem Libanon), so ist dies ein für die Annahme einer besonderen Härte nach § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ArGV erheblicher Belang.(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Palästinenser, Staatenlose, Libanon, Arbeitserlaubnis, Duldung, Erwerbstätigkeit, Arbeitsmarktprüfung, Arbeitsbedingungen, Nachrangigkeit, Besondere Härte, Menschenwürde
Normen: SGG § 96 Abs. 1; SGB III § 285 Abs. 1 S. 1 Nr.2, Nr. 3; ArGB § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Nr. 2; AuslG §§ 30 Abs. 4; AuslG § 55 Abs. 1; GG Art. 1 Abs. 1
Auszüge:

Für die Entscheidung, ob eine besondere Härte im Sinne von § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ArGB vorliegt (Härtefall-Arbeitserlaubnis) sind vor allem die Grundrechte und die in ihnen zum Ausdruck kommende Werteordnung zu beachten.

Der generelle Ausschluss jeder Möglichkeit, sich und seiner Familie selbstverantwortlich eine Lebensgrundlage zu schaffen, widerspricht dem Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG).

Macht die Ausländerbehörde die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 4 AuslG abhängig von der "wirtschaftlichen Integration" eines Ausländers, der sich seit vielen Jahren mit seiner Familie nur geduldet (§ 55 AuslG) in Deutschland aufhält, für den keine Ausreisemöglichkeit besteht und dessen Abschiebung nicht betrieben wird (staatenloser Palästinenser aus dem Libanon), so ist dies ein für die Annahme einer besonderen Härte nach § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ArGV erheblicher Belang.

Gegenstand der Entscheidung ist nicht nur der Ablehnungsbescheid vom 26. April 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Mai 1999 sondern auch der Ablehnungsbescheid vom 9. Juli 2001. Es ist sachdienlich, den Anspruch des Klägers auf Erteilung einer Arbeitsgenehmigung auch im Hinblick auf den jüngsten Ablehngungsbescheid zu prüfen, denn dieser erging zur Regelung desselben Rechtsverhältnisses und nur seine Einbeziehung in das Verfahren gem. § 96 Abs. 1 SGG ermöglicht eine schnelle und erschöpfende Entscheidung über den Streitgegenstand (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., Rdnr. 1 und 5 zu § 96), der nach wie vor ausschließlich in der Erteilung einer Arbeitsgenehmigung für eine Tätigkeit des Klägers als Bauhelfer bei der Firma K besteht.

Der Kläger hat Anspruch auf Erteilung einer Arbeitserlaubnis.

Grundsätzlich darf die Arbeitsgenehmigung nur erteilt weren, wenn der Ausländer eine Aufenthaltsgenehmigung nach § 5 AuslG besitzt (§ 284 Abs. 5 SGB III). Der derzeitige aufenthaltsrechtliche Status des Klägers hindert die Erteilung einer Arbeitserlaubnis allerdings nicht, denn nach § 5 Nr. 4 ArGB kann die Arbeitserlaubnis abweichend von § 284 Abs. 5 SGB III Ausländern erteilt werden, die - wie der Kläger - in Besitz einer Duldung nach § 55 AusG sind. Anzeichen für ein Vorliegen der in § 6 Nr. 5 ArGV am Ende genannten Negativmerkmale - Einreise zum Zwecke des Leistungsbezugs; Unmöglichkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen aus vom Ausländern zu vertretenden Gründen - gibt es nicht.

Ebenso wenig steht § 285 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB III der Erteilung einer Arbeitserlaubnis entgegen.

Im Bescheid vom 9. Juli 2001 vertritt die Beklagte insoweit die Auffassung, der Kläger werde zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als vergleichbare deutsche Arbeitnehmer beschäftigt. Dem vermag der Senat nicht zu folgen. Der Zweck von § 285 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB III besteht darin, "soziales Dumping" in Form der Unterbietung der allgemein akzeptierten Abeitsbedingungen durch die Beschäftigung von Ausländern zu verhindern (vgl. hierzu und zum folgenden Bieback in Gagel, SGB III, Stand März 2000, Rdnr. 35 f. zu § 285). Erheblich sind hier vor allen Dingen die in § 7 Arbeitnehmerentsendegesetz aufgeführten Bedingungen, nämlich Arbeitszeitbestimmungen, bezahlter Mindesturlaub, Entlohnungsbedingungen, Bedingungen für die Überlassung von Arbeitnehmern, Sicherheit, Gesundheitsschutz und Hygiene am Arbeitsplatz, Schutz von Schwangeren, Kindern und Jugendlichen sowie Gleichbehandlung von Männern und Frauen.

