OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 27.03.2001 - 2 L 2505/98 - asyl.net: M0733
https://www.asyl.net/rsdb/M0733
Leitsatz:

Nach der aktuellen Erkenntnislage haben die Kurden, die aufgrund der 1962 durch den syrischen Staat vollzogenen Ausbürgerung staatenlos geworden sind, und ihre Nachfahren, die seit ihrer Geburt staatenlos sind, keine rechtliche oder tatsächliche Möglichkeit, nach Syrien zurückzukehren, wenn sie das Land ohne Erlaubnis verlassen haben.

Die Frage, ob diesen staatenlosen Kurden in Syrien politische Verfolgung im Sinne des Art. 16 a Abs. 1 GG oder des § 51 Abs. 1 AuslG droht, ist nicht entscheidungserheblich. Ihr Status richtet sich nach dem Übereinkommen der Rechtsstellung der Staatenlosen vom 28. September 1954. (BGBl. 1976 II S. 473, 1977 II S. 235).(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Syrien, Kurden, Jesiden, Hassake, Staatenlose, Gruppenverfolgung, Religiös motivierte Verfolgung, Mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Verfolgungsdichte, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Illegale Ausreise, Antragstellung als Asylgrund, Ausbürgerung, Einreiseverweigerung, Gewöhnlicher Aufenthalt, Staatenlosenübereinkommen
Normen:
Auszüge:

Der Senat ist davon überzeugt, dass der Beigeladene nicht die syrische Staatsangehörigkeit besitzt, sondern seit seiner Geburt als Staatenloser in Syrien gelebt hat.

In der Niederschrift zu dem Asylantrag des Beigeladenen und in seinem Antrag auf Zulassung der Berufung vom 8. Mai 1998 (S. 2) heißt es zwar, er sei syrischer Staatsangehöriger. Während seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 13. Mai 1996 hat der Beigeladene jedoch erklärt, er habe in Syrien keine Dokumente oder Ausweispapiere gehabt, sondern nur eine rote Bescheinigung, dass er Ausländer sei. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat der Beigeladene bekräftigt, dass er nicht die syrische Staatsangehörigkeit besitze, sondern staatenlos sei. Er hat insoweit auf eine rote Bescheinigung hingewiesen, die er in Syrien besessen und aus der sich seine Staatenlosigkeit ergeben habe.

Die Angaben des Beigeladenen während seiner Anhörung vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat sprechen dafür, dass er zu der Gruppe der Kurden und deren Nachfahren gehört, die aufgrund der 1962 durch den syrischen Staat vollzogenen Ausbürgerung staatenlos geworden sind. Der syrische Staat hat diesen Personen 1962 den Aufenthalt in Syrien gestattet. Für sie wurden und werden seitdem eigene Personaldokumente (rot-orangene Plastikkarten) ausgestellt. Sie werden in einem besonderen Personenstandsregister geführt (vgl. zu allem AA, Lagebericht Syrien v. 08.02.2001 und Auskunft an das VG Aachen v. 30.01.2001).

Bei Staatenlosen kommt es - wie bereits ausgeführt wurde - darauf an, ob ihnen im Land ihres gewöhnlichen Aufenthaltes bei der Wiedereinreise eine politische Verfolgung im Sinne des § 51 Abs. 1 AuslG droht. Insoweit sind im Falle des Beigeladenen nur dann die Verhältnisse in Syrien maßgeblich, wenn er noch die Möglichkeit hat, wieder nach Syrien einzureisen. Denn ein Staat, der einem Staatenlosen die Wiedereinreise verweigert, löst damit seine Beziehungen zu diesem Staatenlosen und hört auf, für ihn das Land des gewöhnlichen Aufenthaltes zu sein. Er steht dem Staatenlosen in einem solchen Fall gegenüber wie jeder ander auswärtige Staat. Dann aber ist es unerheblich, ob ein Staatenloser in dem Land, das früher das Land seines gewöhnlichen Aufenthaltes gewesen ist, von politischer Verfolgung bedroht ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.10.1995, a.a.O.).

Nach der aktuellen Erkenntnislage haben die Kurden, die aufgrund der 1962 durch den syrischen Staat vollzogenen Ausbürgerung staatenlos geworden sind, und ihre Nachfahren, die seit ihrer Geburt staatenlos sind, keine rechtliche oder tatsächliche Möglichkeit, nach Syrien zurückzukehren, wenn sie das Land ohne eine Erlaubnis verlassen haben.

Der Beigeladene gehört nach der Überzeugung des Senats zu der Gruppe der etwa 120.000 bis 150.000 staatenlosen Kurden, die der syrische Staat während der Dauer ihres Aufenthaltes in Syrien geduldet hat. Bei Zugrundelegung der Erkenntnisse, die das Auswärtige Amt in seiner Auskunft vom 30. Januar 2001 an das Verwaltungsgericht Aachen und seinem Lagebericht vom 8. Februar 2001 wiedergegeben hat, hat der Beigeladene keine rechtliche oder tatsächliche Möglichkeit, nach Syrien zurückzukehren.

Aktuelle Erkenntnismittel, die zu einer gegenteiligen Einschätzung führen, liegen nicht vor.

Die Erkenntnisse, die amnesty international in seiner Auskunft vom 3. Dezember 1996 an das Verwaltungsgericht Ansbach wiedergegeben hat, stützen vielmehr die Annahme, dass der Beigeladene keine rechtliche oder tatsächliche Möglichkeit hat, wieder nach Syrien zurückzukehren. Denn in der vorgenannten Auskunft heißt es, Kurden aus Syrien ohne syrische Staatsangehörigkeit sollten für die Ausreise aus Syrien eine Art befristetes dreimonatiges Laissez-Passer erhalten, das sie nur innerhalb der festgelegten Frist zur Rückkehr berechtigen solle. In der Auskunft ist weiter ausgeführt, in den vergangenen Jahren solle die syrische Regierung in einigen Fällen dazu übergegangen sein, politisch aktiven Kurden einen Pass ohne Rückkehrberechtigung auszustellen, um auf diese Weise oppositionelle Kurden zum Verlassen des Landes zu bewegen.

Nach alledem ist zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats, der gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblich ist, nicht mehr Syrien, sondern Deutschland das Land des gewöhnlichen Aufenthaltes des Beigeladenen. Auf die Frage, ob dem Beigeladenen in Syrien politische Verfolgung im Sinne des Art. 16 a Abs. 1 GG oder des § 51 Abs. 1 AuslG droht, kommt es deshalb nicht mehr an. Sein Status richtet sich nach dem Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen vom 28. September 1954 (BGBl. 1976 II S. 473, 1977 II S. 235; vgl. BVerwG, Urt. v. 24.10.1995, a.a.O.).