VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 24.07.2007 - 6 UE 3108/05.A - asyl.net: M11123
https://www.asyl.net/rsdb/M11123
Leitsatz:
Schlagwörter: Iran, Folgeantrag, Änderung der Sachlage, Nachfluchtgründe, Berufungszulassungsantrag, Drei-Monats-Frist, Hemmung, exilpolitische Betätigung, Überwachung im Aufnahmeland, Komala, Kurden, Internet, Maikundgebung, Mitglieder, Kommunistische Partei Iran, KPI
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; VwVfG § 51 Abs. 3; BGB § 209; AsylVfG § 78 Abs. 4
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für iranischen Staatsangehörigen wegen exilpolitischer Betätigung für Komala-Partei; Mitglieder und Aktivisten der Komala sind bereits bei einfacher exilpolitischer Betätigung gefährdet; fallen Nachfluchtgründe in den Zeitraum, in dem ein Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt, aber noch nicht entschieden ist, beginnt die Drei-Monats-Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG erst bei Ablehnung des Antrags.

(Leitsaz der Redaktion)

 

Erfolg hat die Berufung aber in Bezug auf die vom Kläger beantragte Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG.

Ein das Bundesamt gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens zwingender beachtlicher Folgeantrag liegt im Falle einer geltend gemachten Sachverhaltsänderung im Sinne von § 51 Aas. 1 Nr. 1 VwVfG dann vor, wenn sich der Asylbewerber substantiiert und widerspruchsfrei auf einen nachträglich eingetretenen Sachverhalt beruft, aus dem sich die nicht gänzlich fern liegende Möglichkeit ergibt, dass auf seiner Grundlage dem Begehren nunmehr zu entsprechen ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 23. Juni 1987 - BVerwG 9 C 251.86 -, BVerwGE 77, 323 [326], und vom 25. Juni 1991 - BVerwG 9 C 33.90 -, Buchholz 402.25 § 14 AsylVfG Nr. 10). Diesen Anforderungen hat der Kläger mit seinem Vortrag zur Begründung des Folgeantrags vom 23. September 2003 genügt.

Mit diesem Vorbringen ist der Kläger nicht etwa deshalb ausgeschlossen, weil er sich auf den erwähnten neuen Sachverhalt nicht innerhalb einer Frist von drei Monaten nach dessen Entstehen berufen hat. Zwar ist der Grund für das Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in Verbindung mit § 51 Abs. 3 VwVfG grundsätzlich innerhalb von drei Monaten nach Kenntniserlangung der hierfür maßgeblichen Tatsachen geltend zu machen. Dies gilt jedoch nicht, wenn der Asylbewerber - wie im vorliegenden Fall der Kläger - von einer Sachverhaltsänderung zu einem Zeitpunkt Kenntnis erlangt, in dem nach Abweisung seiner Asylklage in erster Instanz über einen von ihm gestellten Antrag auf Zulassung der Berufung gemäß § 78 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG noch nicht mit der Folge der Rechtskraft der Klageabweisung (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG) entschieden worden ist. Den neuen Sachverhalt zum Gegenstand eines Asylfolgeantrags zu machen, ist dem Asylbewerber in diesem Fall verwehrt, denn ein solcher ist nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG erst nach unanfechtbarer Ablehnung des früheren Asylantrags statthaft. Wegen der auf die Tatbestände nach § 78 Abs. 3 AsylVfG beschränkten Gründe für die Zulassung der Berufung kann der Asylkläger den neuen Sachverhalt mit Erfolg auch nicht in dem noch laufenden Zulassungsverfahren einbringen und hierauf gestützt rügen, dass durch das Verwaltungsgericht unrichtig entschieden worden sei. Mit Rücksicht auf diese prozessualen Besonderheiten ist der Beginn der Drei-Monats-Frist gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, § 51 Abs. 3 VwVfG bis zum Eintritt der Rechtskraft des Urteils erster Instanz (hier durch den Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 2. September 2003 - 11 UZ 570/03.A -) in entsprechender Anwendung von § 209 BGB gehemmt (OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 18. Februar 2000 - 10 A 11821/98 -, NVwZ 2000, Beil. Nr. 7, 84; Funke-Kaiser in: Gemeinschaftskommentar zum AsylVfG, Stand: September 2003, Rdnr. 170 zu § 71 AsylVfG, jeweils mit weiteren Nachweisen). Die danach erst ab Rechtskraft des Urteils vom 5. Februar 2003 laufende Frist gemäß § 51 Abs. 3 VwVfG hat der Kläger eingehalten.

Der Kläger hat auf Grund seines Asylfolgeantrags Anspruch darauf, dass zu seinen Gunsten ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG festgestellt wird. Ihm droht bei Rückkehr in den Iran wegen seines exilpolitischen Engagements für die Komala in Deutschland politische Verfolgung.

Der Kläger hat hierzu mit Schriftsatz seiner früheren Prozessbevollmächtigten vom 10. Mai 2004 einen weiteren von ihm verfassten, in der Ausgabe Nr. 153 der "Khabar Nameh" vom 24. April 2004 unter seinem Namen veröffentlichten und im Internet im Archiv der Website "www.komala.org" hinterlegten Beitrag mit dem Titel "Das Islamische Regime und die Menschenrechte in einem kurzen Überblick" vorgelegt. Mit am 1. August 2005 bei dem Verwaltungsgericht Kassel eingegangenem Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom gleichen Tag hat der Kläger vorgetragen, er habe bei einer von verschiedenen politischen Gruppen in Hannover veranstalteten Maikundgebung im Namen der Komala vor etwa 500 Personen eine (dem erwähnten Schriftsatz in deutscher Sprache beigefügte) politische Erklärung vorgelesen.

Nach Überzeugung des Senats hat sich der Kläger jedenfalls durch seinen Auftritt bei der Maikundgebung in Hannover im Jahre 2005 der ernsthaften Gefahr politischer Verfolgung bei Rückkehr in den Iran ausgesetzt.

Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass dieser Auftritt den Sicherheitsbehörden im Iran bekannt geworden ist. Wie bereits in den Grundsatzentscheidungen der vormals zuständigen Senate des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (etwa Urteile vom 23. November 2005 - 11 UE 3311/04.A - und vom 3. November 1998 - 9 UE 1492/95 -) unter Bezug auf zahlreiche Erkenntnisquellen umfassend dargelegt wurde, entfaltet der iranische Staat über seine Auslandsvertretungen und andere Stellen (z.B. hier ansässige iranische Wirtschaftsunternehmen) eine breit angelegte geheimdienstliche Tätigkeit zur Überwachung letztlich aller im westlichen Ausland und deshalb auch in Deutschland aktiven politischen Gruppierungen, die in offener Gegnerschaft zum Regime in ihrem Heimatland stehen. Hieran hat sich erkennbar nichts geändert (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 21. September 2006, Seite 30; Bundesamt für Verfassungsschutz, Auskunft vom 30. August 2006 an das Verwaltungsgericht Osnabrück). Die Exilorganisation der Komala in Deutschland, der der Kläger angehört, steht dabei nach der überzeugenden Einschätzung des Deutschen Orient-Instituts in seiner vom Senat eingeholten Auskunft vom 25. Januar 2007 (Seite 17) in besonderer Weise im Blickpunkt der iranischen Stellen und ihrer zur Ausspähung exilpolitischer Aktivitäten eingesetzten Hilfspersonen. Dieses besondere Interesse der iranischen Machthaber an der Überwachung der Aktivitäten der Komala in Deutschland und der Identifizierung der hier für sie aktiven Iraner resultiert aus der weit überdurchschnittlichen Bedeutung, die dieser Gruppierung in den Augen des iranischen Regimes im Spektrum der im In- und Ausland operierenden Opposition zukommt. Nach dem Inhalt der erwähnten Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom 25. Januar 2007 ergibt sich diese besondere Bedeutung aus folgendem geschichtlich-politischen Hintergrund:

Die Komala ist eine der beiden großen und innenpolitisch bedeutsamen Organisationen der iranischen Kurden.

Den - angesichts der herrschenden Verhältnisse aussichtslosen - bewaffneten Kampf gegen das herrschende Regime hat die Komala aufgegeben. Auch ihr innenpolitischer Einfluss ist vergleichsweise gering, da die im Iran verbotene Organisation nur im Untergrund und ohne ein offen hervortretendes organisatorisches Netz arbeiten kann. Gleichwohl ist die Komala als eine Verbindung Gleichgesinnter im Spektrum der linksgerichteten sozialistisch-kommunistisch eingestellten Kurden im Land präsent und stellt die letztlich allein übrig gebliebene politische Struktur innerhalb der kurdischen Opposition dar. Darüber hinaus hat die Komala auch als strategisches Element eine gewisse politische Bedeutung. Wegen der engen Stammes- oder Familienbeziehungen zu im Irak lebenden Kurden und dort bestehender gleichgesinnter Organisationen werden von irakischer Seite die Wirkungsmöglichkeiten der Komala im Iran dazu genutzt, um den iranischen Einfluss im Irak zurückzudrängen.

