VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 26.01.2007 - 9 B 01.30309 - asyl.net: M10187
https://www.asyl.net/rsdb/M10187
Leitsatz:

§ 60 Abs. 5 AufenthG für armenischen Staatsangehörigen wegen drohender Inhaftierung wegen Wehrdienstentziehung und wegen drohender Übergriffe während des Wehrdienstes bei halb-aserischer Abstammung; unmenschliche Haftbedingungen.

 

Schlagwörter: Armenien, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, menschenrechtswidrige Behandlung, Wehrdienstentziehung, Auslandsaufenthalt, Staatsangehörigkeitsrecht, Staatsangehörigkeit, Sippenhaft, gemischt-ethnische Abstammung, Aserbaidschaner, Aseris, Inhaftierung, Haftbedingungen, Wehrdienst, Übergriffe, Schutzbereitschaft
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 3
Auszüge:

§ 60 Abs. 5 AufenthG für armenischen Staatsangehörigen wegen drohender Inhaftierung wegen Wehrdienstentziehung und wegen drohender Übergriffe während des Wehrdienstes bei halb-aserischer Abstammung; unmenschliche Haftbedingungen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Berufung des Bundesbeauftragten hat keinen Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat das Bundesamt im Ergebnis zu Recht verpflichtet, beim Kläger ein Abschiebungshindernis gemäß § 53 Abs. 4 AuslG in Bezug auf Armenien festzustellen.

1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.

Für die Furcht des Klägers, im Falle einer Abschiebung nach Armenien mit beachtlicher

Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung unterzogen zu werden, liegen stichhaltige Gründe vor.

b) Es besteht die konkrete Gefahr, dass der Kläger unmittelbar bei seiner Einreise am Flughafen oder zumindest innerhalb weniger Tage danach von den armenischen Sicherheitskräften wegen Wehrdienstentziehung belangt und in Haft genommen werden wird.

Alle Männer mit armenischer Staatsangehörigkeit zwischen dem 18. und 27. Lebensjahr unterliegen der Wehrpflicht. Der Kläger wurde zu Sowjetzeiten in Eriwan von Sowjetbürgern, die dort gemeldet waren, geboren. Er erhielt damit die Sowjetbürgerschaft und wegen des Wohnsitzes in Armenien auch die Angehörigkeit der Sozialistischen Sowjetrepublik Armenien. Nach dem Zerfall der Sowjetunion erhielt der Kläger die Staatsangehörigkeit der Republik Armenien (Art. 10 Nr. 1 des armenischen Staatsangehörigkeitsgesetz vom 16.11.1995; Gutachten der Universität Hamburg vom 5.5.1999 für das VG Schwerin). Der Kläger ist damit armenischer Staatsangehöriger und unterliegt der armenischen Wehrpflicht. Er hat sich bei Vollendung des 18. Lebensjahres nicht der armenischen Wehrbehörde gestellt, sondern durch Verbleib in Deutschland dem Wehrdienst entzogen. Er hat sich auch nicht bei der armenischen Botschaft in Deutschland zum Wehrdienst gemeldet. Er hat sich daher der Wehrdienstverweigerung schuldig gemacht, die nach Art. 327 des armenischen Strafgesetzbuchs grundsätzlich mit einer Gefängnisstrafe von bis zu 2 Jahren geahndet wird (Lagebericht des AA vom 2.2.2006 S. 14). Bei der Einreise nach Armenien muss der Kläger mit seiner Festnahme und der Vorführung vor dem zuständigen Staatsanwalt rechnen (Auskunft des AA vom 15.12.1999 an VG Ansbach).

Es gibt zwar Auskünfte, die besagen, dass trotz der vorhandenen Strafvorschrift grundsätzlich nicht mit einer Bestrafung zu rechnen sei, wenn sich der Delinquent nach einer Rückkehr in die Republik Armenien sogleich bei seiner zuständigen Einberufungsbehörde meldet (Lagebericht des AA vom 2.2.2006 S. 15; Auskunft des AA vom 15.12.1999 an VG Ansbach; Auskunft Dr. Hofmann vom 5.7.2000 an VG Schleswig). Dies gelte insbesondere für diejenigen, deren Vergehen wegen einer der erlassenen Amnestien nicht mehr bestraft werden könnten. Die letzte Amnestie sei 2001 ergangen. Der Kläger kann von keiner derartigen Amnestie profitieren, weil er erst im Jahr 2002 18 Jahre und damit wehrpflichtig geworden ist. In seiner besonderen Situation wäre trotz sofortiger Gestellung bei der Rückkehr nicht mit einer Einstellung des Strafverfahrens zu rechnen: Der Vater und der Bruder werden von der armenischen Strafverfolgungsbehörde gesucht. Die Strafverfolgungsbehörde wird deshalb den Kläger, wenn sie seiner habhaft wird, zunächst einmal intensiv befragen wo sich sein Vater und sein Bruder aufhalten. Schon zu diesem Zweck wird er zunächst einmal in Haft bleiben. Die zuständigen Amtswalter werden den Kläger auch deshalb gern in Haft behalten, weil sie von ihm, der aus dem "reichen Westen" kommt, entsprechend der landesüblichen Korruption, Geld erpressen wollen. Die Sache mit seinem Vater und seinem Bruder und die aserischen Volkszugehörigkeit der Mutter, die bei der behördlichen Behandlung offenbar werden wird, werden den Amtswaltern dazu gute Vorwände liefern. Die in Wehrdienstverweigerungsfällen grundsätzlich mögliche Einstellung des Verfahrens wird im Falle des Klägers wegen dessen besonderer Vorgeschichte nicht stattfinden. Die zur erwartende gesetzliche Bestrafung alleine steht der Abschiebung des Klägers nach Armenien allerdings nicht entgegen (§ 60 Abs. 6 AufenthG).

