VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 31.07.2001 - 20 B 00.31977 - asyl.net: M0979
https://www.asyl.net/rsdb/M0979
Leitsatz:

Zur Asylantragstellung als Verfolgungsgrund bei Rückkehr in den Irak; kurdisch verwaltete Gebiete im Nordirak stellen interne Fluchtalternative dar, vorausgesetzt, der Asylbewerber hatte keine herausgehobene politische oder militärische Stellung im Zentralirak inne. Zudem muss eine zur Begründung eines Existenzminimums ausreichende Verbindung zu diesen Gebieten familiärer oder gesellschaftlicher Art bestehen.

Schlagwörter: Irak, Kurden, Zentralirak, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Illegale Ausreise, Interne Fluchtalternative, Nordirak, Existenzminimum, Soziale Bindungen
Normen: AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Das Urteil des Verwaltungsgerichts kann keinen Bestand haben. Dem Asylbewerber droht im Irak wegen ungenehmigter Ausreise und Asylantragstellung in Deutschland politische Verfolgung. Auf den Nordirak als inländische Fluchtalternative kann er nicht verwiesen werden, weil dort keine ausreichende Existenzmöglichkeit festgestellt werden kann.

Die Stellung eines Asylantrags im Ausland in Verbindung mit einer ungenehmigten Ausreise betrachtet der irakische Staat grundsätzlich als Kritik und als Verletzung der von ihm beanspruchten Loyalität. Die offizielle Propaganda versucht die Bevölkerung Iraks als gegen den westlichen Imperialismus verschworene Gemeinschaft darzustellen, die geschlossen hinter ihrem Führer steht und sich mit Tapferkeit und unter enormen Verlusten der Übermacht der feindlichen Arroganz erwehrt. Vor allem ein Asylantrag in Deutschland, das die Politik der Anti-Irak-Koalition mitträgt, wird mit einer Stellungnahme gegen das irakische System gleichgesetzt (vgl. insbesondere Deutsches Orient-Institut - DOI - vom 30.4.1999 an VG Frankfurt a.M. und vom 30.6.1998 an VG Aachen). Einem in Deutschland Asyl begehrenden irakischen Staatsangehörigen droht deshalb bei seiner Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit menschenrechtswidrige Behandlung oder schwere Bestrafung, die politischer Verfolgungsmotivation entspricht (BayVGH vom 22.5.2000 Az. 15 B 98.31916 S. 6 ff. der Ausf. und vom 3.7.2001 Az. 23 B 00.30339 S. 15 ff.).

Für den nicht aus dem Nordirak stammenden Asylbewerber hängt die Bewertung dieses Gebiets als Fluchtalternative von einer möglichen existentiellen Gefährdung ab, die am Herkunftsort so nicht bestünde. Mithin kommt es darauf an, ob der Asylbewerber im Nordirak ein Existenzminimum finden kann. Da die Frage zu verneinen ist, scheidet dieses Gebiet als Fluchtalternative aus.

Nach einhelliger Auskunftslage können Personen, die nicht aus dem Nordirak stammen, ein Existenzminimum dort nur aufgrund ausreichender Verbindungen erwarten. Bei den notwendigen Verbindungen handelt es sich um solche familiärer Art - insbesonder enge Verwandte, die bereits seit einiger Zeit dort leben -, um im weitesten Sinne gesellschaftliche Verbindungen - Sprache, Bestehen ethnischer und religiöser Gemeinschaften, denen der Asylsuchende angehört, Arbeitsmöglichkeiten und enge Freunde - und um politische sowie etwa innerhalb beruflicher Tätigkeiten aufgebaute andere Beziehungen zur Region. Für die Integrationschancen des Asylsuchenden sind naturgemäß auch persönliche Merkmale wie Alter, Geschlecht, Gesundheit, Ausbildung und Sprachkenntnisse von Bedeutung. Eine positive Prognose wird dabei umso eher möglich sein, je mehr der aufgeführten Verbindungen im Einzelfall bestehen.

Für einen irakischen Staatsangehörigen, der ursprünglich in keiner Verbindung zur kurdischen Gesellschaft im Nordirak stand, sind die genannten Gebiete als interne Fluchtalternative deshalb nur dann in Betracht zu ziehen, wenn er sich für eine beachtliche Zeit ohne Schutzprobleme im Norden niedergelassen hatte. Kann hiervon ausgegangen werden, so ist dies in der Regel ein Zeichen dafür, dass er in die lokale Gemeinschaft integriert ist.