VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 15.06.2007 - 4 A 151/05 MD - asyl.net: M11161
https://www.asyl.net/rsdb/M11161
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für alleinstehende, westlich orientierte Frau aus dem Irak.

 

Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Machtwechsel, Baath, alleinstehende Frauen, Frauen, Flüchtlingsfrauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, westliche Orientierung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für alleinstehende, westlich orientierte Frau aus dem Irak.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 29.03.2005 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Beklagte hat ihren Bescheid vom 13.01.2002, mit dem das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festgestellt worden ist, zu Unrecht widerrufen. Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 1 AufenthG (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 VwGO).

Das Gericht ist in Anwendung der vorstehend aufgeführten Vorschriften davon überzeugt, dass der Klägerin bei einer Rückkehr in den Irak unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles, insbesondere wegen ihrer selbst gewählten (westlich orientierten) Lebensweise landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit geschlechtsspezifische Verfolgung droht.

Die Überzeugung des Gerichts gründet sich zunächst auf eine Auswertung der vorliegenden Erkenntnismittel, insbesondere der Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 24.11.2005, 29.06.2006 und 11.01.2007, auf das von der Klägerin vorgelegte Gutachten von Eva Savelsberg und Siamend Hajo vom 11.07.2005 für das VG Köln sowie auf die Anmerkungen des UNHCR zur gegenwärtigen Situation der Frauen im Irak vom April 2005 und November 2005. In diesen Unterlagen wird im Wesentlichen übereinstimmend ausgeführt, die mit dem Sturz der ehemaligen irakischen Regierung eingeleiteten politischen Veränderungen hätten bislang kaum zu nennenswerten praktischen Verbesserung der Situation irakischen Frauen geführt (vgl. z.B. Nr. 4 der aktualisierten Anmerkungen des UNHCR vom November 2005). Den genannten Unterlagen ist ferner zu entnehmen, dass sich sexuelle Übergriffe auf Frauen häuften sich und sie praktisch nicht mehr ohne männliche Begleitung reisen könnten.

Für die dargestellte Gefahrenprognose des Gerichts ist zum einen von ausschlaggebender Bedeutung, dass die Klägerin - anders als in den von der Kammer durch Urteil vom 14.08.2004 - 4 A 454/04 MD - und vom Oberverwaltungsgericht Lüneburg durch Beschluss v. 16.02.2006 (9 L B 27/03) entschiedenen Fällen - in ihrer Heimat als alleinstehende Frau leben muss und auch nicht im Nordirak in einem Familienverbund leben kann oder dort über gesellschaftliche Kontakte verfügt (zu dieser Voraussetzung vgl. Verwaltungsgericht Magdeburg, Urteil vom 19.11.2001 - 9 A 741/00 MD -, S. 9 des Urteilsabdrucks).

Zum anderen ist für die Annahme einer geschlechtsspezifischen Verfolgung der Klägerin von besonderer Bedeutung, dass die Klägerin - wovon sich das Gericht in der mündlichen Verhandlung einen nachhaltigen persönlichen Eindruck verschafft hat -, in der Bundesrepublik Deutschland die westlichen Lebensvorstellungen und die hiesige Lebensweise weitgehend übernommen hat und derzeit als Studentin ein entsprechendes Leben führt.

Bei diesen Wertvorstellungen der Klägerin und angesichts ihrer noch nicht abgeschlossenen Hochschulausbildung ist es für sie bei einer Rückkehr in den Irak nach Kirkuk oder Arbil als alleinstehende Frau ohne abgeschlossene Berufsausbildung und ohne den Schutz eines Ehemannes oder der eigenen Familie sehr schwer, ihren Lebensunterhalt sicherzustellen. Hinzu kommt, dass die Klägerin bei ihren Moral- und Lebensvorstellungen unter Berücksichtigung der derzeit ohnehin schlechten Sicherheitsbedingungen im Irak nach der Überzeugung des Gerichts innerhalb kürzester Zeit mit Bedrohungen, Belästigungen und Angriffen zu rechnen hat (zu einem ähnlichen Fall vgl. VG Göttingen, Urteil vom 31.01.2006 - 2 A 227/05 -, veröffentlicht in der Rechtsprechungsdatenbank des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts).

Soweit demgegenüber die Beklagte die Auffassung vertritt, die Klägerin hebe sich, bezogen auf die dargestellten Gefährdungen, nicht aus der Masse irakischer Frauen durch irgendwelche Besonderheiten heraus, vermag das Gericht dieser Einschätzung angesichts der glaubhaften Darlegungen der Klägerin zu einer konkreten Verfolgung u.a. durch Verwandte nicht zu folgen. Der allgemeine Hinweis der Beklagten, für das Heimatland der Klägerin sei davon auszugehen, dass über die Kernfamilie hinaus immer eine Einbindung in größere Strukturen, Clans und Stämme erfolge und innerhalb dieser Strukturen auch Hilfe, Unterstützung und Schutz gewährt werde, wird der glaubhaft geschilderten individuellen Gefahrensituation der Klägerin nicht gerecht. Insbesondere die Behauptung der Beklagten, die im Irak lebenden Verwandten der Klägerin mütterlicherseits würden sie unterstützen, trifft konkret nicht zu.