VG Darmstadt

Merkliste
Zitieren als:
VG Darmstadt, Urteil vom 19.04.2007 - 7 E 2413/05.A - asyl.net: M10378
https://www.asyl.net/rsdb/M10378
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, Jesiden, Änderung der Sachlage, Gruppenverfolgung, Verfolgung durch Dritte, mittelbare Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Situation bei Rückkehr
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die Klagen sind zulässig und begründet. Der angefochtene Widerrufsbescheid der Beklagten vom 05.12.2005 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).

Nach § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG ist die Asyl- und Flüchtlingsanerkennung zu widerrufen, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so geändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und auch nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht.

Eine im Sinne der genannten Vorschrift und Rechtsprechung anhaltende und erhebliche Veränderung und Verbesserung der Verhältnisse für die Yeziden ist entgegen der Auffassung der Beklagten hier nicht eingetreten.

Unter grundlegender Änderung ist nicht nur eine augenblickliche freundlichere Haltung der Bevölkerungsmehrheit und/oder staatlicher Stellen zu verstehen, sondern eine grundsätzliche Überwindung der bisherigen Konfliktsituation (vgl. VG Freiburg, Urteil vom 25.07.2005 - A 6 K 11023/05 -, AuAS 2007, 70). Zwar wird in der Rechtsprechung, worauf sich die Beklagte beruft, die Auffassung vertreten, dass von einer mittelbaren Gruppenverfolgung der Yeziden nicht mehr ausgegangen werden könne (OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. vom 14.02.2006 - 15 A 2119/02.A; VG Osnabrück, Urt. vom 12.12.2006 - 5 A 311/06; VG Hannover, Urt. 30.04.2003 - 1 A 389/02). Davon kann nach Auffassung des Gerichts im Falle der religiösen Minderheit der Yeziden in der Türkei nicht ausgegangen werden. Die Beklagte stützt ihre in dem Bescheid zum Ausdruck gekommene Auffassung zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung unter anderem auf eine Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 26.01.2007 an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht. Darin stellt das Auswärtige Amt fest, dass die genaue Anzahl der in der Türkei noch lebenden Yeziden mit hinreichender Sicherheit nicht festgestellt werden kann, die Zahl der in der Türkei lebenden Yeziden im Jahr 2000 zwar auf 500 zurückgegangen und inzwischen aber wieder steigend sei. Selbst wenn aufgrund der Angaben des Auswärtigen Amtes von einer Zahl zwischen 1000 bis 2000 in der Türkei lebenden Yeziden auszugehen ist, stehen dem die nicht widerlegten Angaben des Yezidischen Forum e. V. in Oldenburg von 363 in der Türkei am 15.01.2005 lebenden Yeziden gegenüber (Stellungnahme zur Situation der Yeziden in der Türkei vorn 05.02.2006). Im Blick auf eine Veränderung der Situation fällt es nach Auffassung des Gerichts letztlich nicht ins Gewicht, ob derzeit 2000, oder 500 und weniger Personen yezidischen Glaubens in der Türkei ansässig sind. Entscheidend ist vielmehr die grundlegende Haltung der muslimischen Bevölkerungsmehrheit, die auch in weniger häufigen Übergriffen gegenüber den dort lebenden Yeziden wegen ihres Glaubens zum Ausdruck kommt und denen nicht in dem Maße wie geboten von offiziellen Stellen entgegen gewirkt wird. Nach dem Bericht des Yezidischen Forum e.V. in Oldenburg vom 20.03.2007 (Anmerkungen zu der Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 26.01.2007 gegenüber dem Oberverwaltungsgericht Niedersachsen) räumt das Auswärtige Amt in seiner Stellungnahme vom 26.01.2007 Übergriffe auf Yeziden bei dem Versuch, Grundbesitzansprüche zu realisieren, ein. In der Stellungnahme des Yezidischen Forum e. V. wird nachvollziehbar dargelegt, dass offizielle Stellen (örtliche Behörden, Polizei) auf Nachfragen wohl nicht freimütig illegales Vorgehen einräumen. Dass es sich bei den Stellungnahmen des Yezidischen Forum e.V. durchaus um ernst zu nehmende Quellen handelt, entnimmt das Gericht der Auskunft des Deutschen Orient-Institutes Hamburg vom 14.06.2006 an das OVG Sachsen-Anhalt, welches die Informationen des Yezidischen Forum e. V. für seriös hält.

Das Auswärtige Amt befasst sich in dem Lagebericht vom 11.01.2007 auch mit der Lage der nichtmuslimischen Minderheiten. Der Vertrag von Lausanne (1923) garantiert türkischen Staatsangehörigen, die nichtmuslimischen Minderheiten angehören, die gleichen gesellschaftlichen und politischen Rechte wie Muslimen. In der Praxis werden vom türkischen Staat darunter allerdings nur drei Religionsgemeinschaften verstanden, nämlich die griechische-orthodoxe und armenische-apostolische Kirche und die jüdische Gemeinschaft (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.01.2007). In diesem Zusammenhang werden selbst vom Auswärtigen Amt die Yeziden gerade nicht erwähnt. Zwar führt das Auswärtige Amt in dem Lagebericht vom 11.01.2007, den Auskünften vom 20.01.2006 an das OVG Sachsen-Anhalt sowie am 26.01.2007 an das OVG Lüneburg aus, dass die bis vor einigen Jahren noch vorkommenden nichtstaatlichen Übergriffe auf Yeziden soweit ersichtlich seit längerer Zeit eingestellt sind. Allerdings räumt auch das Auswärtige Amt ein, dass Status- und Besitzfragen weiterhin das ungelöste Problem für religiöse Minderheiten sind. Aus dem Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom November 2005 lässt sich ebenfalls entnehmen, dass die Situation von religiösen Minderheiten als problematisch angesehen wird, auch wenn die angestrebte EU-Mitgliedschaft derzeit ein gewisses Wohlverhalten mit sich bringt. Für eine grundlegende und dauerhafte Verbesserung der Verhältnisse bedürfte es nach Auffassung des Gerichts dazu offizieller, programmatischer Schritte, mit denen der Wille des türkischen Staates, die Yeziden als Religionsgemeinschaft ernst zu nehmen, zum Ausdruck gebracht und eine entsprechende Behandlung durch alle staatlichen Stellen unter Hervorhebung der Religionsfreiheit verbindlich gemacht würde (vergleiche auch VG Freiburg vom 25.07.2006, a.a.O.). Dies ist bisher nicht geschehen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Zahl der Übergriffe auf Yeziden nicht mehr in dem Maße stattfindet, wie in den neunziger Jahren beziehungsweise zum Zeitpunkt der Asylanerkennung der Kläger. Gleichwohl sind Yeziden, insbesondere wenn es sich um Rückkehrer handelt, der Gefahr von Übergriffen und Diskriminierungen ausgesetzt (Baris an OVG Sachsen-Anhalt vom 17.04.2006, AA an OVG Lüneburg vorn 27.01.2007). Dies ist im Zusammenhang damit zu sehen, dass die Zahl der in der Türkei lebenden Yeziden vergleichsweise verschwindend gering ist und bereits deshalb die Möglichkeit, Anlass zu Reibereien zu geben, nicht mehr in dem Maße besteht. Eine erhebliche Veränderung zu den Verhältnissen, die zum Zeitpunkt der Asylanerkennung gegeben waren, liegt nach Auffassung des Gerichts nach alledem nicht vor.