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VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 05.09.2007 - 3 A 351/04 - asyl.net: M11480
https://www.asyl.net/rsdb/M11480
Leitsatz:

Einbürgerung albanischer Volkszugehöriger aus Serbien unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit

 

Schlagwörter: Serbien, Kosovo, Aufenthaltserlaubnis, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, fachärztliche Stellungnahme, medizinische Versorgung, interne Fluchtalternative, Registrierung, Albaner, Prozesskostenhilfe, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Klagefrist, Verfahrensrecht, Fristen, Verschulden
Normen: AufenthG § 25 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 7; VwGO § 60 Abs. 1
Auszüge:

Einbürgerung albanischer Volkszugehöriger aus Serbien unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage hat Erfolg.

Sie ist zulässig. Den Klägern war wegen Versäumung der Klagefrist gemäß § 60 VwGO antragsgemäß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, da sie am 23.12.2004 - und damit noch vor Ablauf der Klagefrist - beim erkennenden Gericht einen Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe gestellt und nachgewiesen haben, dass sie nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage sind, das gerichtskostenpflichtige Klageverfahren zu betreiben. Damit steht fest, dass sie ohne Verschulden gehindert waren, die Klagefrist einzuhalten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.05.1985 - 7 C 4.85 -, Buchholz 310 § 60 Nr. 147 S. 47/48).

Die Klage ist auch begründet. Die Kläger können von dem Beklagten jeweils die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen; der ablehnende Bescheid des Beklagten vom 30.11.2005 verletzt sie in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Im Falle der Kläger sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG für die Erteilung jeweils einer Aufenthaltserlaubnis gegeben. Denn bei den Klägern liegt entgegen der Ansicht des Beklagten jeweils ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor, weil ihnen im Falle einer Rückkehr nach Serbien (einschließlich Kosovo) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit konkrete Gefahren für Leib und Leben drohen würden.

Die unter dem 13.09.2006 gutachterlich festgestellte - unabhängig davon schon unter dem 22.02.2006 amtsärztlich und später unter dem 31.07.2007 auch fachärztlich als diagnostisch gesichert angesehene - psychische Erkrankung der Klägerin zu 1) - eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F 43.1) mit psychogenen Anfällen sowie traumabezogenen halluzinatorischen Symptomen, die seit März 2006 regelmäßig psychotherapeutisch in ambulanten Gesprächen im Niedersächsischen Landeskrankenhaus Göttingen behandelt wird und die wegen der Chronifizierung und der Schwere der Störung dringend weiterer regelmäßiger psychotherapeutischer Behandlung bedarf (vgl. ärztliche Stellungnahme vom 31.07.2007 (GA 141) - ist nach der aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung des Gerichts auf psychisch sehr stark belastende Ereignisse bei ihrer Flucht mit ihren beiden kleinen Kindern, dem damals knapp sechs Jahre alten Kläger zu 2) und der damals etwa dreieinhalb Jahre alten Tochter, im Frühjahr 1999 zurückzuführen, insbesondere auf Bedrohungen und Aggressivitäten bei der Vertreibung aus ihrem Haus und bei der anschließenden überstürzten Flucht zur mazedonischen Grenze durch seinerzeit als teilweise sehr brutal geltende serbische Polizisten (vgl. Fachgutachten vom 13.09.2006, S. 41 i.V.m. S. 20 ff.). Das Gericht hält das Fluchtschicksal der Klägerin zu 1) für glaubhaft und ist davon überzeugt, dass sie im Frühjahr 1999 teilweise massiven Gewalterfahrungen ausgesetzt gewesen ist, indem sie etwa - wie auf Seite 21 des Fachgutachtens vom 13.09.2006 benannt - hat mit ansehen müssen, wie serbische Polizisten einen Kosovo-Albaner an einen Baum gefesselt und ihm das Fleisch "scheibchenweise vom Leib geschnitten" hätten. Das Gericht hält es für glaubhaft, dass die von der Klägerin gemachten psychisch sehr stark belastenden Erfahrungen im Kosovo in der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich nach der Geburt ihres dritten Kindes im März 2000 reaktiviert worden sind und zu einer massiven behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung geführt haben.

Unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnismittel ist davon auszugehen, dass im Kosovo eine fachgerechte psychotherapeutischer Behandlung ernsthafter psychischer Erkrankungen - wie sie sowohl bei der Klägerin zu 1) als auch beim Kläger zu 2) vorliegen - nicht möglich ist (so bereits rechtskräftiges Urteil des erkennenden Gerichts vom 04.05.2007 - 3 A 360/04 - UA S. 6 f. - unter Hinweis auf: Karsten Lüthke, ehemaliger Repatriation Adviser der UNMIK im Kosovo, Bericht vom Februar 2007 "Perspektiven bei einer Rückkehr in das Kosovo, insbesondere für Angehörige ethnischer Minderheiten", B.IV. S. 7 m.w.N., insoweit nicht in Asylmagazin 2007, 28 ff., abgedruckt; UN Kosovo Team, Bericht vom Januar 2007 "Erste Beobachtungen zu Defiziten im Gesundheitsversorgungssystem im Kosovo", deutsche Übersetzung von UNHCR Berlin, März 2007, Asylmagazin 2007, 31/32; Memorandum des Gesundheitsministers der provisorischen Selbstverwaltungsorgane im Kosovo an die internationale Gemeinschaft zu Behandlungskapazitäten für Menschen, die an posttraumatischen Belastungsstörungen und ähnlichen Krankheiten leiden, vom 30.10.2006, deutsche Übersetzung von UNHCR Berlin, Januar 2007; Gierlichs, "Zur psychiatrischen Versorgung im Kosovo", ZAR 2006, 277 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gutachten zur Behandlung einer psychischen Erkrankung in Kosovo vom 02.05.2005, S. 4 f. und S. 8). An dieser Auffassung, an der festgehalten wird, sieht sich das erkennende Gericht insbesondere durch die ausführliche und inhaltlich für zutreffend gehaltene Analyse der Schweizerischen Flüchtlingshilfe "Kosovo - Zur Lage der medizinischen Versorgung - Update vom 07.06.2007" bestätigt, wo auf Seite 12 unter 4.3.4 u.a. festgestellt wird: "Die Mängel und Defizite bei Behandlungen psychischer Erkrankungen sind nach unseren Recherchen über die Jahre unverändert geblieben. Anzeichen für grundlegende Verbesserungen der therapeutischen Kapazitäten sind nicht in Sicht. Das therapeutische Angebot bei posttraumatischer Belastungsstörung (PTSD) ist in den Spitälern nach wie vor medikamentös, reguläre Psychotherapie wird nicht angeboten. Zwar gibt es das Angebot für Gespräche, die in recht großen Abständen möglich sind (z.B. im Neuropsychiatrischen Universitätsspital Pristina als der größten Klinik ist ein 20 bis 30 Minuten dauerndes Gespräch alle acht bis zwölf Wochen möglich. Dieses dreht sich vor allem um die Erläuterung und Kontrolle der Medikation). Die behandelnden Ärzte gehen selbst nicht davon aus, dass diese Gespräche die Bezeichnung "Psychotherapie" verdienen. Auch die Gesundheitshäuser und "Mental Health Centres" bieten keine Psychotherapie an." Weil hiernach im Kosovo für Psychotherapie, die diesen Namen verdienen würde, die Kapazitäten fehlen, steht für das Gericht fest, dass sich der Gesundheitszustand der Kläger im Falle einer Rückkehr in den Kosovo wesentlich verschlechtern würde.

Nach der Überzeugung des Gericht ist eine regelmäßige und längerfristige ambulante Psychotherapie - wie sie seit März 2006 bei der Klägerin zu 1) und seit Anfang September 2006 beim Kläger zu 2) durchgängig in Einzelgesprächen durchgeführt wird - dringend indiziert; eine nur medikamentöse Behandlung reicht nicht aus, um eine angemessene Stabilisierung und das Verhindern einer sukzessiven Verschlechterung des Gesamtbefindens der Kläger zu gewährleisten.

Den Klägern drohen wegen ihrer schwerwiegenden psychischen Erkrankungen auch landesweit Gefahren im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Sie können nicht darauf verwiesen werden, sich im übrigen Serbien (außerhalb des Kosovo) psychotherapeutisch behandeln zu lassen. In Serbien ist der Zugang zur Gesundheitsversorgung außerhalb des Kosovo von einer Anmeldung mit ständigem Wohnsitz bzw. einer Registrierung als Binnenvertriebener abhängig (vgl. UNHCR, Zur Situation von binnenvertriebenen Minderheiten, September 2004, und Stellungnahme vom 27.09.2005 an VG Stuttgart). Aus dem Kosovo stammende ethnische Albaner können in Serbien nicht als intern Umgesiedelte angesehen werden, da davon ausgegangen wird, dass gegen eine Rückkehr dieses Personenkreises in die jeweiligen Heimatorte im Kosovo keine Sicherheitsbedenken bestehen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 24.05.2004 an VG Bremen). In der Praxis ist im Falle der Rückkehr aus dem Ausland eine Registrierung nur in der Gemeinde des letzten Wohnsitzes möglich (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 21.10.2004 an VG Sigmaringen; OVG Lüneburg, Beschluss vom 03.11.2005 - 8 LA 322/04 -, InfAuslR 2006, 63).