OVG Niedersachsen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 01.03.2001 - 1 L 4006/00 - asyl.net: M0680
https://www.asyl.net/rsdb/M0680
Leitsatz:

Betreuung durch Familie nicht gesichert ist.

1. Ein angolanisches Kleinstkind im Alter von 12 - 15 Monaten hat aufgrund der in diesem Alter gegebenen gesundheitlichen Instabilität in der Phase der Eingewöhnung in Angola nach derzeitiger Auskunftlage zu befürchten, wegen der mangelhaften Versorgung mit Lebensmitteln, der hygienischen Verhältnisse und der medizinischen Unterversorgung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schweren gesundheitlichen Schäden ausgeliefert zu werden, wenn die begleitende Familie wegen ihrer eigenen Schwierigkeiten die zur Abwehr dieser Gefahren zwingend notwendige Betreuung nicht sicherstellen kann.

2. Differenzierende Fortführung der Rechtsprechung des Senats zum Abschiebungsschutz für minderjährige Angolaner unter 5 Jahren (Urteile vom 1.3.2001 - 1 L 649/00 und 1 L 761/00 -).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Angola, Minderjährige, Kinder, Kleinkinder, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Extreme Gefahrenlage, Versorgungslage, Existenzminimum, Kindersterblichkeit, Malaria, Infektionsrisiko, Semi-Immunität, Medizinische Versorgung
Normen: AuslG § 53 Abs. 6 S. 1
Auszüge:

Die Berufung des Beteiligten ist nicht begründet, denn der Kläger hat einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 6 AuslG.

Zwar besteht grundsätzlich eine verschärfte und schwierigere Lage für Kinder bis zu fünf Jahren in Angola. Jedoch rechtfertigt auch diese nicht, grundsätzlich allen Kindern unter fünf Jahren Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu gewähren. Für die Schwierigkeiten bei der Abschiebung von Kindern ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 12.9.19999 - 9 C 12.99 -, BVerwGE 109, 305) eine möglichst realitätsnahe, wenn auch hypothetische Rückkehrsituation zugrunde zu legen. Danach ist hier realistischerweise anzunehmen, dass der Kläger nicht allein nach Angola abgeschoben wird, sondern zusammen mit seinen Eltern und seinen drei älteren Geschwistern.

Bei der Rückkehr von Kindern unter fünf Jahren sind gegenüber der Lage zurückkehrender Erwachsener weitere Besonderheiten zu berücksichtigen. Der Senat hat hierzu in seinem Urteil vom heutigen Tage (1 L 761/00) Folgendes ausgeführt:

"Richtig und im Wesentlichen unstreitig ist zwar, dass die Kindersterblichkeit, d.h. der Prozentsatz der Kinder unter fünf Jahren, welche das Alter von fünf Jahren nicht vollenden können, in Angola rund 30 v.H. beträgt (vgl. etwa AA v. 12.1.1999 an das VG München; Institut für Afrikakunde v. 15.10.1998 an das VG München; UNICEF v. 5.11.1998 an das VG München; UNHCR v. 4.7.2000, Asylmagazin 2000, 24; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Überblick über die Lage in Angola Mitte Juni 1999, Juli 1999; dpa v. 23.8.1999). Das ist zu einem erheblichen Teil auf die prekäre Lage zurückzuführen, welche hinsichtlich der Versorgung mit Lebensmitteln herrscht. In den vom Bürgerkrieg noch nicht erreichten Landesteilen - allein dorthin werden der Kläger und seine Muter angesichts der "Demarkationslinie", welche zwischen den der MPLA und den von der UNITA kontrollierten Gebieten liegt, gelangen können - ist nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes (vgl. u.a. Lageberichte v. 15.11.2000 und 8.12.1999) sowie des Instituts für Afrikakunde (Auskunft v. 15.10.1998 an das VG München) eine Grundversorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln auf niedrigem Niveau noch gewährleistet. Es ist allerdings schwierig, an erschwingliche Lebensmittel zu gelangen. 64 % der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, 21 % sogar in extremer Armut. Selbst die Mehrheit der in Luanda lebenden Bevölkerung - gemeint sind offenbar diejenigen, welche in den sich bildenden Slums leben müssen - hat nicht ausreichenden Umfangs Zugang zu sauberem Trinkwasser (vgl. zum Vorstehenden insbesondere Schweizerische Flüchtlingshilfe v. 11.11.1997; vgl. aber auch Außenministerium der Niederlande v. 6. 12. 1999 an die Einwanderungsdirektion Den Haag). Die medizinische Versorgung ist darum umso wichtiger. Denn mangelhafte Ernährung begünstigt - auch - bei Kleinkindern die Ausbreitung von Malaria sowie die Anfälligkeit von Erkankungen auf Grund von Parasiten. Die medizinische Versorgung seitens des Staates (nur 6 v.H. des Bruttosozialproduktes gibt Angola für die medizinische Versorgung, aber 34 v.H. für die Versorgung mit Waffen aus; UNICEF v. 5.11.1998 an das VG München) ist nach Darstellung des Auswärtigen Amtes (Lageberichte v. 15.11.2000 und v. 8.12.1999) "sehr angespannt" bzw. trotz Bemühungen internationaler Organisationen nicht ausreichend sichergestellt. Sie ist namentlich deshalb schlecht, weil das unterbezahlte medizinische Personal Material und Instrumente "versetzt", um das eigene Überleben zu sichern (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe v. 11.11.1997; Medico International v. 13.12.1999 an das VG Münster). Privatkliniken stehen auf Grund der finanziellen Vorstellungen über die Behandlungskosten im Wesentlichen nur Ausländern offen (Außenministerium der Niederlande v. 6.12.1999 an die Einwanderungsdirektion Den Haag).