Bei der zu erwartenden Inhaftierung hat der Kläger aber menschenunwürdige Haftbedingungen zu erwarten. Bei den Vernehmungen des verhafteten Klägers besteht auch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass er geschlagen werden wird.

Die Haftbedingungen in armenischen Gefängnissen werden als sehr hart bezeichnet. Während der Untersuchungshaft werden die Häftlinge häufig geschlagen, damit sie Informationen preisgeben oder Geständnisse ablegen (US Dept. of State Country Report Armenia 2004, S. 2). Die Gefängniszellen verfügen nicht in ausreichendem Maße über natürliches Licht und Luftzirkulation. Nur eine minimale Grundversorgung der Gefangenen ist durch die Gefängnismahlzeiten gewährleistet. Eine notwendige Ergänzung erfolgt durch die Verwandten (Lagebericht des AA vom 19.9.2000 S. 12). Die Zellen sind überbelegt, die hygienische und sanitäre Versorgung ist mangelhaft. Es besteht eine hohe Erkrankungsgefahr, insbesondere an Lungentuberkulose (Auskunft Dr. Hofmann vom 5.7.2000 an VG Schleswig; Lagebericht des AA vom 2.2.2006 S. 21).

Da der Vater des Klägers in Deutschland lebt und der Kontakt zur Mutter abgerissen ist, hat der Kläger keine Verwandten in Armenien, welche die minimalen Gefängnismahlzeiten ergänzen könnten. Der Kläger ist noch im Kindesalter nach Deutschland gekommen und hier zu einem jungen Mann herangereift. Die harten Verhältnisse, die in armenischen Gefängnissen herrschen, werden ihm deshalb besonders zu schaffen machen. Es steht zu erwarten, dass der Kläger zusätzlich noch wegen seiner halbaserischen Abstammung Übergriffe des Wachpersonals und der Mitgefangenen wird erdulden müssen.

c) Nach dem Verbüßen der Gefängnisstrafe wird der Kläger den 24monatigen Wehrdienst ableisten müssen. Dort wird er Misshandlungen durch Kameraden und Vorgesetzte ausgesetzt sein. Denn verbale und tätliche Angriffe sind beim armenischen Militär allgemein verbreitet (Lagebericht des AA vom 2.2.2006 S. 14 und 20). Außenseiter jeder Art müssen in den Sicherheitskräften der Republik Armenien immer mit gewalttätigen Übergriffen anderer Soldaten rechnen bis hin zur Folter und zur Tötung. Die Zahl der Todesopfer gewalttätiger Übergriffe anderer Angehöriger der Sicherheitskräfte wird von Insidern seit dem Jahr 2000 auf jährlich 40 bis 50 geschätzt. Davor seien die Zahlen noch deutlich höher gewesen (Transkaukasus-Institut, Auskunft vom 24.8.2005 an VG Schleswig S. 7; Cirea vom 1.9.2000, S. 29).

Der Kläger ist als Halbaseri Angehöriger einer Außenseitergruppe in Armenien.

Als Angehöriger dieser in Armenien verachteten Minderheitsgruppe wird er dann den verbalen und tätlichen Übergriffen der Kameraden und Offiziere ausgesetzt sein. Gegen derartige "gesellschaftliche" Nachstellungen im Militär wird ihn die militärische Führung nicht schützen können oder auch nur wollen. Wegen seiner Unerfahrenheit im Umgang mit gleichaltrigen armenischen Männern wird der aus Deutschland kommende Kläger unter den genannten Demütigungen besonders zu leiden haben. Der Senat ist deshalb der Ansicht, dass der Kläger bei der Ableistung des Wehrdienstes in Armenien Folter und erniedrigender Behandlung unterworfen sein wird.