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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 11.05.2007 - 2 BvR 2483/06 - asyl.net: M11810
https://www.asyl.net/rsdb/M11810
Leitsatz:

Es verstößt gegen den Schutz der Ehe gem. Art. 6 Abs. 1 GG, wenn Eheleute rechtlich besser gestellt wären, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft nicht bestünde (hier: Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts).

 

Schlagwörter: D (A), Ehegattennachzug, Aufenthaltserlaubnis, Verlängerung, Lebensunterhalt, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, eigenständiges Aufenthaltsrecht, Schutz von Ehe und Familie, Diskriminierungsverbot, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, Ausweisungsgrund, atypischer Ausnahmefall, Rechtsweggarantie, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt
Normen: GG Art. 6 Abs. 1; GG Art. 19 Abs. 4; VwGO § 80 Abs. 5; AufenthG § 31 Abs. 1; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 2 Abs. 3; AufenthG § 30 Abs. 3; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2; BVerfGG § 90 Abs. 2
Auszüge:

Es verstößt gegen den Schutz der Ehe gem. Art. 6 Abs. 1 GG, wenn Eheleute rechtlich besser gestellt wären, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft nicht bestünde (hier: Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts).

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von

§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 GG.

3. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG.

a) Art. 6 Abs. 1 GG verbietet es, Ehegatten im Vergleich zu Ledigen allein deshalb schlechter zu stellen, weil sie verheiratet sind (vgl. BVerfGE 69, 188 <205>; 114, 316 <333>; stRspr). Die eheliche Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft kann zwar zum Anknüpfungspunkt (wirtschaftlicher) Rechtsfolgen genommen werden. Jedoch müssen sich für eine Differenzierung zu Lasten Verheirateter aus der Natur des geregelten Lebensverhältnisses einleuchtende Sachgründe ergeben (BVerfGE 28, 324 <347>). Die Berücksichtigung der durch die eheliche Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft gekennzeichneten besonderen Lage der Ehegatten darf gerade bei der konkreten Maßnahme die Ehe nicht diskriminieren (BVerfGE 114, 316 <333>).

Indes gewährt Art. 6 GG nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt (vgl. BVerfGE 51, 386 <396 f.>; 76, 1 <47>; 80, 81 <93>).

Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen.

Aus dem Zusammenwirken der verfassungsrechtlichen Vorgabe aus Art. 6 Abs. 1 GG, grundsätzlich keine Differenzierung zu Lasten Verheirateter zu treffen - es sei denn, diese ist durch einen einleuchtenden Sachgrund gerechtfertigt -, einerseits und der Offenheit der Verfassung gegenüber Regelungen des Gesetzgebers und der vollziehenden Gewalt zum Aufenthaltsrecht von Fremden im Bundesgebiet andererseits folgt zunächst, dass der Gesetzgeber und die vollziehende Gewalt zwar trotz Bestehens einer von Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Beziehung unter Beachtung der familiären Bindungen im Einzelfall nicht von Verfassungs wegen zur Gewährung eines Aufenthaltsrechts gezwungen sein müssen. Jedoch verbietet es das aus Art. 6 Abs. 1 GG folgende Diskriminierungsverbot, ein Aufenthaltsrecht allein deswegen zu versagen, weil eine geschützte eheliche Lebensgemeinschaft besteht. Ein Rechtfertigungsgrund für eine solche Diskriminierung ist nicht vorstellbar.

b) Gemessen an diesen Grundsätzen halten die Erwägungen des Verwaltungsgerichts und des Oberverwaltungsgerichts, mit denen ein Anspruch des Beschwerdeführers auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis verneint worden ist, einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Art. 6 Abs. 1 GG ist bei der Entscheidung nicht hinreichend berücksichtigt, das aus dieser Norm folgende Diskriminierungsverbot nicht beachtet worden.

Die Rechtsanwendung der Gerichte hat zur Folge, dass der Beschwerdeführer im Falle der Aufgabe der ehelichen Lebensgemeinschaft einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels hätte und er allein wegen des Bestehens der ehelichen Lebensgemeinschaft kein Recht auf Aufenthalt in Deutschland haben soll. Diese Differenzierung ist nicht zu rechtfertigen.

aa) Aus den Behördenakten und den Feststellungen der Gerichte ergibt sich, dass der Beschwerdeführer im Falle der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft ein eigenständiges Aufenthaltsrecht gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG hätte, da er zur Zeit des Antrags auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis über zwei Jahre in ehelicher Lebensgemeinschaft rechtmäßig im Bundesgebiet gelebt hatte. Sein Einkommen reichte zumindest seit November 2005 aus, seinen eigenen Bedarf - gemessen an den Maßstäben des SGB II - zu decken, so dass – unbeschadet des § 31 Abs. 4 Satz 1 AufenthG - die Regelvoraussetzungen aus § 5 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG erfüllt gewesen sind. Hinweise darauf, dass die Aufenthaltserlaubnis aus anderen Gründen zu versagen wäre, lassen sich den vorliegenden Unterlagen nicht entnehmen.

