VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 01.03.2007 - A 8 K 10650/05 - asyl.net: M10109
https://www.asyl.net/rsdb/M10109
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Vergewaltigung, zwingende Gründe, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Depression, Suizidgefahr, Retraumatisierung, Krankheit
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die Klage hat im Hauptantrag Erfolg.

Rechtsgrundlage ist § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Danach ist die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (früher § 51 Abs. 1 AuslG) vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Nach Satz 3 der Norm ist allerdings von einem Widerruf abzusehen, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früherer Verfolgung beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

So ist es im vorliegenden Fall: Der Klägerin ist die Rückkehr subjektiv unzumutbar.

Bereits in der Stellungnahme der Ärztin ... wird angegeben, dass die schwere psychische Beeinträchtigung der Klägerin unzweifelhaft sei und die vorliegende Angst-Depression erkläre. Die Klägerin habe mehrfach Suizidvorstellungen geäußert und sehe ihr Leben immer wieder als sinnlos an. Deshalb würde eine Abschiebung mit Sicherheit zu einer schweren Eskalation der psychischen Erkrankung führen und sei derartiges nicht verantwortbar. Dementsprechend wird auch in dem Attest des Dr. ... vom 17.12.2003 angegeben, die Klägerin sei stark traumatisiert und eine psychische Betreuung zur Bewältigung der Traumafolgen dringend erforderlich. In der Stellungnahme Dr. ... und Frau ... vom 23.11.2005 wird berichtet, dass die Klägerin am 13.08.2004 sich nach einem Gespräch entschieden habe, das sie keine Therapie machen wolle, da sie von dem Gespräch sehr mitgenommen gewesen sei und lieber alles habe vergessen wollen. In dem nunmehr im November 2005 erfolgten weiteren Gespräch habe sich ergeben, dass die Klägerin unter panikartigen Angstzuständen leide, Stimmen höre und als einzigen Ausweg den Tod sehe. Die Klägerin sei zunehmend agitiert, verzweifelt und weinerlich und äußere sehr deutlich, dass sie nicht wage, über ihre Probleme zu sprechen. Es wurde deshalb eine stabilisierende medikamentöse Behandlung vorerst vorgeschlagen um erst danach eine stützende Psychotherapie anzugehen. Nach der ärztlichen Bescheinigung der Fachärztin Frau ... vom Krankenhaus ... vom 05.12.2004 liegt eine schwere depressive Symtomatik vermutlich im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung vor.

Das Bundesamt ist diesen fachlichen Äußerungen nicht entgegengetreten.

Soweit der Bescheid bemängelt, dass die Behandlung der seelischen Probleme nicht wieder aufgenommen worden sei, ist dies inzwischen überholt. Die nach dem Bescheid begonnene Behandlung ist bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG) zu berücksichtigen. Die für den Widerruf wohl maßgebliche Erwägung, dass der seelische Zustand der Klägerin so schlecht wohl nicht sein könne, wenn sie erst 2004 sich in Behandlung begeben und diese alsbald wieder abgebrochen habe, lässt außer acht, dass es in der Natur der vorliegenden seelischen Erkrankung liegen kann, dass der Kranke trotz objektiver Behandlungsbedürftigkeit subjektiv nicht in der Lage sein kann, eine Therapie aufzunehmen. Der gezogene Schluss, dass bei fehlender Therapie "es so schlimm nicht sein könne" verbleibt vordergründig und ist keinesfalls zwingend.