Flüchtlingsanerkennung eines Christen aus Nigeria, dessen Missionsarbeit Auslöser von Ausschreitungen zwischen Moslems und Christen gewesen ist, wegen der Gefahr von Übergriffen durch Moslems; kein staatlicher Schutz
Flüchtlingsanerkennung eines Christen aus Nigeria, dessen Missionsarbeit Auslöser von Ausschreitungen zwischen Moslems und Christen gewesen ist, wegen der Gefahr von Übergriffen durch Moslems; kein staatlicher Schutz
(Leitsatz der Redaktion)
Dem Kläger hat jedoch einen Anspruch nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Bestimmungen der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 (ABl. vom 30.9.2004 L 304/12).
Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG (i.V.m. Art. 2 c), 6, 8, 9 und 10 der Qualifikationsrichtlinie) darf ein Ausländer in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Diese Voraussetzungen sind beim Kläger erfüllt. Er hat Nigeria im April 2004 vorverfolgt verlassen. Seine Flucht war die unmittelbare Reaktion auf Nachstellungen fanatischer Moslems. Diese hatten die Auseinandersetzung eines Teilnehmers der Missionierungsgruppe des Klägers mit einem Moslem, bei der eine Seite aus dem Koran beschädigt wurde, zum Anlass genommen, in der Region Kaduna (Makarfi) gewaltsame Ausschreitungen vom Zaun zu brechen. Hierbei wurde nicht nur erheblicher Sachschaden angerichtet - es kam zur Zerstörung der Polizeistation, in die sich der für den Koranvorfall verantwortliche christliche Missionar geflüchtet hatte, sowie von 9 Kirchen -, sondern es erfolgten auch Übergriffe auf Christen, um diese zu verletzen bzw. sogar zu töten. Für den Kläger und seine beiden Mitmissionare galt diese Bedrohung umso mehr, weil sie zumindest Mit-Auslöser dieser Reaktionen waren. Besonders ihnen wurde in ihrer Eigenschaft als christlichen Missionaren sowie zugleich als Schänder des Korans mit der Folge einer akuten Gefahr für Leib und Leben nachgestellt (zur Relevanz dieses Vorgehens der Moslems als Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund vgl. Art. 9. Abs. 1 a), Abs. 2 a), Abs. 3, Art. 10 Abs. 1 b) der Qualifikationsrichtlinie). Die Heftigkeit der Ausschreitungen und der Umstand der auch sonst vorhandenen religiösen Spannungslage im Norden Nigerias (vgl. für das Jahr 2004: NZZ 8.1.2004, FR 9.1.2004; ACCORD <Länderbericht August 2004>, Seiten 24 ff. [Seite 26: Bundesstaat Kaduna mit moslemischer Mehrheit und Geltung des Scharia-Strafrechts]; vgl. ferner allgemein: Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 23.12.2003 [Seite 14] und vom 29.3.2005 [Seite 18]: "Insgesamt ist eine zunehmende Radikalisierung bzw. Fundamentalisierung sowohl in christlichen als auch in muslimischen Kreisen zu beobachten, wobei die religiösen Trennlinien zumeist entlang ethnischer Linien verlaufen.") machen es zwar überaus wahrscheinlich, dass die Gewalttäter diesen Vorfall zum Anlass nahmen, auch andere Zwecke zu verfolgen. So belegt die Auskunftslage über einen Zeitraum von mehreren Jahren, dass religiöse Auseinandersetzungen oft auch mit sozialen und wirtschaftlichen Konfliktlagen verknüpft waren (vgl. neben den zuvor erwähnten Lageberichten des Auswärtigen Amts die Internetdatenbank des European Country of Origin Information Network [ecoi.net - www.ecoi.net] - "Nigeria" "Themenpapier" "Aktuelle Themen" - "Religiöse Zusammenstöße zwischen Christen und Moslems"; vgl. dort für das bisherige Jahr 2007: Auskünfte des US Department of State [USDOS]; für 2006: Auskünfte des USDOS, des Internal Displacement Monitoring Center, von Freedom House und von ReliefWeb; für 2004: Auskünfte des Integrated Regional Information Network [IRIN]; für 2003: Auskünfte des UK Home Office - nähere Details zu diesen Auskünften unten auf Seite 8/9).
Gleichwohl spricht dies in keiner Weise dafür, ein Nachstellungs- und Vergeltungsinteresse am Kläger und den beiden anderen Missionaren wäre unmittelbar nach dem Vorfall mit dem Koran verflogen gewesen. Die Missionare waren nämlich ihren moslemischen "Gegnern" persönlich bekannt, weil es zuvor im Alltag - außerhalb von konfliktträchtigen Ereignissen - immer wieder zu sozialen Kontakten (Straßenfußball, aber auch Missionstätigkeiten ohne Vorfälle) gekommen war.