Eine ungünstige Entlohnung ist nicht zu erkennen, denn der Kläger verdiente zuletzt 23,- pro Stunde, was der Senat bei Hilfstätigkeiten im Baunebengewerbe nicht für unterdurchschnittlich hält. Auch die übrigen Umstände der Beschäftigung geben keinen Anlass, eine erhebliche Benachteiligung des Klägers anzunehmen. Die Beklagte meint insoweit, der Kläger gehe keiner regulären Beschäftigung nach sondern nur einer solchen auf Abruf, was in der Baubranche nicht üblich sei. Vom Umfang her war die Beschäftigung tatsächlich sehr gering, denn zuletzt arbeitete der Kläger im März 2001 53 Stunden und im April 31 Stunden. Es ist allerdings nicht nachvollziehbar, warum hierin eine nach § 285 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB III relevante ungünstige Beschäftigung liegen soll. Der Kläger hatte von vornherein die Erlaubnis für eine Beschäftigung als Helfer von 9 bis 13 Uhr beantragt. In dem ihn beschäftigenden Betrieb scheint somit für den Kläger von vornherein nur Bedarf für eine Beschäftigung geringen Umfangs zu sein. Dass er in diesem Rahmen gegenüber anderen Arbeitnehmern in demselben Betriebe benachteiligt würde, ist nicht ersichtlich, was umso wichtiger ist, weil gerade auch die Arbeitsbedingungen in dem einstellungsbereiten Betrieb als Vergleichswert heranzuziehen sind (Düe in Niesel, SGB III, 3. Aufl. 1998, Rdnr. 14 zu § 285). Es darf dem Kläger im Ergebnis nicht zum Nachteil gereichen, nur ein Arbeitsverhältnis mit geringe Beschäftigungsnachfrage gefunden zu haben, wenn gleichzeitig die tatsächliche Beschäftigung angemessen entlohnt wird und die Beschäftigungsdauer nicht aus diskriminierenden Gründen sondern branchenbedingt gering ist. Für eine geringe Beschäftigungsdauer aus diskriminierenden Gründen ist nichts ersichtlich.

Der konkreten Beschäftigung des Klägers fehlt es deshalb dem für § 285 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB III erheblichen Moment des "sozialen Dumping".

Grundsätzlich steht der Erteilung der Arbeitserlaubnis allerdings § 285 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB III entgegen, denn es darf vorausgesetzt werden, dass für die Beschäftigung als Bauhelfer bevorrechtigte Arbeitslose zur Verfügung stehen. Insoweit bestimmt aber § 1 Abs. 2 S. 1 ArGB (i.d.F. der 1 ArGV ÄndVO vom 8. Dezember 2000, BGBl. I S. 1684), dass die Arbeitserlaubnis abweichend von § 285 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und 2 SGB III auch dann erteilt werden kann, wenn die Versagung unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse des einzelnen Falles eine besondere Härte bedeuten würde.

Die Versagung der Arbeitserlaubnis würde zur Überzeugung des Senats unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse des einzelnen Falles für den Kläger eine besondere Härte bedeuten.

Mit der Härtefall-Arbeitserlaubnis soll Ausländern aus besonderen sozialen Gründen die Arbeitsaufnahme ermöglicht werden, obwohl dies dem Vorrang deutscher und ihnen gleichgestellter ausländischer Arbeitnehmer widerspricht. Es muss sich dabei um Verhältnisse handeln, die nicht allgemein für Ausländer im Inland gelten, welche für die Arbeitsaufnahme einer Arbeitserlaubnis bedürfen. Eine Härte wird nicht durch ungünstige Lebensumstände begründet, von denen bereits eine Vielzahl ausländischer Arbeitnehmer betroffen ist. Die Verhältnisse müssen von derartigem Gewicht sein, das sie den Vorrang der deutschen und ihnen gleichgestellten ausländischen Arbeitnehmer zurücktreten lassen. Bei dieser Abwägung sind vor allem die Grundrechte und die in ihnen zum Ausdruck kommende Werteordnung zu beachten (vgl. BSG, Urteile vom 8. Juni 1989 (7 RAr 114/88, SozR 4100 § 19 AFG Nr. 22 , S. 79) und vom 17. Oktober 1990 (11 RAr 129/89, BSG-Intern Nr. 19644 Abdruck S. 5), jeweils in Zusammenhang mit in Berlin aufhältlichen staatenlosen Palästinensern aus dem Libanon; Urteil des Senats vom 30. Juli 1999, L 4 AL 126/99, Abdruck S. 9).

Der Kläger befindet sich mit seiner Familie - bei derzeit noch vier minderjährigen Kindern - seit gut elf Jahren in Deutschland. Eine Rückkehr in die Heimat oder ein Drittland erscheint für einmal aus dem Libanon ausgereiste staatenlose Palästinenser auf unabsehbare Zeit selbst im Wege der Abschiebung ausgeschlossen. Gleichzeitig unterliegen der Kläger und seine Familie der vollziehbaren Ausreisepflicht (§ 42 Abs. 2 AuslG), weshalb sich ein verlässlicher Aufenthaltsstatus nicht entwickeln konnte; die Abschiebung der Familie ist ausgesetzt, d.h. die Familienmitglieder sind im Besitz einer Duldung (§ 55 Abs. 1 AuslG) - im Falle des Klägers in den Jahren 1992 bis 1995 nicht einmal verbrieft -, die nicht die Illegalität des Aufenthalts, sondern nur dessen Strafbarkeit beseitigt (§ 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG). Wirtschaftlich war und ist die Familie auf Sozialhilfebezug angewiesen.

Bei dieser Sachlage bedeutet die Versagung der Arbeitserlaubnis für den Kläger gemessen an dem oben formulierten Maßstab eine besondere Härte. Der Senat lässt sich für diese Wertung von dem Grundsatz leiten, dass der generelle Ausschluss jeder Möglichkeit, sich und seiner Familie selbstverantwortlich eine Lebensgrundlage zu schaffen, dem Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) widersprechen würde.