VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 25.09.2007 - A 5 K 63/07 - asyl.net: M11779
https://www.asyl.net/rsdb/M11779
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung für türkischen Staatsangehörigen bei Verdacht der Unterstützung der PKK.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Änderung der Sachlage, Verdacht der Unterstützung, PKK, Reformen, Menschenrechtslage, politische Entwicklung, Kurden, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Inhaftierung, Folter, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung für türkischen Staatsangehörigen bei Verdacht der Unterstützung der PKK.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist zulässig und begründet. Die Voraussetzungen für einen Widerruf der Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter liegen nicht vor.

Es ist derzeit nicht erkennbar, dass sich die zum hier entscheidungserheblichen Zeitpunkt maßgeblichen Verhältnisse in der Türkei in Bezug auf die Verfolgung eines Rückkehrers, der einen PKK- oder Separatismusverdacht auf sich gezogen hat, derart erheblich und dauerhaft geändert hätten, dass das BAMF in Anwendung des hier maßgeblichen herabgestuften Prognosemaßstabs zu einem Widerruf der Asylanerkennung des Klägers berechtigt und verpflichtet gewesen ist (vgl. im Ergebnis ebenso etwa VG Karlsruhe Urteile vom 02.02.2007 - A 5 K 696/06 - und vom 08.12.2006 - A 7 K 99/06 -; VG Stuttgart Urteil vom 15.05.2006 - A 11 K 711/06 -; VG Minden Urteil vom 28.07.2006 - 8 K 275/06.A-; VG Ansbach Urteil vom 20.03.2007 - AN 1 K 06.30862 -). Zwar hat sich die innenpolitische Situation in der Türkei in den letzten Jahren entspannt. Insgesamt wurden seit 2002 acht sog. "Reformpakete" verabschiedet, die in kurzer Zeit umwälzende gesetzgeberische Neuerungen brachten. Allerdings geht die Implementierung einiger der neuen Gesetze langsamer vonstatten als erwartet. Strukturelle Probleme bestehen fort. Die Bekämpfung von Folter und Misshandlungen sowie ihre lückenlose Strafverfolgung ist noch nicht in der Weise zum Erfolg gelangt, dass solche Fälle überhaupt nicht mehr vorkommen. Amnesty international (vgl. Länderkurzinfo v. 31.07.2005) berichtet etwa, laut türkischen Anwalts- und Menschenrechtsorganisationen komme die Verwendung von unter Folter erpressten Aussagen und Geständnissen weiterhin vor. Trotz Verbesserungen auf rechtlicher Ebene seien Folter und Misshandlungen noch immer weit verbreitet. Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) hält in seinem Dienstreisebericht vom 25.04.2006 fest, dass die schweren Menschenrechtsverletzungen in den Jahren 2004 und 2005 zwar erheblich zurückgegangen seien, sich seit Ende 2005 jedoch wieder ein Anstieg von Folter und Misshandlungen durch "subtilere" Methoden abzeichnet. Auch das Auswärtige Amt bezeichnet die Strafverfolgung von Foltertätern trotz aller gesetzgeberischen Maßnahmen und trotz einiger Verbesserungen immer noch als unbefriedigend. Allerdings haben die Übergriffe an Zahl und vor allem an Intensität nachgelassen, Fälle schwerer Folter kommen nur noch vereinzelt vor (vgl. Lagebericht des AA v. 11.01.2007, insbesondere S. 5, 9, 37 f. und 47; Kaya v. 08.08.2005 an VG Sigmaringen; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 09.02.2006 - A 12 S 1505/04 - und Nieders. OVG, Urt. v. 18.07.2006 - 11 LB 75/06 -, juris).

Was den Minderheitenschutz und die Ausübung der kulturellen Rechte betrifft, hat sich die Situation der Kurden in den letzten Jahren verbessert.

Daraus kann jedoch nicht ohne weiteres geschlossen werden, dass Personen - wie der Kläger -, bei denen der Verdacht bzw. die Tatsache, mit der PKK in Verbindung zu stehen, rechtskräftig festgestellt wurde, gefahrlos in die Türkei zurückkehren können und hinreichend sicher vor erneuter politischer Verfolgung sind. Zwischen der PKK und den staatlichen Sicherheitskräften sind im Südosten der Türkei bewaffnete Auseinandersetzungen - mit ungünstigen innenpolitischen Auswirkungen - wieder aufgeflammt.

