Rechtswidrige Abschiebung wegen Übergehen der Rechtsanwältin. (Leitsatz der Redaktion)
Die vom Antragsgegner durchgeführte Abschiebung ist rechtswidrig und unter Verletzung des Verfahrensgrundrechtes der Antragsteller aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG durchgeführt worden.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschluss des 1. Senats vom 12. Januar 1960 - 1 BvL 17/59-, E 10, 264, 267) liegt die Bedeutung des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG vornehmlich darin, dass er die "Selbstherrlichkeit" der vollziehenden Gewalt im Verhältnis zum Bürger beseitigt. Kein Akt der Exekutive, der in Rechte des Bürgers eingreife, könne richterlicher Nachprüfung entzogen werden. In seinem Beschluß vom 19. Juni 1973 (- 1 BvL 39/69 und 14/72 -, E 35, 263, 274) setzte der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts diese Rechtsprechung fort und führte ergänzend zu seinen früheren Ausführungen aus, das Verfahrensgrundrecht des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantiere nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes; der Bürger habe einen substantiellen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle. Der grundgesetzlichen Rechtsweggarantie komme nicht nur die Aufgabe zu, jeden Akt der Exekutive, der in Rechte des Bürgers eingreife, vollständig - d.h. in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht - der richterlichen Prüfung zu unterstellen, sondern auch irreparable Entscheidungen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme eintreten könnten, soweit als möglich auszuschließen.
Diese Rechtsprechung ist in der Folge auch vom 2. Senat (Beschluss vom 16. Dezember 1975 - 2 BvR 854/75 -, E 41, 23, 26) fortgeführt worden. Die 1. Kammer des 1. Senats hat schließlich in ihrem Beschluss vom 4. Juni 1987 (- 1 BvR 620.87-; NJW 1987, 2219) erneut betont, dies gelte auch für den vorläufigen Rechtschutz. Von Verfassung wegen liege es unter Berücksichtigung der Effektivität verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutzes jedenfalls nahe, für die Dauer des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens - zumindest soweit ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht offensichtlich unzulässig oder rechtsmissbräuchlich sei - von Massnahmen des Verwaltungszwangs abzusehen. Der 1. Senat des VGH Kassel hat inzwischen aus diesen Entscheidungen in seinen Beschlüssen vom 18. Februar 1991 (-1 TH 85/91-, NVwZ-RR 1992, 34) sowie vom 23. August 1994 (- 1 TG 2086.94 -, NVwZ-RR 1995, 302) die Verpflichtung der Behörde hergeleitet, den rechtskräftigen Abschluss des gerichtlichen Verfahrens abzuwarten, und hierbei festgestellt, dass diese Verpflichtung unabhängig von einer richterlichen Aufforderung oder einem richterlichen Hinweis bestehe. Der 12. Senat des VGH Kassel hat sich zuletzt in seinem Beschluß vom 4. April 2000 (-12 TZ 577/00, NVwZ 2000, 1318) dieser Auffassung ausdrücklich für das Ausländerrecht angeschlossen und hierzu ausgeführt, die Behörden treffe allgemein die verfassungsrechtliche Obliegenheit, während eines Gerichtsverfahrens um vorläufigen Rechtsschutz grundsätzlich von Maßnahmen des Verwaltungszwangs abzusehen.
Die Kammer schließt sich dieser Auffassung an und ist ebenfalls der Ansicht, dass unmittelbar aus Verfassungsrecht die Behörden verpflichtet sind, dem Bürger zumindest eine erstinstanzliche Überprüfung im Eilverfahren zu ermöglichen und bis zu diesem Zeitpunkt - auch ohne einen audrücklichen "Hängebeschluss" - keine vollendeten Tatsachen zu schaffen (vgl. dazu ausführlich MacLean, LKV 2001, 107 ff. mw.N.).
Der Antragsgegner war daher aufgrund des ihm um 8:21 Uhr übermittelten Antrages des Antragstellers, auf den er von der Verfahrensbevollmächtigten der Antragsteller später noch einmal ausdrücklich hingewiesen worden ist, verpflichtet, die Abschiebung des Antragstellers bis zur Entscheidung des Gerichts auszusetzen. Denn für eine Rechtsmissbräuchlichkeit oder offensichtliche Unbegründetheit des Antrages, bei der allein diese Verpflichtung auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht bestanden hätte, ist nichts ersichtlich.
Im Hinblick auf die im Herbst 2000 erkennbar gewordene Versorgungssituation im Kosovo für Flüchtlinge hatte vielmehr die UNMIK am 12. Oktober 2000 an die Aufnahmestaaten die eindringliche Bitte gerichtet, Abschiebungen zumindest während des Winters bis März 2001 wegen eines gravierenden Mangels an Unterkünften auszusetzen.
Dem Antragsgegner ist es unter Berücksichtigung des auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatzes von Treu und Glauben (analog § 242 BGB) verwehrt, sich auf die von der Antragstellerin zu 1.) unterzeichnete Erklärung über ihr Einverständnis mit der Abschiebung zu berufen, weil er seine Rechtsposition unter Verletzung eigener Rechtspflichten - hier unter Verstoß gegen die §§ 14 Abs. 3, 25 Abs. 1 VwVfG - erlangt hat.
Nach § 14 Abs. 3 VwVfG soll sich die Behörde, sofern ein Bevollmächtigter bestellt ist, grundsätzlich an diesen und nur ganz ausnahmsweise an den Beteiligten selbst wenden, dann aber den Bevollmächtigten verständigen. An den Beteiligten selbst kann sie sich nur wenden, soweit er zur Mitwirkung verpflichtet ist. Diese Vorschrift dient neben dem öffentlichen Interesse an einer zweckmäßigen Verfahrensgestaltung auch dem Schutz der Verfahrensbeteiligten, die durch die Bestellung eines Bevollmächtigten anzeigen, dass dieser für sie das Verfahren betreiben soll.
Nach § 25 VwVfG soll die Behörde die Abgabe von Erklärungen, die Stellung von Anträgen oder die Berichtigung von Erklärungen oder Anträgen anregen, wenn diese offensichtlich nur versehentlich oder aus Unkenntnis unterblieben oder unrichtig abgegeben oder gestellt worden sind. Sie erteilt, soweit erforderlich, Auskünfte über die den Beteiligten im Verwaltungsverfahren zustehenden Rechte und die ihnen obliegenden Pflichten. § 25 VwVfG normiert damit erstmals für das allgemeine Verwaltungsverfahren die "Betreuungspflicht" der Behörde gegenüber den am Verfahren Beteiligten.
Die vorgenannten Verfahrensvorschriften sind jedoch seit Sommer 1997 in zahlreichen Fällen nicht beachtet worden, indem die Ausländerbehörde - vielfach "hinter dem Rücken" der bevollmächtigten Rechtsanwälte - von den jeweiligen Ausländern Erklärungen unterschreiben ließ, mit denen diese aus nicht nachvollziehbaren Gründen und vielfach unter dem Eindruck von Inhaftierung und unmittelbar angekündigter Abschiebung auf Rechtspositionen verzichteten, die ihre Bevollmächtigten gerade in ihrem Auftrage einklagten. Eine sachgerechte Belehrung der Betroffenen oder ein Grund, weshalb sie überhaupt und noch dazu unter Umgehung ihrer Bevollmächtigten angesprochen wurden, waren durch das Gericht regelmäßig im Nachhinein nicht aufklärbar.