BVerwG

Merkliste
Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 18.07.2001 - 1 B 118.01 - asyl.net: M0980
https://www.asyl.net/rsdb/M0980
Leitsatz:

Zur Frage der Aufklärungspflicht des Gerichts bei Traumatisierung.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Verfahrensrecht, Flüchtlingsfrauen, Vergewaltigung, Traumatisierte Flüchtlinge, Glaubwürdigkeit, Beweisantrag, Sachverständigengutachten, Freie Beweiswürdigung, Verfahrensmangel
Normen:
Auszüge:

In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Asylbewerbers und etwaiger Zeugen zum Wesen der richterlichen Rechtsfindung, vor allem der freien Beweiswürdigung gehört. Auch in schwierigen Fällen ist der Tatrichter daher berechtigt und verpflichtet, den Beweiswert einer Aussage selbst zu würdigen. Die Tatsacheninstanzen haben in eigener Verantwortung festzustellen, ob der Asylbewerber und etwa gehörte Zeugen glaubwürdig und ihre Darlegungen glaubhaft sind. Ob sich die Gerichte dabei der sachverständigen Hilfe insbesondere eines in Bezug auf die Aussagepsychologie Fachkundigen bedienen wollen, haben sie nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. In aller Regel wird kein Ermessensfehler vorliegen, wenn die Tatsachengerichte sich die zur Glaubwürdigkeitsbeurteilung notwendige Sachkunde selbst zutrauen und auf die Hinzuziehung eines Fachpsychologen verzichten. Etwas anderes wird nur dann gelten können, wenn im Verfahren besondere Umstände in der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen hervortreten, die in erheblicher Weise von den Normalfällen abweichen und es deshalb geboten erscheinen lassen können, die Hilfe eines solchen Sachverständigen in Anspruch zu nehmen (zu den vorstehenden Grundsätzen vgl. Beschluss vom 12. Mai 1999 - BVerwG 9 B 264.99 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 3; Beschluss vom 7. Juli 1999 - BVerwG 9 B 401.99 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 Nr. 304).

Von diesen Grundsätzen ist das Berufungsgericht bei der Würdigung der Aussagen der Klägerin im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend ausgegangen. Es hat jedoch verkannt, dass die danach grundsätzlich jedem Richter zugebilligte ausreichende Sachkunde zur Glaubwürdigkeitsbeurteilung auch in schwierigen Fällen ihn nicht davon entbindet, gegebenenfalls zu prüfen, ob besondere Umstände vorliegen, die ausnahmsweise doch die Beiziehung eines Sachverständigen geboten erscheinen lassen. Werden von dem Ausländer konkrete Anhaltspunkte vorgebracht oder sind solche sonst erkennbar, die eine Beeinflussung seines Aussageverhaltens durch eine erlittene Traumatisierung jedenfalls ernsthaft möglich erscheinen lassen, muss sich das Gericht damit in den Entscheidungsgründen auseinander setzen und nachvollziehbar darlegen, weshalb es sich dennoch in der Lage sieht, ohne Zuhilfenahme eines Sachverständigen die Glaubhaftigkeit der Aussagen und die Glaubwürdigkeit des Ausländers insgesamt zu beurteilen. Dies folgt aus der Pflicht des Gerichts, im Urteil die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind (§ 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO - vgl. BVerwGE 96, 200 209>), und kann sich im Einzelfall auch aus dem Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 Satz 2 GG) ergeben.

Dem ist das Berufungsgericht hier nicht gerecht geworden. Es hat die Frage, ob es nicht auch ohne einen entsprechenden Beweisantrag in der mündlichen Verhandlung ein Sachverständigengutachten zur Traumatisierung und zugleich zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Klägerin hätte einholen müssen, lediglich unter formelhafter Wiedergabe der in Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hierzu entwickelten Grundsätze verneint, wonach dies regelmäßig nicht geboten ist (UA S. 18 f.). Dabei hätte es das Berufungsgericht angesichts der sich aufdrängenden Besonderheiten dieses Falles jedoch nicht bewenden lassen dürfen. Insbesondere hätte es sich damit befassen müssen, welche Bedeutung es den von der Klägerin unter Vorlage eines ärztlichen Attests unter Beweis gestellten Narben an Armen und Oberkörper beimisst, die sie nach ihren Angaben durch Fesselung während einer zweitägigen Inhaftierung vor der Ausreise aus ihrem Heimatland davongetragen haben will. Das Gericht erwähnt und bewertet in den Urteilsgründen auch nicht, dass die Klägerin nach dem Beschwerdevortrag, dem das Gericht im Nichtabhilfebeschluss vom 20. März 2001 nicht entgegengetreten ist, bei der Schilderung der Geschehnisse im togoischen Gefängnis im Rahmen der mündlichen Verhandlung mehrfach geweint habe und ihre Schilderung habe unterbrechen müssen. Die Urteilsgründe gehen schließlich auch nicht auf den von der Klägerin als Beleg für die erlittene sexuelle Gewalt vorgebrachten Umstand ein, dass sie rund neun Monate nach Verlassen ihres Heimatlandes ein uneheliches Kind geboren hat. Diese von der Klägerin als Indizien für die geltend gemachte Traumatisierung vorgebrachten Anhaltspunkte durfte das Gericht bei der Entscheidung der Frage, ob die Klägerin traumatisiert ist und ob es sich, falls dies zutrifft, gleichwohl in der Lage sieht, die Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen auch ohne ein entsprechendes Sachverständigengutachten zu bewerten, nicht gänzlich unerwähnt lassen.