Das Aufenthaltsrecht der Ehefrau des Beschwerdeführers ist nach den Feststellungen der Gerichte ebenfalls unabhängig vom Bestand der Ehe. Sie ist nämlich im Besitz einer Niederlassungserlaubnis und kann daher nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 AufenthG), so dass eine Ausweisung wegen Sozialhilfebezugs in Anwendung von § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG nicht in Betracht kommen kann.

Die den angegriffenen Entscheidungen zugrunde liegende Auffassung, wonach die Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1, § 2 Abs. 3 AufenthG) die Deckung des Bedarfs einer bestehenden Bedarfsgemeinschaft nach den Bestimmungen des SGB II zur Voraussetzung haben und zugunsten des Beschwerdeführers auch keine Ausnahme von der Regelvoraussetzung der so verstandenen Sicherung des Lebensunterhalts greifen soll, führt zu einer Schlechterstellung des Beschwerdeführers. Gerade weil er mit seiner Ehefrau in ehelicher Lebensgemeinschaft lebt, soll ihm kein Aufenthaltsrecht zustehen mit der Folge, dass seine Ehefrau und er die Ehe nur in der Türkei fortsetzen können, obwohl beide – jeweils für sich genommen – den Aufenthalt im Bundesgebiet beanspruchen können.

bb) Über den bereits festgestellten Umstand hinaus, dass die Schlechterbehandlung des Beschwerdeführers allein auf der von ihm geführten Ehe beruht, die Nichtverlängerung der Aufenthaltserlaubnis aber auch deswegen nicht gerechtfertigt, weil sie zur Erreichung des von der Ausländerbehörde und den Fachgerichten angenommenen Ziels - nämlich zur Entlastung des Sozialhaushaltes - ungeeignet ist. Der Beschwerdeführer selbst hat keinen Anspruch auf Sozialleistungen und erhält solche auch nicht. Das Aufenthaltsrecht seiner Ehefrau, die zumindest zum Zeitpunkt des Antrags des Beschwerdeführers auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis Leistungen nach dem SGB II bezog, besteht - wie dargelegt - unabhängig von dem Bezug dieser Leistungen.

cc) Das Aufenthaltsgesetz bietet auch hinreichend Möglichkeiten, der Bedeutung von Art. 6 Abs. 1 GG in der vorliegenden Fallgestaltung Rechnung zu tragen.

(1) Stellt man sich auf den in den angegriffenen Entscheidungen vertretenen Standpunkt, wonach sich die Sicherung des Lebensunterhalts auf die Bedarfsgemeinschaft erstreckt (so auch HessVGH, Beschluss vom 14. März 2006 - 9 TG 512/06 -, ZAR 2006, S. 145 <146> -; VG Stuttgart, Urteil vom 23. Januar 2006 - 4 K 3852/05 -, juris; Zeitler, HTK-AuslR/§ 2 AufenthG/zu Abs. 3 - Lebensunterhalt 03/2007 Nr. 2), so kann die Behörde gemäß § 30 Abs. 3 AufenthG von dem Vorliegen dieser Regelvoraussetzung absehen. Ihr Ermessen reduziert sich dann auf Null, wenn anders eine verfassungswidrige, allein an das Bestehen einer Ehe anknüpfende Diskriminierung des Beschwerdeführers nicht vermieden werden kann und andere - im Fall des Beschwerdeführers derzeit nicht ersichtliche - Umstände, die gegen eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis sprechen, nicht vorliegen.

(2) Es gibt aber auch gewichtige Stimmen in der Literatur, welche die Sicherung des Lebensunterhalts allein auf den einen Aufenthaltstitel begehrenden Ausländer beziehen (Funke-Kaiser, in: Gemeinschaftskommentar zum AufenthG, Stand: Mai 2006, § 2 Rn. 43.3; Renner, AuslR, 8. Aufl. 2005, § 2 AufenthG Rn. 17; Hailbronner, AuslR, Stand: Januar 2005, § 2 AufenthG Rn. 23). Sollte diese Auffassung zutreffend sein, stellte sich die Frage einer Entscheidung nach § 30 Abs. 3 AufenthG hier nicht.

(3) Auch das Vorliegen eines Ausweisungsgrundes (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) kann der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis des Beschwerdeführers nicht entgegenstehen. Dahingestellt bleiben kann, ob der Umstand, dass die Ehefrau des Beschwerdeführers Leistungen nach dem SGB II bezogen hat oder bezieht, überhaupt gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG einen Ausweisungsgrund in der Person des Beschwerdeführers begründet. Jedenfalls wäre die in § 5 Abs. 1 AufenthG eröffnete Möglichkeit, von den Regelvoraussetzungen der Erteilung eines Aufenthaltstitels abzusehen, zu nutzen, um ein mit Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbares Ergebnis zu vermeiden.