OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 20.04.2001 - 4 MA 1129/01 - asyl.net: M0978
https://www.asyl.net/rsdb/M0978
Leitsatz:

Der besondere Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG steht einer Abschiebung, die nur zur Einhaltung formeller Einreisevorschriften durchgeführt werden soll, entgegen. Im vorliegenden Fall sollte ein algerischer Staatsangehöriger, der illegal in die Bundesrepublik eingereist war und eine deutsche Staatsangehörige geheiratet hatte, zwecks der Beschaffung eines Visums ausreisen. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Schutz von Ehe und Familie, Abschiebungshindernis, Visum, Aufenthaltserlaubnis, Deutschverheiratung, Eheliche Lebensgemeinschaft, Abschiebung, Nachträgliche Befristung, Duldung, Visumspflicht, Zumutbarkeit, Aufenthaltsbefugnis, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Beschwerde, Ernstliche Zweifel, Einstweilige Anordnung
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; GG Art. 6 Abs. 1; AuslG § 8 Abs. 2 S. 3; DVAuslG § 9 Abs. 2
Auszüge:

Der Senat nimmt nach dem gegenwärtigen Verfahrensstand eine häusliche und familiäre Lebensgemeinschaft an, aus der sich für den Antragsteller nach Art. 6 Abs. 1 GG ein Anspruch darauf ergibt, dass die Antragsgegnerin von Abschiebungsmaßnahmen absieht. Dem Interesse des Antragstellers auf Schutz des Familienlebens ist durch die - vorläufige - Erteilung einer Duldung gem. § 55 AuslG Rechnung zu tragen. Etwaigen Zweifeln am "Vollzug" der ehelichen Lebensgemeinschaft mag die Antragsgegnerin im Hauptsacheverfahren nachgehen.

Ferner wird auch erst im Hauptsacheverfahren zu prüfen sein, ob dem vom Antragsteller geltend gemachten Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis - oder einer Aufenthaltsbefugnis - (s. hierzu BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 1997 - 1 C 20.97 -, NVwZ 1998, 748) seine - erneute - Einreise ohne erforderliches Visum und vor der Entscheidung der Antragsgegnerin über seinen Antrag, die Wirkungen der Abschiebung vom 9. Oktober 1996 zu befristen, entgegen steht. Das auf der familiären und häuslichen Lebensgemeinschaft mit einer deutschen Staatsangehörigen beruhende und mit der hier zu treffenden Anordnung für den Antragsteller zu sichernde zwingende Abschiebungshindernis nach Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK bleibt von derartigen, nur die Frage des Aufenthaltsstatus betreffenden Erwägungen unberührt.

Das Verwaltungsgericht meint demgegenüber, hier seien die Gründe, die der Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung entgegen stünden, derart gewichtig, dass sie trotz des Schutzes der ehelichen und häuslichen Lebensgemeinschaft des Antragstellers mit einer deutschen Staatsangehörigen seine Abschiebung rechtfertigten. Der Senat teilt diese Ansicht nicht.

Es ist hier zunächst der besonders hohe Stellenwert der familiären Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und einer deutschen Staatsangehörigen zu berücksichtigen.

Diese Lebensgemeinschaft ist in der Regel durch eine gemeinsame Lebensführung in der Form einer Beistandgemeinschaft gekennzeichnet (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 1997 - 1 C 19/96 - BVerwGE 106,13 = NVwZ 1998, 742 = DVBl. 1998, 722), wobei hinzukommt, dass der Beistand nur in der Bundesrepublik Deutschland geleistet werden kann, weil einem deutschen Staatsangehörigen eine Ausreise zur Fortsetzung der Lebensgemeinschaft nicht zumutbar ist.

Dieser besondere Schutz steht jedenfalls einer Abschiebung entgegen, mit der nur die Beachtung der Einreiseformalitäten durchgesetzt werden soll. Auch nach der Ansicht des Verwaltungsgerichts stehen hier aber nur derartige Gründe der Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung entgegen. Dies trifft auch zu, weil Gründe für eine Ausweisung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 i.V.m. §§ Abs. 1 Satz 2, 47 Abs. 1 AuslG offensichtlich nicht vorliegen. Der Antragsteller ist vor seiner Abschiebung im Oktober 1996 zwar mehrmals straffällig geworden. Eine Ausweisung ist deshalb aber nicht erfolgt, inzwischen sind die Eintragungen im Bundeszentralregister auch gelöscht. Insofern ist hier auch ein Ausnahmefall im Hinblick auf die nach § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG regelmäßig vorzunehmende Befristung der Wirkungen einer Abschiebung nicht gegeben. Die Befristung beträgt nach dem Erlass des Niedersächsischen Innenministeriums vom 27. Mai 1999 (Nds. MBl. S. 406) bei Abschiebungen ohne vorausgegangene Ausweisung im Regelfall zwei Jahre und kann nach den Umständen des Einzelfalles halbiert oder verdoppelt werden. Selbst dann, wenn hier die regelmäßige Frist wegen der Straftaten des Antragstellers zu verdoppeln wäre, wäre sie am 9. Oktober 2000 und damit noch vor seinem Antrag auf Befristung vom 13. Oktober 2000 abgelaufen. Auch die Kosten der Abschiebung hat der Antragsteller inzwischen bezahlt. Es bleibt somit hinsichtlich der Befristung der Abschiebung nur noch zu berücksichtigen, dass der Antragsteller die Entscheidung über seinen Antrag nicht im Ausland abgewartet hat, sondern vorher eingereist ist. Ob und gegebenenfalls wie lange dieser Umstand einer Befristung der Wirkungen der Abschiebung angesichts des zu berücksichtigenden Zeitablaufs seit der Abschiebung noch entgegen gehalten werden kann, wird die Antragsgegnerin in dem bei ihr anhängigen Verfahren eingehend zu prüfen haben. Der Senat sieht darin aber jedenfalls nicht einen Grund, der eine Abschiebung des Antragstellers trotz der familiären Lebensgemeinschaft mit einer deutschen Staatsangehörigen rechtfertigt, weil dadurch gegen Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK verstoßen würde. Gleiches gilt hinsichtlich des weiteren Umstands, dass der Antragsteller ohne das erforderliche Visum eingereist ist. Hier ist zudem zu berücksichtigen, dass nach dem Erlass des Niedersächsischen Innenministeriums vom 7. Mai 1999 (Bl. 44 f. der Gerichtsakte) unter bestimmten Voraussetzungen wegen der Unzumutbarkeit, die formellen Einreisevorschriften zu erfüllen, (zunächst) eine Aufenthaltsbefugnis erteilt werden kann.