VG Osnabrück

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Zitieren als:
VG Osnabrück, Beschluss vom 22.05.2007 - 5 A 319/06 - asyl.net: M10561
https://www.asyl.net/rsdb/M10561
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Duldung, Wohnsitzauflage, Deutschverheiratung, Ermessen, Erlasslage, isolierte Anfechtungsklage, Beurteilungszeitpunkt, Freizügigkeit, Schutz von Ehe und Familie
Normen: AufenthG § 61 Abs. 1 S. 2; GG Art. 6 Abs. 1; EMRK Art. 8; GG Art. 11; VwGO § 42 Abs. 1; VwGO § 166; ZPO § 114
Auszüge:

Der zulässige Antrag auf Prozesskostenhilfe ist begründet.

Die Klage ist zulässig.

Statthafte Klageart ist die Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO).

Der Kläger begehrt mit der Streichung der Wohnsitzauflage die Aufhebung eines noch nicht bestandskräftigen, belastenden Verwaltungsakts. Die Wohnsitzauflage ist eine selbständige Nebenbestimmung, die grundsätzlich isoliert anfechtbar ist (vgl. zur isolierten Anfechtbarkeit räumlicher Beschränkungen: BVerwG, Urteil vom 19.03.1996, 1 C 34/93, juris Rn. 14). Die Anfechtungsklage entspricht in diesem Fall trotz des Umstands, dass sich der Kläger auf eine nachträglich - durch die Heirat am 20.06.2006 - eingetretene Rechtswidrigkeit eines ursprünglich rechtmäßigen Verwaltungsakts beruft, dem Begehren des Klägers. Denn der maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist die letzte mündliche Verhandlung ist, da es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung handelt (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 13. Auflage, § 113 Rn. 43; Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Auflage, § 113 Rn. 116).

Die Klage ist mit hinreichender Wahrscheinlichkeit begründet.

Die der Duldung beigefügte Wohnsitzauflage könnte seit der Heirat des Klägers am 20.06.2006 rechtwidrig sein und den Kläger in seinen Rechten verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Rechtsgrundlage für die Wohnsitzauflage ist § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG. Danach können weitere Bedingungen und Auflagen (als Nebenbestimmungen zur Duldung i.S.d. § 60a AufenthG) angeordnet werden.

Im Rahmen des durch die Vorschrift eingeräumten Ermessens hat die Ausländerbehörde eine Abwägung zwischen den öffentlichen Interessen an der Wohnsitzauflage und den privaten Interessen des Klägers zu treffen. Wohnsitzauflagen dienen der gleichmäßigen Verteilung der Belastungen, die den öffentlichen Kassen durch die Aufnahme, Unterbringung und Versorgung von geduldeten Ausländern entstehen, auf die Länder und Kommunen. Darüber hinaus soll mit Hilfe von Wohnsitzauflagen die Binnenwanderung von geduldeten Ausländern verhindert werden, um so der Mehrfachinanspruchnahme von Sozialleistungen vorzubeugen. Schließlich soll der Konzentration von Ausländern, die von öffentlichen Unterstützungsleistungen abhängig sind, in Großstädten und Ballungszentren entgegengewirkt werden.

