VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 12.03.2007 - 19 K 635/06.A - asyl.net: M10341
https://www.asyl.net/rsdb/M10341
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Angehörige der Hutu aus Ruanda, die wegen des unberechtigten Vorwurfs der Hetze gegen eine andere Ethnie inhaftiert worden war; Strafverfolgung knüpft an Zugehörigkeit zu den Hutu an.

 

Schlagwörter: Ruanda, Hutu, Inhaftierung, Strafverfolgung, Politmalus, Gacaca-Gericht, interne Fluchtalternative, Glaubwürdigkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für Angehörige der Hutu aus Ruanda, die wegen des unberechtigten Vorwurfs der Hetze gegen eine andere Ethnie inhaftiert worden war; Strafverfolgung knüpft an Zugehörigkeit zu den Hutu an.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klägerin hat Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich Ruanda.

Es steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin ihr Heimatland auf Grund unmittelbar drohender weiterer politischer Verfolgung verlassen hat; es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Ruanda vor politischer Verfolgung hinreichend sicher sein könnte.

Die Klägerin hat sowohl beim Bundesamt wie auch in der mündlichen Verhandlung widerspruchsfrei geschildert, sie sei bereits im Verlauf des Jahres 2005 für mehrere Monate ohne Anklageerhebung oder Urteil wegen des - unberechtigten - Vorwurfs, Hetze gegen andere Ethnien betrieben zu haben und die Kinder an der Schule entsprechend indoktriniert zu haben, inhaftiert gewesen. Nach der Entlassung sei sie aufgrund einer Verhandlung vor dem Gacaca-Gericht am 2. Dezember 2005 erneut inhaftiert worden. Aus dieser Haft habe ihre Mutter sie durch Bestechung freibekommen.

Von der Wahrheit dieser Angaben der Klägerin sowie von deren Glaubwürdigkeit ist das Gericht überzeugt auf Grund des persönlichen Eindrucks von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung.

Die wiederholte Inhaftierung der Klägerin ist auch erheblich im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG. Sie knüpfte an ein asylerhebliches Merkmal im Sinne des Asylrechts an.

Zwar verwirklichen die der Klägerin vorgeworfenen Taten (Hetze gegen andere Ethnien, Beihilfe zu Tötungen im Rahmen des Völkermords) zunächst lediglich Straftatbestände (vgl. "Vorwurf der ethnischen Spaltung" ist Straftatbestand": Frankfurter Rundschau vom 7. April 2004, "Nur Schweigen" von Christoph Link).

Die Klägerin hat jedoch glaubhaft vorgetragen, dass sie sich dieser Tatbestände nicht schuldig gemacht habe und dass man ihren Unschuldsbeteuerungen nur deshalb nicht geglaubt habe, weil sie dem Volk der Hutu angehöre, sie mithin allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit inhaftiert bzw. strafrechtlich verfolgt worden sei. Mit den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen zur Lage in Ruanda und der Arbeitsweise der Gacaca-Gerichte ist dieser Sachvortrag durchaus zu vereinbaren. So gibt es Hinweise, dass trotz gegenläufiger Gesetzeslage und entsprechender offizieller Beteuerungen die Unterscheidung Hutu-Tutsi weiterhin eine Rolle spielt und dass viele Anklagen unberechtigt sind. Zudem gibt es offensichtlich die Tendenz, "leugnende Täter" härter zu bestrafen bzw. sie - bei fortdauernder Haft - erst später als Geständige zu verurteilen ("Zehn Jahre nach dem Völkermord in Ruanda: Offiziell gibt es keine Ethnien mehr, doch in den Köpfen lebt das alte Denken fort": Frankfurter Rundschau vom 7. April 2004, "Nur Schweigen" von Christoph Link; "Unabhängige Beobachter vermuten, dass bei jedem vierten Gefangenen die Anklagen unberechtigt sind", "Gefangene, die leugnen, schmoren weiterhin im Gefängnis und werden am Ende der Gacaca-Prozesse und damit erst in einigen Jahren abgeurteilt.": Frankfurter Rundschau vom 6. März 2006, "Wir müssen vergeben" von Bernd Hauser; amnesty international, Jahresbericht 2006, S. 369: Zweifel an der Fairness des Gacaca-Systems und der Unabhängigkeit der Entscheidungen; "Richten an den Schädelstätten" von Stefan Klein, Süddeutsche Zeitung vom 14. April 2005; "Acht Millionen Einwohner, eine Million Angeklagte" von Michael Bitala, Süddeutsche Zeitung vom 5. März 2005).

Der Klägerin ist es auch nicht zumutbar, sich dem Gacaca-Verfahren zu stellen und dort ihre Unschuld nachzuweisen. Denn jedenfalls durch die vorhergehende Inhaftierung war sie - so ihre glaubhafte Darstellung - bereits so stigmatisiert, dass mit einer unvoreingenommenen Verhandlung nicht zu rechnen gewesen wäre.

Anhaltspunkte dafür, die Klägerin könne bei Rückkehr nach Ruanda - etwa in einen anderen Landesteil - hinreichend sicher sein, bestehen nicht. Im Hinblick auf die aus allgemein zugänglichen Quellen erhältlichen Erkenntnisse zur Organisation und Kontrolle der im Zusammenhang mit Gacaca einhergehenden Prozesse ist nicht davon auszugehen, dass die Klägerin bei erneutem Kontakt mit staatlichen Stellen unbehelligt bliebe. So gibt es z.B. für jedes Gacaca-Gericht einen Beauftragten, der die Verhandlungen beobachtet und der Gacaca-Behörde, einer Regierungsbehörde, berichtet (Frankfurter Rundschau vom 4. März 2006, a.a.O.).