Wenngleich damit die Verfolgung des Klägers nicht vom nigerianischen Staat sondern von Privaten ausging, steht dies seiner Flüchtlingsanerkennung nicht entgegen. § 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthG (i.V.m. Art. 6 c) und 7 der Qualifikationsrichtlinie) bestimmt nämlich ausdrücklich, dass eine Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen kann, sofern die zuvor in Buchstaben a) und b) genannten Akteure (d.h. der Staat bzw. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen) einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten. Dies gilt nach der gesetzlichen Regelung unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative bzw. interner Schutz i.S.v. Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie.
Der nigerianische Staat konnte dem Kläger keinen Schutz i.S.v. Art. 6 c), und 7 der Qualifikationsrichtlinie bieten. Als der Kläger Nigeria im April 2004 verließ, war es ihm nicht zumutbar gewesen, zuvor Schutz bei staatlichen nigerianischen Stellen zu suchen. Zwar kann man wohl davon ausgehen, dass der nigerianische Staat grundsätzlich schutzwillig ist. Gleichfalls ergibt sich jedoch aus diesen Erkenntnismaterialien, dass staatliche Interventionen nahezu regelmäßig eine nachträgliche Reaktion auf zuvor entstandene gewaltsame Konflikte darstellen.
Den genannten Auskünften ist mit großer Deutlichkeit zu entnehmen, dass bei solchen Ausschreitungen nahezu regelmäßig eine große Personenzahl an Leib und Leben geschädigt, ferner Tausende vertrieben sowie schließlich Sachgüter von beträchtlichem Ausmaß vernichtet werden. Konflikte zwischen Christen und Moslems erreichen somit nahezu bürgerkriegsähnliche Zustände, die bislang nicht unterbunden werden konnten und eine der ständigen "Konfliktlinien" der nigerianischen Innenpolitik darstellen.
Angesichts der deutlichen Erkenntnislage ist der nigerianische Staat mithin erwiesenermaßen i. S. v. Art. 6 c) der Qualifikationsrichtlinie nicht als schutzfähig anzusehen. Auch die - an sich wohl nur den Fall der Rückkehrprognose betreffende (Marx <Die Bedeutung der EU-Qualifikationsrichtlinie für die deutsche Asylpraxis> Asylmagazin 9/2004 des Informationsverbunds Asyl e.V. [abrufbar im Internet unter www.asyl.net]) - Definition einer Schutzgewährleistung in Art. 7 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie ist vorliegend für den Zeitpunkt der Ausreise nicht erfüllt gewesen. Danach ist generell Schutz gewährleistet, wenn u. a. der Staat geeignete Schritte einleitet, um die Verfolgung oder den ernsthaften Schaden zu verhindern (beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen), und wenn der Antragsteller Zugang zu diesem Schutz hat. Dieser letztgenannte Zugang ist für Personen in der Situation des Klägers jedoch zu verneinen, weil angesichts der Plötzlichkeit und Intensität von Übergriffen staatlicher Schutz mit hoher Wahrscheinlichkeit zu spät kommt. Dadurch liegt aber zugleich auch auf der Hand, dass der Kläger nicht darauf verwiesen werden konnte, sich zunächst schutzsuchend an die nigerianische Polizei zu wenden.
Darauf, ob dem Kläger im Zeitpunkt der Ausreise eine inländische Fluchtalternative bzw. interner Schutz in Nigeria offenstand, kommt es nach aktueller Rechtslage für die Bejahung einer Vorverfolgung nicht (mehr) an. Das ergibt sich aus Art. 8 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie, der als maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt denjenigen "der Entscheidung über den Antrag" bestimmt. Entscheidend ist nach der Systematik der Richtlinie allein, ob für den Flüchtling - eine Verfolgung in seiner Herkunftsregion unterstellt - im Zeitpunkt der Entscheidung über seinen Schutzantrag in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und von ihm heute vernünftigerweise erwartet werden kann, sich in einem Landesteil - also am Ort des internen Schutzes - aufzuhalten (Lehmann <Das Konzept der inländischen Fluchtalternative in der deutschen Rechtsprechung und deren Verhältnis zu Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie (interner Schutz)> NVwZ 2007, 508 [Seite 515]; ferner, unter Hinweis zugleich auf Art. 4 Abs. 3 a) der Richtlinie ["...alle ... Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind ..."]: Marx, a.a.O.).
