VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 31.08.2001 - 10a L 898/01.A - asyl.net: M1080
https://www.asyl.net/rsdb/M1080
Leitsatz:

Postzustellung in Asylbewerberwohnheimen; Sprachanalysen in Asylverfahren; Willkürverbot bei Abschiebungsandrohung. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Asylantrag, offensichtlich unbegründet, Zustellung, Gemeinschaftsunterkünfte, Fristen, Postzustellungsurkunde, Beweiskraft, Widerlegung, eidesstattliche Versicherung, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Ernstliche Zweifel, Abschiebungsandrohung, Zielstaatsbezeichnung, Nigeria, Sierra Leone, Sprachanalyse, Glaubwürdigkeit, Willkürverbot, Staatsangehörigkeit ungeklärt
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; AsylVfG § 36 Abs. 3 S. 1; ZPO § 418; VwGO § 98
Auszüge:

Die Kammer geht davon aus, dass der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung, über den der Berichterstatter als Einzelrichter gemäß § 75 Abs. 4 des Asylverfahrensgesetzes - AsylVfG - entscheidet, zulässig ist, insbesondere kein Verstoß gegen die für den vorliegenden Eilantrag nach § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - gemäß § 36 Abs. 3 S. 1 AsylVfG für die Antragstellung einzuhaltende Wochenfrist vorliegt. Diese Frist ist hier nicht in Lauf gesetzt worden, weil glaubhaft gemacht worden und gegenwärtig davon auszugehen ist, dass der Bescheid vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - Bundesamt - vom 15. März 2001 dem Antragsteller nicht ordnungsgemäß zugestellt worden ist. Dem steht die Postzustellungsurkunde, in der beurkundet worden ist, dass der Bescheid des Bundesamtes dem Antragsteller durch Niederlegung zugestellt worden ist, nicht entgegen. Denn es ist vorliegend zu erwarten, dass der durch die Postzustellungsurkunde als öffentliche Urkunde im Sinne des § 418 ZPO i.V.m. § 98 VwGO begründete volle Beweis der darin bezeugten Tatsachen,

(vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 1. Oktober 1996 - 4 B 181.96 -, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des BVerwG, 340, § 3 VwZG Nr. 17), durch den insoweit erforderlichen vollen Nachweis eines anderen Geschehensablaufs (vgl. BVerwG, a.a.O.) widerlegt wird. Es besteht nicht nur die für einen Beweisantritt nötige gewisse Wahrscheinlichkeit für die Unrichtigkeit der bezeugten Tatsachen, sondern sowohl nach der eidesstattlichen Versicherung des Antragstellers als auch nach der Erklärung des die Asylbewerberunterkünfte betreibenden Oberbürgermeisters der Stadt B. vom 10. Juli 2001 - denen die Antragsgegnerin nicht substantiiert entgegengetreten ist - ist glaubhaft gemacht und gegenwärtig zu erwarten, dass der Beweis zu führen sein wird, dass die Erklärungen in der Postzustellungsurkunde, dass eine Zustellung versucht, der Empfänger aber nicht angetroffen und anschließend der Benachrichtigungszettel in den Hausbriefkasten eingelegt worden sei, falsch sind. Es bestehen gegenwärtig ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Abschiebungsandrohung, die eine im Rahmen des anhängigen Klageverfahrens weitere Aufklärung erfordern, sofern die Zweifel nicht anderweitig im Klageverfahren oder in einem etwaigen Verfahren gemäß § 80 Abs. 7 VwGO beseitigt werden können.

Nach § 50 Abs. 2 des Ausländergesetzes - AuslG - soll in der Abschiebungsandrohung der Staat bezeichnet werden, in den der Ausländer abgeschoben werden soll, und der Ausländer darauf hingewiesen werden, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist.

Eine Abschiebungsandrohung ist dann rechtswidrig, wenn diese hinsichtlich des Staates, in den der Ausländer abgeschoben werden soll, gegen das Willkürverbot verstößt (vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 12. Juni 1997 - 25 ZB 97.32617 - ).

Ein solcher Verstoß ist nicht bereits stets dann anzunehmen, wenn der Ausländer nicht die Staatsangehörigkeit des in der Abschiebungsandrohung bezeichneten Zielstaates besitzt oder der Abschiebungserfolg nicht sicher vorhergesagt werden kann. Denn für die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung ist es weder grundsätzlich erforderlich, dass der Ausländer die Staatsangehörigkeit des in der Abschiebungsandrohung bezeichneten Zielstaates besitzt, noch dass sicher vorhergesagt werden kann, dass die Abschiebung tatsächlich durchgeführt werden kann (vgl. BVerwG, Beschluss vom 1. September 1998 - 1 B 41.98 -, Informationsbrief Ausländerrecht (InfAuslR) 1999, 73 74>).