Schließlich hat das türkische Parlament als Reaktion auf das Wiedererstarken des PKK-Terrorismus am 29.06.2006 zahlreiche Verschärfungen im Anti-Terror-Gesetz verabschiedet, das am 18.07.2006 in Kraft getreten ist. Die von Menschenrechts-Organisationen und den Medien stark kritisierten Änderungen sehen u.a. eine Wiedereinführung des abgeschafften Art. 8 Anti-Terror-Gesetz (separatistische Propaganda), eine wenig konkret gefasste Terrordefinition, eine Ausweitung von Straftatbeständen, die Schwächung der Rechte von Verhafteten und eine Ausweitung der Befugnisse der Sicherheitskräfte vor. Das Anti-Terror-Gesetz in seiner veränderten Form droht die Meinungsfreiheit weiter zu beschneiden und ermöglicht für viele Handlungen, die nicht im Zusammenhang mit Gewaltakten stehen, die Verurteilung als Beteiligung an Terrordelikten. Das verschärfte Anti-Terror-Gesetz wird allgemein als Konzession an die türkischen Sicherheitskräfte angesehen (Lagebericht d. AA v. 11.01.2007, S. 16).

Vor dem Hintergrund dieser tatsächlichen Entwicklung in der Türkei kann in den Fällen vorverfolgter Asylbewerber aus der Türkei derzeit nicht generell eine hinreichende Verfolgungssicherheit angenommen werden. Die jüngste Entwicklung, soweit sie positiv zu beurteilen ist, ist nicht unumkehrbar. Weiter kann nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Kläger aufgrund des Verdachts, mit der PKK in Verbindung zu stehen, bei einer Einreise in die Türkei einem intensiven Verhör durch die Sicherheitskräfte unterzogen wird und dabei Gefahr läuft, misshandelt oder gefoltert zu werden. Bekannt gewordene oder vermutete Verbindungen zur PKK können bei der Einreise zur vorübergehenden Ingewahrsamnahme, zum Verhör durch die Grenzpolizei und ggf. durch die Terrorabteilung der Polizei führen (vgl. AA v. 21.11.2005 an VGH Hessen, Az. 508-516.80/44245). Auch Kaya führt aus, dass es möglich sei, als vermeintlicher PKK-Sympathisant oder -Unterstützer bei der Einreise in die Türkei festgenommen und einige Zeit festgehalten zu werden, wobei in einem solchen Fall mit einem Festhalten für maximal 24 Stunden zu rechnen sei. In diesem Zusammenhang nennt Kaya die jüngsten Änderungen des Anti-Terror-Gesetzes, die den Sicherheitskräften die Möglichkeit gegeben haben, willkürlich gegen Personen vorzugehen (Kaya v. 09.08.2006 an VG Berlin). Weiter hat Kaya (Gutachten v. 08.08.2005 an VG Sigmaringen) darauf hingewiesen, dass vorverfolgt ausgereiste Personen bei Rückkehr in die Türkei vor Verfolgung weiterhin nicht hinreichend sicher seien. Die Feststellung des Auswärtigen Amtes, dass in den letzten Jahren kein einziger Fall bekannt geworden sei, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter oder abgeschobener abgelehnter Asylbewerber gefoltert oder misshandelt worden sei, sei zwar zutreffend; unter den Zurückgekehrten oder Abgeschobenen habe sich nach seinen Informationen aber keine Person befunden, die Mitglied oder Kader der PKK oder einer anderen illegalen, bewaffneten Organisation gewesen sei oder als solche verdächtigt worden sei (Nieders. OVG, Urt. v. 18.07.2006 - 11 LB 75/06 -). Auch nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes ist es der Türkei bislang nicht gelungen, Folter und Misshandlungen vollständig zu unterbinden (Lagebericht d. AA v. 11.01.2007, S. 37 f.). Dass für den Kläger ungeachtet dessen aufgrund persönlicher Umstände eine hinreichende Verfolgungssicherheit angenommen werden könnte, ist nicht ersichtlich. Allein seine lange Abwesenheit aus der Türkei gibt keinen Anlass, seine Rückkehrgefährdung anders einzuschätzen.