Soweit Aktivitäten von Mitgliedern und Aktivisten der Komala im Iran bekannt werden, sind die Betreffenden unnachsichtiger staatlicher Verfolgung ausgesetzt. Das Auswärtige Amt berichtet in seiner Auskunft vom 4. April 2007 an den Senat davon, dass die Regierung seit Herbst 2002 wieder verschärft gegen die Komala vorgehe. Zwischen Oktober 2002 und Januar 2003 seien hohe Gefängnisstrafen gegen angeblich radikale Mitglieder der Komala verhängt worden. In mindestens zwei Fällen seien Todesstrafen vollstreckt worden. Das Deutsche Orient-Institut weist in seiner im vorliegenden Verfahren erstellten Auskunft darauf hin, dass im September 2005 ein Mitglied der Organisation, das bereits in den 80-er Jahren als Aktivist der Komala aufgefallen und inhaftiert gewesen war, zum Tode verurteilt und gehängt worden sei. In anderen Fällen seien - teilweise nur im Umfeld der Komala - der Mitgliedschaft in der Organisation verdächtigte Personen zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt worden. Mehrere im Ausland lebende prominente Vertreter der Komala seien Anschlägen iranischer Agenten zum Opfer gefallen.

Die Komala gehört zu den im Iran (sämtlich) verbotenen politischen Organisationen, die wegen ihrer antiklerikalen und separatistischen Ausrichtung in besonders schroffem Gegensatz zur Politik der Regierung stehen und die - wie der Gutachter des Deutschen Orient-Instituts ausdrücklich bestätigt hat - wegen dieser unvereinbaren Gegensätze, ihrer Bedeutung als einzig verbliebener Repräsentantin der kurdischen Linksopposition und wegen der von ihr ausgehenden Bedrohung durch ihre Operationsbasis im Irak einem besonders großen Verfolgungsdruck ausgesetzt sind. Diese Umstände und die bekannt gewordenen Referenzfälle von Verfolgungen von Komala-Mitgliedern im Iran rechtfertigen die Einschätzung, dass im Iran auch solche Personen gezielter politischer Repression ausgesetzt sind, die sich - wie der Kläger - im westlichen Ausland lediglich als überzeugte und aktive Mitglieder der Komala offenbart haben. Für diesen Personenkreis geht auch der Gutachter des Deutschen Orient-Instituts von der Gefahr der Verhängung einer langjährigen Haftstrafe aus.

Der Grad der Gefährdung wegen exilpolitischer Betätigung übersteigt damit für Mitglieder der Komala denjenigen, der für Mitglieder und Anhänger anderer Exilorganisationen, wie etwa der der Monarchisten angenommen wurde. Für Angehörige dieser Gruppierungen wurde in der Rechtsprechung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs eine beachtliche Verfolgungsgefährdung nur für besonders hervorgehobene Funktionäre angenommen (vgl. zuletzt Urteil vom 23. November 2005 - 11 UE 3311/04.A -). Die Übertragung dieser Grundsätze auf Mitglieder der Komala ist aus den genannten Gründen nicht gerechtfertigt. Anders als die in ihrem Wirkungskreis auf das Ausland beschränkten Exilgruppierungen wirkt die Komala durch die politischen Bindungen im Iran und Irak durchaus auf die Verhältnisse im Iran ein und stellt folglich aus der Sicht der iranischen Machthaber eine ungleich höhere Bedrohung dar. Der von dem Auswärtigen Amt in seiner Auskunft vom 4. April 2007 hervorgehobene Umstand, dass den iranischen Stellen bekannt sei, dass exilpolitische Aktivitäten zur Schaffung von Nachfluchtgründen entwickelt würden und Personen wegen ihres niedrigen politischen Niveaus nicht in den Fokus der geheimdienstlichen Überwachung gerieten, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Eine solche nachsichtige Behandlung kann - wenn überhaupt - nur bei bloßen Mitläufern der Komala in Betracht gezogen werden, bei denen die Absicht zur Schaffung von Nachfluchtgründen deutlich erkennbar ist. Bei der Entfaltung darüber hinaus gehender Aktivitäten der hier vorliegenden Art ist dagegen von einer ernstlichen Gefährdung von bekannt gewordenen Komala-Aktivisten auszugehen.