OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22.06.2007 - 2 A 4861/05 - asyl.net: M11209
https://www.asyl.net/rsdb/M11209
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Bundesvertriebenengesetz, Aufnahmebescheid, Spätaussiedler, Vertriebenenstatus, Sprachkenntnisse, deutsche Volkszugehörigkeit, Sprachtest, Auslandsvertretung, Sachaufklärungspflicht
Normen: BVFG § 26 Abs. 1; BVFG § 4 Abs. 1; BVFG § 6 Abs. 2
Auszüge:

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheides; Ausgangs- und Widerspruchsbescheid des Bundesverwaltungsamtes sind rechtmäßig, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.

Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG wird der Aufnahmebescheid auf Antrag Personen mit Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten erteilt, die nach der Begründung des ständigen Aufenthaltes im Geltungsbereich des Gesetzes die Voraussetzungen als Spätaussiedler erfüllen.

Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin nicht. Spätaussiedler aus dem hier in Rede stehenden Aussiedlungsgebiet der ehemaligen Sowjetunion kann nach § 4 Abs. 1 BVFG nur sein, wer deutscher Volkszugehöriger ist. Da die Klägerin nach dem 31. Dezember 1923 geboren ist, kann sie nur unter den Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 BVFG deutsche Volkszugehörige sein.

Das Bekenntnis der Klägerin zum deutschen Volkstum wird jedoch nicht durch die familiäre Vermittlung der deutschen Sprache bestätigt, § 6 Abs. 2 Satz 2 BVFG.

Für die Fähigkeit, ein einfaches Gespräch auf Deutsch zu führen, muss sich der Antragsteller über einfache Lebenssachverhalte aus dem familiären Bereich (z.B. Kindheit, Schule, Sitten und Gebräuche), über alltägliche Situationen und Bedürfnisse (Wohnverhältnisse, Einkauf, Freizeit, Reisen, Wetter u.ä.) oder die Ausübung eines Berufs oder einer Beschäftigung - ohne dass es dabei auf exakte Fachbegriffe ankäme - unterhalten, d.h. sprachlich verständigen können. Dabei reicht ein nur punktuelles Sich-verständlich-Machen nicht aus, sondern erforderlich ist ein, wenn auch einfacher und begrenzter, Gedankenaustausch mit dem Gesprächspartner zu bestimmten Themen. In formeller Hinsicht genügt den Anforderungen des Gesetzes eine einfache Gesprächsform. Erforderlich ist zum Einen die Fähigkeit zu einem sprachlichen Austausch über die oben genannten Sachverhalte in grundsätzlich ganzen Sätzen, wobei begrenzter Wortschatz und einfacher Satzbau genügen und Fehler in Satzbau, Wortwahl und Aussprache nicht schädlich sind, wenn sie nach Art oder Zahl dem richtigen Verstehen nicht entgegenstehen. Erforderlich ist zum Anderen ein einigermaßen flüssiger Austausch in Rede und Gegenrede. Ein durch Nichtverstehen bedingtes Nachfragen, Suchen nach Worten oder stockendes Sprechen, also ein langsameres Verstehen und Reden als zwischen in Deutschland aufgewachsenen Personen, steht dem erst entgegen, wenn Rede und Gegenrede so weit oder so oft auseinander liegen, dass von einem Gespräch als mündlicher Interaktion nicht mehr gesprochen werden kann. Nicht ausreichend sind demgemäß Aneinanderreihungen einzelner Worte ohne Satzstruktur oder insgesamt nur stockende Äußerungen. Der Antragsteller muss aber weder über einen umfassenden deutschen Wortschatz verfügen noch in grammatikalisch korrekter Form bzw. ohne gravierende grammatikalische Fehler sprechen können noch eine deutlich über fremdsprachlich erworbene Kenntnisse hinausgehende Sprachfähigkeit besitzen (vgl. BVerwG, Urteile vom 4. September 2003 - 5 C 33.02 -, BVerwGE 119, 6, und - 5 C 11.03 -, DVBl. 2004, 448).

Diese Anforderungen erfüllte die Klägerin zur Überzeugung des Senats im Zeitpunkt der verwaltungsbehördlichen Entscheidung über ihren Aufnahmeantrag nicht. Dies folgt allerdings nicht schon aus der Niederschrift des "Sprachtests" während der Anhörung der Klägerin am 23. August 2001 vor der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland B1. in L. Der mit der Klägerin durchgeführte Sprachtest bietet nämlich keine hinreichende Grundlage für die Feststellung der Sprachkenntnisse im hier maßgeblichen Zeitpunkt der letzten verwaltungsbehördlichen Entscheidung über den Aufnahmeantrag.

Zwar obliegt es zunächst grundsätzlich der mit der Durchführung des Bundesvertriebenengesetzes betrauten Behörde nach § 24 VwVfG zu ermitteln, ob sämtliche Voraussetzungen der deutschen Volkszugehörigkeit vorliegen. Dazu gehört auch die Befugnis, sich der nach Maßgabe des Gesetzes erforderlichen deutschen Sprachkenntnisse des Antragstellers zu vergewissern, wobei die Behörde Art und Umfang ihrer Ermittlungen nach pflichtgemäßem Ermessen bestimmt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. Juni 2004 - 5 B 32/03 -, juris).

Diese behördliche Feststellung und Beurteilung der Sprachbeherrschung unterliegt jedoch auch nach Änderung des § 6 Abs. 2 Satz 3 BVFG durch das Siebte Gesetz zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes wie alle behördlichen Entscheidungen im Rahmen eines gegen die ablehnende Entscheidung gerichteten Verfahrens der gerichtlichen Kontrolle. Erweist sich daher die Niederschrift über den Sprachtest in formeller oder inhaltlicher Hinsicht nach Art oder Umfang als nicht hinreichend aussagekräftig, um in Anwendung oben aufgeführter Maßgaben feststellen zu können, ob die deutschen Sprachkenntnisse des Betroffenen zum gesetzlich vorgesehenen Zeitpunkt den Anforderungen des § 6 Abs. 2 Satz 3 BVFG genügten, ist die Sachverhaltsermittlung im gerichtlichen Verfahren nachzuholen, wenn und soweit der Vortrag der Klägerseite seiner Schlüssigkeit und Substanz nach Anlass zu der Annahme bietet, dass der Betreffende im Zeitpunkt der verwaltungsbehördlichen Entscheidung über den Aufnahmeantrag zu einem einfachen Gespräch auf Deutsch in der Lage war.

In Anwendung dieser Grundsätze kann allein auf Grund der Niederschrift über die Anhörung der Klägerin zu ihren Sprachkenntnissen durch die Beklagte ("Sprachtest") keine abschließende Feststellung dazu erfolgen, ob die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 Satz 3 BVFG vorliegen. Denn wie von der Klägerin zutreffend gerügt, bietet der Inhalt der Niederschrift keine hinreichende Grundlage für eine solche Feststellung. Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass unter bestimmten Umständen auch ein Sprachtest - wie hier - mit elf Fragen ausreichen kann, um das Vorhandensein oder das Fehlen deutscher Sprachkenntnisse des Aufnahmebewerbers festzustellen. Im gegebenen Fall genügt die Niederschrift der Fragen und Antworten jedoch aus folgenden Gründen den rechtlichen Anforderungen nicht: Zum einen ist dem Protokoll der konkrete Verlauf des Sprachtests nicht mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen. Es fehlt an Angaben dazu, wie lange die Anhörung dauerte, ob Fragen wiederholt oder umformuliert werden mussten und ob der Klägerin ausreichend Zeit zur Beantwortung der Fragen, auch zu längeren Ausführungen, gelassen wurde; auch enthält die Niederschrift keine genügenden Hinweise darauf, ob und in welchem Umfang die Antworten auf die gestellten Fragen flüssig oder stockend und mit Pausen versehen erfolgten.

Aufgrund dieser persönlichen Anhörung der Klägerin steht zur Überzeugung des Senats fest, dass sie im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung über ihren Aufnahmeantrag zu einem einfachen Gespräch auf Deutsch nicht in der Lage war. Denn die Anhörung hat gezeigt, dass die Klägerin schon gegenwärtig zu einem einfachen Gespräch auf Deutsch nicht fähig ist; da Anhaltspunkte dafür fehlen, dass sich ihre Sprachkenntnisse seit Dezember 2003 - dem Zeitpunkt, in dem der Widerspruchsbescheid erlassen worden ist - verschlechtert haben, rechtfertigt das gegenwärtige Fehlen hinreichender Deutschkenntnisse den Schluss, dass die Fähigkeit zu einem einfachen Gespräch auf Deutsch auch im gesetzlich nunmehr vorgesehenen Zeitpunkt nicht vorhanden war.