All dies hat indes noch nicht die Folge annehmen zu können, jedes zurückkehrende Kind unter fünf Jahren werde durch die Abschiebung im Sinne der oben wiedergegebenen Grundsätze des Bundesverwaltungsgerichts, denen der Senat folgt, "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod überantwortet"....

Auch in der Sache ist es nicht gerechtfertigt, mit dem Bad.-Württ. VGH anzunehmen, Kinder, welche wie der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland ihren ersten, den Fünfjahreszeitraum noch nicht vollständig ausfüllenden Lebensabschnitt leben und dabei sämtliche medizinische Vorsorgemaßnahmen erhalten können, welche hier Standard sind, seien im Falle ihrer Rückkehr so erhöhten Maßes gesundheitlichen Gefährdungen augesetzt, dass sie sehenden Auges dem sicheren Tod überantwortet würden.

Besondere Umstände dieses speziellen Einzelfalles führen hier zu einem abweichenden Ergebnis.

Gegenüber den o.g. grundsätzlichen Erwägungen ist nämlich im Falle des Klägers zu berücksichtigen, dass im Alter von 12 bis 15 Monaten das Immunsystem der Kinder noch in so geringem Umfang aufgebaut ist, dass sie Infektionen gegenüber weitgehend wehrlos sind. Da die Umstellungsphase mit Sicherheit zu Erkrankungen schwerster Art führt, die - wenn auch mit sicherlich großen Schwierigkeiten - im Normalfall bei gesunden Erwachsenen und auch Kindern überwunden werden können, kann auch der Kläger dem nicht entgehen. Im Fall des Klägers muss nun berücksichtigt werden, dass ihm seine Familie in dieser Phase nicht die Hilfe bieten kann, die erforderlich ist. Seine Familie ist - im Gegensatz zu einer bereits vor Ort lebenden Familie eines Kleinstkindes - selber gefordert durch die körperliche Umstellung und Eingewöhnung, die sie bei einer gleichzeitigen Rückkehr mit dem Kläger zu durchlaufen hat und zusätzlich zu den harten körperlichen Anforderungen meistern muss, sich sozial in die Bevölkerung zu integrieren, also die Suche nach Arbeit und Möglichkeiten, das eigene Überleben sowie das der weiteren drei älteren Kinder zu sichern. Damit hat die Familie des Klägers keine Kapazitäten frei, um den besonderen - über den, den die älteren Kinder bereits benötigen, weit hinausgehenden - Schutz, den der Kläger als ein Kleinstkind in dieser Phase zwingend benötigt, zu gewährleisten.

Im besonderen Fall des Klägers ist hier - abweichend von den grundsätzlichen Erwägungen - deshalb zu berücksichtigen, dass die Umstellungsphase für ein Kleinstkind von 12 bis 15 Monaten zusätzlich deshalb von besonderer Gefährlichkeit ist, weil akute Gesundheitsgefahren durch die mit Sicherheit zu erwartenden Erkrankungen ungleich größer sind als bei älteren Kindern oder gar Erwachsenen und Folgeerscheinungen, die geeignet sind, auch zum Tode zu führen, wie Austrocknung und akute Kreislaufdefizite, in ungleich kürzeren Zeiträumen eintreten. Komplikationen dieser Art sind mit herkömmlichen Mitteln - also ohne die Mittel der Akutmedizin - nicht zu vermeidende Folge, die nur bei unverzüglichem Eingreifen und ärztlicher Versorgung in einer medizinischen Einrichtung behandelt oder rückgängig gemacht werden können. Diese sicherzustellen wiederum erfordert die ständige Bereitschaft erwachsener Betreuungspersonen, sofort die notwendigen Schritte einzuleiten. Sofern eine solche - wie im Falle des Klägers wegen der besonderen eigenen Schwierigkeit der in Betracht kommenden Erwachsenen - nicht möglich ist, erhöht sich deshalb die Gefährlichkeit der Lage in einem die allgemeine Situation weit übersteigenden Maße. Deshalb ist das Überleben der Umstellungsphase für den Kläger in einem Maße zweifelhaft, das über die "allgemeine Gesundheitsgefahr" für Kleinkinder bis fünf Jahre und die aus ihnen resultierende Kindersterblichkeitsrate weit hinausgeht.