Beim Kläger bestehen die Gründe für eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch noch im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung fort. Einem Asylbewerber, der bereits einmal politisch verfolgt war, kommt nach nationalem Recht wie nach der Qualifikationsrichtlinie ein herabgestufter Verfolgungsmaßstab zugute. Danach kann ihm eine Rückkehr in seine Heimat nur zugemutet werden, wenn die Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist. Nach diesem Maßstab wird nicht verlangt, dass die Gefahr erneuter Übergriffe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann. Vielmehr ist - über die theoretische Möglichkeit, Opfer eines Übergriffs zu werden, hinaus - erforderlich, dass objektive Anhaltspunkte einen Übergriff als nicht ganz entfernt und damit als durchaus reale Möglichkeit erscheinen lassen. Dem entspricht im Ergebnis Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie, wonach die Tatsache einer bereits eingetretenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung als ernsthafter Hinweis darauf zu werten ist, dass die Furcht des Schutzsuchenden vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen gegen eine erneute Bedrohung (vgl. zum Wahrscheinlichkeitsmaßstab im Licht der EU-Richtlinie: VGH Bad.-Württ., Urt. v. 25.10.2006, a.a.O. - m.w.N.).
Eine erneute Gefährdung des Klägers für den (unterstellten) Fall einer Rückkehr nach ... liegt auf der Hand.
Der Kläger kann schließlich aber auch nicht darauf verwiesen werden, an einem anderen Ort innerhalb des Bundesstaates Kaduna oder in einem anderen der übrigen 35 nigerianischen Bundesstaaten Zuflucht zu suchen. Für die Rückkehrprognose ist entscheidend, ob ein Vorverfolgter eine innerstaatliche Fluchtalternative bzw. internen Schutz im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthG finden kann. Diese Frage ist, obwohl es sich insoweit um eine offene Umsetzungsnorm handelt ("...können die Mitgliedstaaten feststellen..."), nach den Auslegungsvorgaben des Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie zu bestimmen, weil in Deutschland das Institut des internen Schutzes in Gestalt der inländischen Fluchtalternative schon immer zum Prüfungsmaßstab der Schutzbedürftigkeit eines Flüchtlings gehörte (Lehmann, a.a.O. [511]; in diesem Sinne auch BVerwG, Urt. v. 1.2.2007 - 1 C 24/06 - NVwZ 2007, 590). Gemäß Art. 8 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie können die Mitgliedsstaaten bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht, und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie kommt es dabei auf die am Ort des internen Schutzes bestehenden "allgemeinen Gegebenheiten" und zusätzlich auch auf die "persönlichen Umstände" des Asylsuchenden im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag an. Zur Interpretation des Begriffs der persönlichen Umstände kann auf Art. 4 Abs. 3 c) der Qualifikationsrichtlinie zurückgegriffen werden, wonach die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Asylsuchenden einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, bei der Entscheidung zugrunde zu legen sind. Zu fragen ist sodann auf der Grundlage dieses gemischt objektiv-individuellen Maßstabs, ob von einem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich am Ort der internen Fluchtalternative aufhält (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 25.10.2006, a.a.O.).
Solches ist jedoch für den Kläger zu verneinen. Zwar folgt dies nicht schon aus dem Fehlen eines wirtschaftlichen Existenzminimums.
Zu Gunsten des Klägers rechtfertigen schließlich zu der zuvor geschilderten Lage hinzutretende besondere persönliche Umstände die Annahme einer immer noch bestehenden, zumindest latenten Gefährdungslage bei Rückkehr. Zum einen handelt es sich beim Kläger zur Überzeugung des Gerichts - auch insoweit bestehen an der Glaubhaftigkeit seiner Angaben keine Zweifel - um eine alleinstehende Person.
Wie er selbst ohne Zögern eingeräumt hat, gibt es ganz Nigeria - so auch in Lagos - Niederlassungen seiner Kirchengemeinde. Seine Aufnahme in eine solche Gemeinde wäre zwar sicher, ebenso sicher wäre aber, dass die nach außen gerichtete Missionstätigkeit künftige Konfrontationen mit anderen Glaubensrichtungen - speziell der muslimischen - nach sich zöge. Angesichts des aus den mehrfach genannten Erkenntnisquellen ersichtlichen gewaltsamen Konfliktpotenzials müsste dann erneut mit Gefahr für Leben, Freiheit und Gesundheit gerechnet werden. Selbst wenn man darin "nur" eine latente Gefährdungslage sehen wollte, so genügte dies unter Geltung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs (vgl. dazu, dass ein latente Gefahrenlage der Situation einer nicht hinreichenden Verfolgungssicherheit entspricht: BVerwG, Urt. v. 8.12.1998 - 9 C 17/98 - NVwZ 1999, 544). Wie bereits oben (Seite 9/10) dargelegt, war und ist der nigerianische Staat schließlich in einer solchen Situation auch schutzunfähig (Art. 7 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie).