VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 11.04.2007 - A 2 K 10333/05 - asyl.net: M10344
https://www.asyl.net/rsdb/M10344
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Juden, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzfähigkeit, interne Fluchtalternative, Nordirak, Israel, Auswanderung, Auswanderungsantrag, Genfer Flüchtlingskonvention, anderweitige Verfolgungssicherheit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 2; GFK Art. 1 A Nr. 2
Auszüge:

Der Kläger hat Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG bei ihm vorliegen.

b) Das Gericht ist überzeugt, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure droht, weil er dort als Jude betrachtet wird.

aa) Das Gericht ist zunächst überzeugt, dass der Kläger jüdische Vorfahren hat.

Der Kläger schildert glaubhaft, dass er von seinem Vater nur im Verborgenen in jüdische Sitten und Gebräuche eingeweiht wurde, soweit dies dem Vater möglich war.

bb) Das Gericht ist weiter überzeugt, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak wegen seiner Religion auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht. Der UNHCR schätzt die aktuelle Lage der Juden im Irak wie folgt ein (Hintergrundinformationen zur Gefährdung von Angehörigen religiöser Minderheiten im Irak, aktualisierte Fassung, Oktober 2005, S. 7): ...

Die Gefahr einer solchen Verfolgung ist nach der Überzeugung des Gerichts nicht deswegen als gering anzusehen, weil der Kläger im Irak nicht als Jude aufgetreten ist, sondern sich angesichts der Gefahren nur im Verborgenen mit dem Judentum beschäftigt, diese Religion aber nicht praktiziert hat - und wie auch sein Vater und Großvater - keinen originär jüdischen, sondern einen typisch kurdischen bzw. muslimischen Namen trägt. Nach Art. 10 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie ist es bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob der Antragsteller tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden. Nach Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie am 10.10.2006 beansprucht diese Regelung unmittelbare Geltung (vgl. dazu VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 16.11.2006, - A 2 S 1150/04 -, juris).

Im Fall des Klägers ist anzunehmen, dass ihm - unabhängig von seinem Namen und Auftreten in der Öffentlichkeit - zugeschrieben wird, Jude zu sein, weil er 1996 eine Auswanderung nach Israel beantragt und dieses Verfahren bis 2002 betrieben hat.

Das Gericht ist ferner überzeugt, dass der Versuch des Klägers, mit seiner Frau und den Kindern nach Israel auszuwandern, im Umfeld des Klägers bekannt geworden ist, zumindest bei der Familie seiner Frau.

c) Die Gewährung von Schutz durch den irakischen Staat und seine Sicherheitskräfte oder die Koalitionstruppen hat der Kläger zu erwarten.

d) Eine inländische Fluchtalternative, etwa in den kurdisch kontrollierten Provinzen im Nordirak, kommt für den Kläger ebenfalls nicht in Betracht (vgl dazu VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 16.11.2006, - A 2 S 1150/04 -juris, betr. Jeziden; und Urt. v. 21.06.2006, - A 2 S 571/05 -, juris, betr. chaldäische Christen). Aus dem Gutachten des Deutschen Orient-Instituts vom 06.02.2007 ist zwar zu entnehmen, dass die kurdische Bevölkerung im Nordirak Kurden im Allgemeinen keine feindliche Haltung gegen Israel an den Tag legt, weil sie Unterstützung durch die USA erhalten und darauf auch weiterhin angewiesen sind. Nach Ansicht des Europäischen Zentrums für kurdische Studien (Auskunft an VG Köln, 27.11.2006, S. 11f) ist die Haltung der kurdischen Führung gegenüber Juden im Allgemeinen und dem Staat Israel im Besonderen als für die islamische Welt eher gemäßigt einzuschätzen.

Unabhängig davon gebe es aber auch in der kurdischen Bevölkerung ähnlich strukturierte Vorurteile gegenüber Juden wie in anderen Staaten des Nahen Ostens.

Aus eben dieser Grundhaltung folgert das Deutsche Orient-Institut in seinem Gutachten vom 06.02.2007 für das Gericht überzeugend eine besondere Gefährdung des Klägers durch kurdische ebenso wie durch arabische Fundamentalisten, wenn bekannt ist, dass er versucht hat, als Jude dorthin auszuwandern. Diese Einschätzung gilt auch und gerade für die kurdischen Provinzen im Nordirak.

d) Abschiebungsschutz nach § 60 AufenthG ist schließlich auch nicht deswegen ausgeschlossen, weil der Kläger vorrangig den Schutz des Staates Israel in Anspruch nehmen könnte und müsste. § 60 Abs. 1 AufenthG nimmt ausdrücklich Bezug auf das Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559), die Genfer Flüchtlingskonvention (GK). Ihr Anwendungsbereich stimmt mit dem Flüchtlingsbegriff in Art. 1 A Nr. 2 GK überein (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.01.1992, - 1 C 21.87 -, BVerwGE 89, 296, 301 zu § 51 Abs. 1 AuslG). Danach sind Personen, die eine Staatsangehörigkeit besitzen, nur dann Flüchtlinge, wenn sie den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen können oder wegen der begründeten Furcht vor Verfolgung nicht in Anspruch nehmen wollen. Dies gilt ausdrücklich auch dann, wenn eine Person mehr als eine Staatsangehörigkeit hat. Für diesen Fall bezieht sich der Ausdruck "das Land, dessen Staatsangehörigkeit die Person besitzt", auf jedes der Länder, deren Staatsangehörigkeit die Person hat. Eine Person gilt nicht als des Schutzes eines Landes beraubt, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, wenn sie ohne einen stichhaltigen, auf eine begründete Befürchtung gestützten Grund den Schutz eines der Länder nicht in Anspruch genommen hat, deren Staatsangehörigkeit sie besitzt (vgl. Art. 1 A Nr. 2 a.E. GK; vgl. dazu VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 03.06.2005, - A 8 S 199/04 -, juris, betr. Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit).

Das Gericht geht zwar nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 02.05.2006 davon aus, dass der Kläger bei Anwendung des Rückkehrergesetzes 5070-1950 des Staates Israel als Enkel eines Juden selbst Jude im Sinne des Gesetzes ist und als solcher einen Anspruch auf Einreise nach Israel und Erteilung eines Einwandererstatus hätte. Einen entsprechenden Antrag könnte er bei der israelischen Auslandsvertretung in Deutschland stellen. Dieser Anspruch auf Einreise und Erteilung eines Einwandererstatus ist aber nicht mit einer Staatsangehörigkeit gleichzusetzen, vermittels derer der Kläger den Schutz des Staates Israel vor Verfolgung in Anspruch nehmen könnte. Dies kann aber auch dahingestellt bleiben, weil der Kläger bereits versucht hat, nach Israel auszuwandern und dort einen Einwandererstatus nach diesem Gesetz zu erhalten. Damit hatte er keinen Erfolg.