Das Ermessen der Beklagten wird durch die Vorläufige Niedersächsische Verwaltungsvorschrift zum AufenthG (Stand 30.11.2005) gelenkt, um die gleichmäßige Ermessensbetätigung der niedersächsischen Ausländerbehörden bei der Anwendung des AufenthG sicherzustellen. Gemäß Nr. 61.1.2.3 i.V.m. Nr. 12.2.1.4.1 VNdsVwV zum AufenthG ist eine von allen Beteiligten gewünschte Herstellung der Lebensgemeinschaft enger Familienangehöriger mit Rücksicht auf den Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK stets zu ermöglichen. Bei der Beurteilung der Frage, wo der künftige gemeinsame Wohnsitz genommen werden soll, ist nach Möglichkeit auf berechtigte Wünsche der Betroffenen Rücksicht zu nehmen. Dabei ist nicht nur auf den aufenthaltsrechtlichen Status der Familienangehörigen abzustellen. Zu berücksichtigen ist auch, wo sich eine evtl. Arbeitsstelle befindet oder in welcher Gemeinde bereits ausreichender Wohnraum vorhanden ist. Die Streichung der Wohnsitzauflage mit Rücksicht auf Art. 6 GG ist aber dann nicht in jedem Fall erforderlich, wenn der andere Ehepartner deutscher Staatsangehöriger oder im Besitz eines Aufenthaltstitel ist, der die freie Wahl des Wohnortes ermöglicht. In diesen Fällen ist es diesem Ehepartner zuzumuten, seinen Wohnsitz an dem Ort der übrigen Familienangehörigen zu verlegen, wenn es keine schützenswerten Belange an dem bisherigen Wohnort (z.B. Erwerbstätigkeit) gibt. Die Streichung der Wohnsitzauflage oder die Erteilung einer Duldung kann dann unter Hinweis auf die Möglichkeit des Ehepartners, den Wohnsitz frei zu wählen und so die Familieneinheit herzustellen, abgelehnt werden. Im Falle einer Duldung ist allerdings vor der Streichung der Wohnsitzauflage vorrangig zu prüfen, ob die familiäre Lebensgemeinschaft im Ausland hergestellt werden kann (Nr.61.1.2.3 Satz 2 VNdsVwV zum AufenthG).

Diese Verwaltungsvorschriften sind mit höherrangigem Recht vereinbar. Insbesondere wird der Schutz von Ehe und Familie aus Art. 6 GG und das Recht auf Freizügigkeit deutscher Ehepartner gemäß Art. 11 GG nicht verletzt. Die Verwaltungsvorschriften ermöglichen eine Abwägung, die die Berücksichtigung der schützenswerten Belange der Ehepartner im Einzelfall zulässt.

Im Falle des Klägers könnte die Beklagte ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt haben. Es könnte eine Ermessensreduzierung auf Null dahingehend bestehen, dass nur die Aufhebung der Wohnsitzauflage für den Bereich der Stadt ... in Betracht kommt.

Die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft im Ausland i.S.d. Nr.61.1.2.3 Satz 2 VNdsVwV zum AufenthG ist dem Kläger und seiner deutschen Ehefrau nicht zumutbar, da die Ehefrau des Klägers das aus dem Deutschengrundrecht der Freizügigkeit (Art. 11 GG) resultierende Recht auf freie Wahl ihres Wohnsitzes im Bundesgebiet genießt.

Die Beklagte kann die Eheleute unter Umständen auch nicht gemäß Nr. 12.2.1.4.1 Abs. 2 VNdsVwV zum AufenthG darauf verweisen, dass sie ihren Wohnsitz in Bramsche (außerhalb der zentralen Aufnahmeeinrichtung) nehmen können. Grundsätzlich gebieten Art. 6 und 11 GG - anders als im Falle der Ehe zwischen zwei Ausländern -, die Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft am Wohnort des deutschen Ehepartners zu ermöglichen. Zum einen gewährt der Schutz der Ehe dem ausländischen Ehepartner einer deutschen Staatangehörigen einen weitreichenden aufenthaltsrechtlichen Schutz (vgl. BVerwG, Urteil vom 03.06.1982, 1 C 241/79, juris Rn. 11). Zum anderen wird die freie Wahl des Wohnsitzes des deutschen Ehepartnerin durch die Verpflichtung des ausländischen Ehepartners, seinen Wohnsitz an einem anderen Ort zu nehmen, faktisch beeinträchtigt, indem sie - wenn sie die eheliche Lebensgemeinschaft herstellen will - gezwungen ist, an den Wohnsitz des ausländischen Ehepartners zu ziehen.

Von diesem Grundsatz kann nur dann eine Ausnahme zugelassen werden, wenn die deutsche Ehepartnerin keine schützenswerten Interessen - außer der Ehe selbst - besitzt (vgl. VG Braunschweig, Beschluss vom 18.11.2002, 6 B 548/02, juris Rn. 35).