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Zitieren als:
, Bescheid vom 21.05.2007 - 5245567-423 - asyl.net: M10834
https://www.asyl.net/rsdb/M10834
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Versorgungslage, Kabul, Wohnraum, Situation bei Rückkehr, Wardak, Racheakte, Blutrache
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die für die Folgeanträge angegebene Begründung führt zu einer für die Antragsteller günstigeren Entscheidung, weil nunmehr vom Vorliegen der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Afghanistan auszugehen ist.

Die Gesamtschau der vorliegenden Informationen gibt ein differenziertes Bild. Einerseits profitiert gerade Kabul vom Wiederaufbau und den Versorgungsleistungen durch die internationale Gemeinschaft, andererseits steht die Stadt durch die enorm hohe Anzahl von Rückkehrern vor dem Problem der adäquaten Versorgung. Während ein Teil der Rückkehrer die Möglichkeit hat, etwa im aufstrebenden Bausektor oder durch selbstständige Arbeit ein Auskommen zu finden, sind andere auf ein Leben ohne gesicherte Einkommensquelle am Rande des Existenzminimums in behelfsmäßigen Flüchtlingslagern oder informellen Siedlungen angewiesen.

Hinsichtlich der Versorgung mit Nahrungsmitteln berichtet der Gutachter Dr. Danesch, dass Grundnahrungsmittel für die meisten Menschen kaum erschwinglich seien. Die Versorgungslage in Kabul sei derartig schlecht, dass täglich Menschen verhungerten bzw. infolge Unterernährung an Krankheiten stürben. Nach Angaben der Hilfsorganisation "Action contre la faim" stürben in nur drei Krankenhäusern täglich fünf bis sieben Personen durch Unterernährung.

Die Dunkelziffer sei sehr viel höher (vgl. Dr. Danesch, Mostafa: Gutachten zur Lage der Hindu- und Sikh-Minderheit im heutigen Afghanistan vom 23.01.2006, S. 16 ff.; Gutachten vom 04.12.2006 an VGH Kassel, S. 22 ff.).

Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes sei Afghanistan hinsichtlich der Versorgung mit Nahrungsmitteln und Hilfsgütern weiterhin auf die Leistungen der internationalen Gemeinschaft angewiesen. Die Versorgungslage in Kabul und anderen großen Städten habe sich zwar grundsätzlich verbessert. Wegen mangelnder Kaufkraft profitierten jedoch nicht alle Bevölkerungsschichten hiervon (vgl. Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 17.03.2007, Az.: 508-516.80/3 AFG).

Die bereits oben erwähnte Hilfsorganisation "Action contre la faim" zeichnet ein ähnliches Bild wie das Auswärtige Amt. Es sei festzustellen, dass sich Kabul und die ländlichen Gebiete nicht in gleichem Maße entwickeln würden und dass auch innerhalb Kabuls ein starker Kontrast bestehe.

Hieraus folgt, dass es Bevölkerungsteile gibt, die Schwierigkeiten bei der Nahrungsversorgung haben. Es partizipieren nicht alle Bewohner gleichermaßen vom Aufschwung. Insbesondere mittellose Rückkehrer aus Lagern in Pakistan oder Iran müssen häufig ein Leben am Rande des Existenzminimums führen. Anzeichen für eine derart schlechte Versorgung, dass jeder Rückkehrer alsbald dem Hungertod ausgesetzt wäre, gibt es aber nicht. Insbesondere gibt es keine Berichte über eine drohende generelle Nahrungsmittelknappheit. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die internationalen Hilfsorganisationen derart in ihrer Arbeit behindert würden, dass keinerlei Versorgung der Bevölkerung mehr möglich wäre.

Die Versorgung mit Wohnraum ist nach übereinstimmenden Auskünften unzureichend. Das Angebot an Wohnraum ist knapp und nur zu hohen Preisen erhältlich (vgl. Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 17.03.2007, Az.: 508-516.80/3 AFG; Arendt-Rojahn u.a.: Rückkehr nach Afghanistan. Bericht über eine Untersuchung in Afghanistan im Zeitraum März/April 2005). Zahlreiche Rückkehrer, insbesondere aus den Nachbarländern Pakistan und Iran, sind gezwungen, in Notunterkünften zu leben.

Ansonsten bezeichnet UNHCR seit 2002 die Stadt Kabul für freiwillige Rückkehrer als ausreichend sicher (vgl. Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 13.07.2006, Az.: 508-516.80/3 AFG). Es ist nicht ersichtlich, weshalb dies nicht auch für Personen gelten sollte, die nicht freiwillig zurückkehren oder die früher nicht in Kabul gelebt haben, sofern im Einzelfall keine individuelle Gefährdung erkennbar ist. Das Schwedische Afghanistan Komitee betrachtet Kabul als eine Stadt, in der die Kriminalitätsrate derjenigen entspricht, die man in einer Stadt von der Größe Kabuls erwarten würde (vgl. Danish Foreign Office: Political conditions, the security situation and human rights conditions in Afghanistan. Report by the fact-finding mission to Kabul, Afghanistan, 20.03. bis 02.04.2004). Der Gutachter Dr. Danesch beschreibt in mehreren Gutachten die Sicherheitslage hingegen als katastrophal.

Angesichts dieser Auskunftslage ist davon auszugehen, dass die Kriminalitätsrate in Kabul sehr hoch ist. Dies trifft aber alle Bewohner Kabuls gleichermaßen. Es ist nicht erkennbar, weshalb Rückkehrer hiervon besonders betroffen sein sollten. Angesichts der Gesamtsituation in Kabul ist somit nicht von einer extrem gefährlichen Sicherheitslage bzw. extremen Gefahrenlage auszugehen.

Die Antragsteller sind Pashtunen aus Wardak, südwestlich von Kabul. Im Falle einer Rückkehr in die angestammte Heimat wäre nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen, daß die von den Antragstellern im Asylerstverfahren geltend gemachten familiären Feindschaften wieder aufflammen und dadurch insbesondere die minderjähriger Kinder betroffen wären. Zudem ist eine Rückführung nur über den Flughafen Kabul möglich. Die Antragsteller könnten nicht gefahrlos nach Wardak zurück kehren.

Kabul bietet für die Familie auch keine Rückkehralternative. Sie hätte insbesondere unter dem Wohnungsmangel und der unzureichenden Versorgung mit Lebensmitteln zu leiden. Hinzu kommt, daß es sich hier um eine Familie mit zwei minderjährigen Kindern handelt, die in besonderer Weise schutzbedürftig sind. Denn es ist unter den derzeitigen Bedingungen in Kabul, so wie auch im gesamten Land, nicht gesichert, daß die Antragsteller zu 1. und 2. auch in der Lage wären, den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder zu gewährleisten, zumal keine familiären Bindungen in Kabul bestehen.