OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22.01.2001 - 8 A 4154/99.A - asyl.net: M0191
https://www.asyl.net/rsdb/M0191
Leitsatz:

Keine andersweitige Sicherheit i.S.d. § 27 AsylVfG für türkische Yeziden.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Syrien, Jesiden, Staatsangehörigkeit, Syrien (A), Verfolgungssicherheit, Religion, Gruppenverfolgung, Mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Zurechenbarkeit, Schutzbereitschaft, Religiös motivierte Verfolgung, Interne Fluchtalternative, Einreise, Luftweg, Drittstaatenregelung, Glaubwürdigkeit
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AsylVfG § 26a; AsylVfG § 27
Auszüge:

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte (Art. 16 a Abs. 1 GG). Sie ist türkische Staatsangehörige; ihr droht in der Türkei politische Verfolgung, ohne dass ihr ein Ausweichen innerhalb des Landes zumutbar wäre, denn sie ist praktizierende Yezidin. Ihrem Asylanspruch steht weder § 26 a Abs. 1 AsylVfG noch § 27 AsylVfG entgegen.

§ 26 a Abs. 1 AsylVfG steht dem Anspruch der Klägerin auf Gewährung politischen Asyls nicht entgegen, da sie auf dem Luftweg und nicht aus einem sicheren Drittstaat im Sinne des Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 GG, § 26 a AsylVfG nach Deutschland eingereist ist. Für diese Annahme spricht bereits, dass die Klägerin über den Ablauf des Fluges in der Anhörung bei dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung im wesentlichen übereinstimmend berichtet hat, vor allem aber der Umstand, dass sie im Verlauf der mündlichen Verhandlung auch auf solche Fragen zu ihrem Reiseweg plausibel, lebhaft und offen geantwortet hat, die ihr neu sein mussten und auf die sie nach dem Eindruck des Senats nicht vorbereitet war. Sie hat von sich aus zahlreiche Einzelheiten genannt, etwa die Abfolge der verschiedenen Kontrollen oder die Erinnerung, dass sie wegen der religiösen Verbote das ihr angebotene Schweinefleisch nicht gegessen habe.

Dass die Klägerin sich nicht an jede Einzelheit des Fluges und vor allem des Ablaufs nach der Landung bis zur Abholung durch ihre Verwandten präzise und widerspruchsfrei erinnern konnte, ist nach dem sicheren Eindruck des Senats nicht als Zeichen dafür zu werten, dass dieser Teil ihres Vorbringens nicht der Wahrheit entspräche, sondern vielmehr auf ihr jugendliches Alter bei der Ausreise und auf den Umstand zurückzuführen, dass sie nach der vermutlich für sie aufregenden und anstrengenden Reise von der syrisch-türkischen Grenze zum Flughafen Damaskus und von dort unter falschem Namen nach Deutschland kaum noch in der Lage gewesen sein kann, irgendwelche Eindrücke von den Örtlichkeiten oder den weiteren zeitlichen Abläufen in Einzelheiten aufzunehmen. Es spricht für die Klägerin, dass sie die vorhandenen Erinnerungslücken und Widersprüche offen benannte und plausibel erklärte.

Auch § 27 Abs. 1 AsylVfG steht dem Anspruch der Klägerin nicht entgegen.

Die in Syrien geborene Klägerin hat zwar bis zu ihrer Ausreise etwa 18 Jahre lang in Syrien gelebt. Sie war jedoch dort nicht vor politischer Verfolgung sicher, wobei offen bleiben kann, ob dies für die gesamte Zeit ihres Aufenthalts in Syrien gilt oder ob eine anfängliche Verfolgungssicherheit erst später weggefallen ist. Denn jedenfalls war die Klägerin zum Zeitpunkt ihrer Ausreise nach Deutschland in Syrien nicht mehr vor asylerheblicher Verfolgung in Anknüpfung an ihre Religionszugehörigkeit sicher, so dass die gegebenenfalls - nämlich für den Fall, dass die Klägerin während ihres Aufenthalts in Syrien für einen Zeitraum von mehr als drei Monaten vor Verfolgung sicher gewesen sein sollte - zu ihren Lasten bestehende Vermutung des § 27 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG widerlegt ist. Dies ergibt sich aus dem - vom Senat als glaubhaft eingestuften - Asylvorbringen der Klägerin zu ihrer Kindheit und Jugend und zu der individuellen Lage ihrer Familie in Syrien. Die Klägerin hat das Leben ihrer Familie in einer Situation der Angst und Ausweglosigkeit eingehend geschildert und an zahlreichen Beispielen deutlich gemacht, dass sie selbst, ihre Geschwister und Personen aus ihrem unmittelbaren Umfeld in einem Ausmaß von Übergriffen betroffen und bedroht waren, dass sich die Annahme, sie könne nach einer Rückkehr nach Syrien in Sicherheit vor asylrelevanten Rechtsverletzungen leben, nach dem hier anzuwendenden "herabgestuften" Maßstab ohne weiteres verbietet.

Dass die gegen Yeziden gerichteten Übergriffe der muslimischen Bevölkerung dem syrischen Staat zuzurechnen sind, ergibt sich aus dem Vortrag der Klägerin selbst - etwa am Beispiel der Vorfälle in der Schule, wo die Lehrer gegen Angriffe von Mitschülern nicht einschritten -, aber unzweifelhaft auch aus dem der Entscheidung zu Grunde liegenden Erkenntnismaterial; der Senat folgt insofern der Entscheidung des neunten Senats des Oberverwaltungsgerichts, die zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde und den Beteiligten bekannt ist.

Auf die Frage, ob alle Yeziden in Syrien oder jedenfalls alle glaubensgebundenen Yeziden oder auch nur diejenigen Yeziden, die nicht die syrische Staatsangehörigkeit besitzen, einer mittelbar staatlichen Gruppenverfolgung in Syrien ausgesetzt sind oder nicht, kommt es vor dem Hintergrund des individuellen Vorbringens der Klägerin im Rahmen des § 27 AsylVfG nicht an. Sie hat glaubwürdig dargestellt, dass sie selbst von asylerheblichen Übergriffen betroffen bzw. - dies betrifft vor allem die Gefahr der Entführung - ernsthaft bedroht war; der Umstand, dass gerade sie als das älteste unverheiratete Mädchen der Familie das Land nach dem Willen der Familie verlassen sollte, bestätigt den Stellenwert dieses Aspektes. Weitergehender Ermittlungen zur Gefährdung der nicht-syrischen Yeziden in Syrien bedarf es nicht; offen bleiben kann insbesondere die Frage, ob yezidische Flüchtlinge nicht-syrischer Staatsangehörigkeit in anderen Teilen Syriens - etwa in größeren Städten wie Aleppo - Schutz vor Übergriffen finden könnten. Abgesehen davon, dass der Hinweis auf eine denkbare "inländische Fluchtalternative" außerhalb des Verfolgerstaates im Rahmen des § 27 AsylVfG systematisch verfehlt sein dürfte, bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin als alleinstehende junge Frau in anderen Teilen Syriens unter Aufrechterhaltung einer minimalen religiösen Praxis hätte Schutz finden können bzw. dass die Prognose gerechtfertigt wäre, dass sie dort zukünftig mit hinreichender Sicherheit verfolgungsfrei leben könnte.