VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 04.10.2007 - A 6 K 1306/06 - asyl.net: M11819
https://www.asyl.net/rsdb/M11819
Leitsatz:

§ 28 Abs. 2 AsylVfG steht der Flüchtlingsanerkennung im Folgeverfahren wegen Glalubenswechsel nicht entgegen, wenn die Konversion auf einer ernsthaften Gewissensentscheidung beruht.

 

Schlagwörter: Iran, Konversion, Apostasie, Christen, Inhaftierung, Folter, Religion, religiös motivierte Verfolgung, religiöses Existenzminimum, Anerkennungsrichtlinie, Folgeantrag, Änderung der Rechtslage, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe, atypischer Ausnahmefall
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; VwVfG § 51 Abs. 3; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b; AsylVfG § 28 Abs. 2
Auszüge:

§ 28 Abs. 2 AsylVfG steht der Flüchtlingsanerkennung im Folgeverfahren wegen Glalubenswechsel nicht entgegen, wenn die Konversion auf einer ernsthaften Gewissensentscheidung beruht.

(Amtlicher Leitsatz)

 

Gem. § 71 Abs. 1 AsylfG ist nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags ein weiteres Asylverfahren nur dann durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen.

Hiervon ausgehend hat die Klägerin jedenfalls mit der Klageschrift innerhalb der Drei-Monats-Frist des § 51 Abs.3 VwVfG zutreffend auf den Ablauf der Umsetzungsfrist der sog. Qualifikationsrichtlinie zum 10.10.2006 hingewiesen und hiermit eine - wie nachfolgend im Einzelnen dargestellt - Änderung der Rechtslage zu ihren Gunsten geltend gemacht.

Vor dem Hintergrund dieser geänderten Rechtslage kommt der Klägerin gegen die Beklagte auch ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu.

Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegt, sind Artikel 4 Abs. 4 sowie die Artikel 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sog. Qualifikationsrichtlinie - ABl. EU Nr. L 304 S. 12) ergänzend anzuwenden (vgl. § 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG).

Damit sind für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG vorliegt, die Auslegungsbestimmungen der Art. 4 Abs. 4 und der Art. 7 bis 10 der Qualifikationsrichtlinie gesetzlich verankert. Da nach der Begründung des Gesetzentwurfs die Regelungen überwiegend der bestehenden Rechtslage entsprechen, kann das Gericht auf seine bisherigen Ausführungen zur Art. 10 Abs. 1 S. 1 b der Qualifikationsrichtlinie verweisen, die bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union ab dem 10.10.2006 unmittelbar anzuwenden waren. Für eine iranische Staatsangehörige moslemischen Glaubens, die während ihres Aufenthaltes im Bundesgebiet zum Christentum übergetreten ist, hatte das erkennende Gericht zuletzt mit Gerichtsbescheid vom 16.07.2007 - A 6 K 150/06 - Folgendes ausgeführt: ...

Hieran gemessen hat die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG relevanten Verfolgungsmaßnahmen seitens des iranischen Staates in Anknüpfung an ihren Übertritt vom Islam zum Christentum zu rechnen.

Der Klägerin gebührt der Schutz des § 60 Abs. 1 AufenthG, weil das Gericht von der Ernsthaftigkeit ihres Übertritts zum christlichen Glauben, welcher als solcher durch die Vorlage einer Taufbescheinigung nachgewiesen ist, überzeugt ist.

Der somit bestehenden Verpflichtung der Beklagten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft gem. § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen, steht auch nicht die Bestimmung des § 28 Abs. 2 AsylVfG entgegen, wonach in der Regel die Flüchtlingseigenschaft in einem Folgeverfahren nicht zuerkannt werden kann, wenn der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag stellt und er sein Vorbringen auf subjektive Nachfluchtgründe stützt, die er nach der Rücknahme oder unanfechtbaren Ablehnung seines früheren Antrags selbst geschaffen hat. Jene Bestimmung sowie auch bereits § 28 Abs. 1 AsylVfG verfolgen den Zweck, auszuschließen, dass sich ein nicht vorverfolgter Ausländer durch eine risikolose Verfolgungsprovokation vom gesicherten Ort aus ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland selbst erzwingen kann (vgl. etwa Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, RN 24 zu § 28 AsylVfG). Diesem Personenkreis soll im Falle eines Erstantrags kein Recht auf Asyl nach Art. 16 a Abs. 1 GG und im Falle eines Folgeantrags darüber hinaus auch kein Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG zukommen. Hiervon zu unterscheiden sind allerdings atypische Fallgestaltungen, in denen dem Ausländer gerade nicht vorgehalten, werden kann, er habe den Verfolgungstatbestand bewusst im Aufnahmeland risikolos geschaffen, also diejenigen Fälle, in welchen eine aus eigenem Entschluss herbeigeführte "Verfolgungsprovokation" gerade nicht gegeben ist. Derartige atypische Fallgestaltungen werden weder von § 28 Abs. 1 AsylVfG erfasst (vgl. Art. § 28 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG, wonach der Regelung in Satz 1 keine uneingeschränkte Geltung zukommen soll), noch werden sie von der Regelbestimmung des § 28 Abs. 2 AsylVfG erfasst, welche gerade eine gesonderte Beurteilung von Ausnahmefällen erfordert. Eine derartige Ausnahme muss nach der Auffassung des Gerichts etwa in dem Fall eines Ausländers angenommen werden, der seine religiöse oder politische Überzeugung aufgrund ernsthafter Erwägungen in Ausübung der ihm zukommenden Religions- bzw. Meinungsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG wechselt, der also beispielsweise aufgrund einer ernsthaften Gewissensentscheidung vom Islam zum christlichen Glauben konvertiert. Sofern danach ein Glaubenswechsel nicht aus Opportunitätsgründen im Sinne einer Verfolgungsprovokation erfolgt, sondern auf einer - wie in dem Fall der Klägerin - ernsthaften und für das Gericht nachvollziehbaren, nicht bloß vorgeschobenen Änderung der religiösen Einstellung beruht, kommt die Ausschlussbestimmung des § 28 Abs. 2 AsylVfG nicht zur Anwendung (vgl. ebenso Marx, AsylVfG, Kommentar, 6.Aufl., § 28 RN 90; Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl., § 28 AsylVfG RN 17 und 22; Funke-Kaiser in GK-AsylVfG, Kommentar, § 28 RN 31, 49 und 49.1; Hailbronner, a.a.O.).