Ein solcher Verstoß gegen das Willkürverbot ist aber dann anzunehmen, wenn die Abschiebung in einen Staat angedroht wird, zu dem der Ausländer keine Bindungen hat. Denn die Abschiebung in ein Land, zu dem der Ausländer keine Bindungen aufgrund seiner Staatsangehörigkeit oder aufgrund eines längeren Aufenthalts besitzt und mit dem er auch nicht anderweitig, insbesondere wirtschaftlich oder familiär verbunden ist, belastet den Ausländer in unzumutbarer Weise unverhältnismäßig und stellt sich als willkürlich dar.

Vorliegend bestehen ernstliche Zweifel an der Willkürfreiheit der Androhung der Abschiebung des Antragstellers nach Nigeria. Denn es ist gegenwärtig nicht hinreichend ersichtlich, dass der Antragsteller Bindungen zum Staat Nigeria hat, und zwar weder aufgrund seiner Staatsangehörigkeit oder eines längeren Aufenthaltes in Nigeria noch aufgrund wirtschaftlicher oder familiärer Kontakte. Hierbei verkennt die Kammer nicht, dass in Anbetracht des Vorbringens des Antragstellers im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt erhebliche Zweifel daran bestehen, dass der Antragsteller aus Sierra Leone stammt. Dies ändert aber nichts daran, dass hiermit kein Anhaltspunkt dafür begründet ist, dass der Antragsteller aus Nigeria stammt oder hinreichende Bindungen zu diesem Staat besitzt.

Allein der Umstand, dass nach dem sich in den Verwaltungsvorgängen des Antragsgegners befindlichen Gutachten (Sprachanalyse) der Antragsteller aus Nigeria stammen soll, ist ohne eine weitere Aufklärung nicht hinreichend, um eine Bindung des Antragstellers zu Nigeria oder dessen Herkunft aus Nigeria zu begründen. Jedenfalls ist - ungeachtet der in der Literatur zum Teil grundsätzlich erhobenen Bedenken daran, ob es überhaupt möglich ist, aufgrund derartiger Gutachten mit einer hinreichenden Sicherheit die Staatsangehörigkeit von Personen zu ermitteln

(vgl. hierzu Heinhold, Sprachanalysen beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, InfAuslR 1998, 299 ff. m.w.N.) die Aussagekraft von Sprachanalysen auf eine Indizwirkung für die Glaubhaftigkeit der Angaben des Asylbewerbers hinsichtlich seiner Herkunft und seiner Staatsangehörigkeit beschränkt (vgl. VG Potsdam, Urteil vom 16. November 2000 - 4 K 417/00.A -, InfAuslR 2001, 198 (200) m.w.N.; so auch Jobs, Zur Verwertung von Sprachanalysen in Asylverfahren, ZAR 2001, 175).

Hinsichtlich der Staatsangehörigkeit ergibt sich die Begrenzung der Aussagekraft bereits daraus, dass Sprachanalysen keinesfalls mehr als ein Beleg für eine bestimmte Herkunftsregion sein können. Die Staatsangehörigkeit ist bekanntermaßen ein Rechtsverhältnis zwischen dem Staat und dem Individuum, das nach rechtlichen Regelungen verliehen wird, von denen die sprachliche Gemeinsamkeit nur ein Kriterium ist. Aber auch hinsichtlich der Herkunft ist die Aussagekraft beschränkt. Zum einen stimmen die Sprachgrenzen zumeist nicht mit den Staatsgrenzen überein. Hinzu kommt, dass durch Flucht- und Wanderungsbewegungen manche Sprachgrenzen fließend sind und Vermischungen der Sprachen stattfanden. Dementsprechend lassen sich die meisten Sprachen und Dialekte nicht exakt örtlich abgrenzen. Überdies werden Sprache, Dialektfärbung und Sprachduktus stets von einer Vielfalt von Faktoren - u.a. das familiäre, soziale und gesellschaftliche Umfeld - beeinflusst, so dass nur die Kenntnis und Gewichtung dieser Faktoren im Einzelfall eine Aussage erlauben können (vgl. Heinhold, a.a.O. S. 301; Jobs, a.a.O., S. 175).

Selbst diese Indizwirkung ist bezogen auf die vorliegende Sprachanalyse fraglich und bedarf einer Klärung im Hauptsacheverfahren. Denn eine Verwertung der Sprachanalysen im gerichtlichen Verfahren erfordert, dass der Gutachter unparteiisch ist und über eine eigene hinreichende Sachkunde verfügt (vgl. VG Potsdam, a.a.O., Jobs, a.a.O., S. 176 ff.)

Dies ist jedoch völlig offen, da sich der - nicht unterschriebenen - Analyse und den übrigen Verwaltungsvorgängen des Antragsgegners weder die hinreichende Sachkunde des Autors der Analyse noch dessen Unparteilichkeit entnehmen lässt, vielmehr selbst dessen Identität unklar ist.