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SG Hildesheim

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Zitieren als:
SG Hildesheim, Beschluss vom 30.10.2007 - S 40 AY 108/07 ER - asyl.net: M11838
https://www.asyl.net/rsdb/M11838
Leitsatz:

Vorläufiger Rechtsschutz gegen Rückstufung von Leistungen nach § 2 AsylbLG auf § 3 AsylbLG.

 

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, 48-Monats-Frist, Änderungsgesetz, Altfälle, Übergangsregelung, Wertgutscheine, Integration, Folgenabwägung, Kinder, in Deutschland geborene Kinder, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Eilbedürftigkeit
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1; SGG § 86b Abs. 2
Auszüge:

Vorläufiger Rechtsschutz gegen Rückstufung von Leistungen nach § 2 AsylbLG auf § 3 AsylbLG.

(Leitsatz der Redaktion)

 

1. a) Die Antragsteller zu 1 bis 3 haben einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht, da der Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache als offen anzusehen ist (s. II. 1. a) aa)) und ihnen aufgrund einer Folgenabwägung der vorläufige Bezug von Leistungen nach § 2 AsylbLG zuzusprechen ist (s. II. 1. a) bb)).

aa) Der Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache ist als offen anzusehen, da in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung umstritten ist, ob der Bezug von anderweitigen Sozialleistungen (sog. "höherwertigen" Leistungen) nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG), dem SGB II oder SGB XII bzw. nach § 2 AsyIbLG selbst bei der Erfüllung der nach § 2 Abs. 1 AsylbLG maßgeblichen Frist (36 bzw. 48 Monate) zu berücksichtigen ist.

Während teilweise vertreten wird, dass § 2 Abs. 1 AsylbLG dahingehend verfassungskonform auszulegen sei, dass auch der vorangegangene Bezug von Sozialleistungen gleich welcher Art zu berücksichtigen sei (vgl. LSG Hessen, Beschluss vom 21. März 2007, Az.: L 7 AY 14/06 ER), wird in diesen Fällen auch eine analoge Anwendung des § 2 Abs. 1 AsylbLG befürwortet (vgl. SG Aachen, Urteil vom 19. Juni 2007, Az.: S 20 AY 4/07). Zum Teil wird vertreten, dass die Unterscheidung nach der Art von Grundsicherungsleistungen - etwa Leistungen nach § 3 AsylbLG oder nach dem BSHG - nach langjährigem Leistungsbezug des Ausländers "übertriebene Förmelei" darstelle (vgl. LSG NRW, Beschluss vom 27. April 2006, Az.: L 20 B 10/06 AY ER). Begründet wird dieses durch Auslegung oder Analogie gewonnene weite Verständnis des § 2 Abs. 1 AsylbLG damit, dass eine durch § 2 Abs. 1 AsylbLG bezweckte Besserstellung des Ausländers erst recht gerechtfertigt sei, wenn der 36- bzw. 48-Monatszeitraum durch den Bezug von "höherwertigen" Sozialleistungen gedeckt war. Bei einem Bezug dieser "höherwertigen" Sozialleistungen bestünden "potenziell" auch Ansprüche nach § 3 AsylbLG, welche nur deswegen nicht zum Tragen kommen würden, weil diese Leistungen nachrangig seien (vgl. LSG Hessen, a.a.O.; SG Aachen, a.a.O.).

Das Sozialgericht Hildesheim hat sich diesem weiten Verständnis des § 2 AsylbLG bislang nicht angeschlossen, jedoch in bestimmten Ausnahmefällen hinsichtlich der aufenthaltsrechtlichen Situation des Ausländers eine analoge Anwendung des § 2 Abs. 1 AsylbLG bejaht (vgl. für den Fall der Überleitung einer Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 3 AuslG in eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG: SG Hildesheim, Beschluss vom 13. Juli 2006, Az.: S 34 AY 12/06 ER und Beschluss vom 24. Oktober 2006, Az.: S 44 AY 49/06 ER; bestätigend: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 12. Juni 2007, Az.: L 11 AY 84/06 ER). Angesichts der in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung im Vordringen befindlichen Ansicht, dass ein starres Festhalten an dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 AsylbLG - "Leistungen nach § 3 AsylbLG" - im Hinblick auf den Sinn und Zweck der Norm, eine Integration des Ausländers in die deutsche Gesellschaft zu ermöglichen, verfassungsrechtlich bedenklich sein kann (vgl. LSG Hessen, a.a.O.), ist im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eine abschließende Beurteilung der Rechtslage nicht möglich.

Denn zu der sehr umstrittenen Frage der Berücksichtigung anderer Sozialleistungen bei der Erfüllung der Frist im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG tritt im vorliegenden Fall hinzu, dass der Gesetzgeber mit Einführung des § 2 Abs. 1 AsylbLG n.F. mit Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 28. August 2007 (Art. 6 Abs. 2 Nr. 2, BGBl I 1970 (2007)) keine Übergangsregelung für die Behandlung derjenigen Ausländer vorgesehen hat, die bereits zuvor im jahrelangen Bezug von privilegierten Leistungen nach § 2 AsylbLG standen. Anders als bei Erlass des Ersten Gesetzes zur Änderung des AsylbLG vom 26. Mai 1997 (Art. 1, BT-Drucksache 13/2746), bei der in § 2 Abs. 1 AsylbLG mit dem Wortlaut "frühestens beginnend am 1. Juni 1997" zweifelsfrei der Wille des Gesetzgebers zu erkennen war, dass alle leistungsberechtigten Ausländer zunächst auf den 36 Monate währenden Bezug von Leistungen nach § 3 AsyIbLG zu verweisen waren (vgl. beispielhaft SächsOVG, Beschluss vom 18. August 1997, Az.: 2 S 361/97, abgedruckt in GK-AsylbLG, VII - vor § 1 (OVG - Nr. 3); zu der Gesetzeshistorie vgl. auch GK-AsylbLG, Bd. 1, II - Entstehungsgeschichte, Rn. 46 ff., sowie § 2 AsylbLG, Rn. 34), hat der Gesetzgeber nun entweder auf eine Klarstellung bewusst verzichtet oder eine solche - womöglich versehentlich - nicht vorgenommen.

Auch der Gesetzesbegründung (BT-Drucksache 16/5065, S. 232) lässt sich keine Vorgabe des Gesetzgebers entnehmen, wie solche Übergangsfälle zu beurteilen sind. Nach der Begründung steht die Anhebung der Frist von 36 auf 48 Monate in § 2 Abs. 1 AsylbLG im Zusammenhang mit der gesetzlichen Altfallregelung in § 104 a AufenthG und der Änderung des § 10 Beschäftigungsverfahrensverordnung, wonach Geduldete einen gleichrangigen Arbeitsmarktzugang erhalten, wenn sie sich seit vier Jahren im Bundesgebiet aufhalten. Mit der Neufassung des § 2 AsylbLG werde eine einheitliche Stufung nach vier Jahren eingeführt. In der weiteren Begründung des Gesetzgebers stellt er den Zusammenhang zwischen der Gewährung der höheren Leistungen nach dem SGB XII mit der Integration des Ausländers aufgrund der zeitlichen Verfestigung des Aufenthalts dar.

Da der Gesetzgeber in seiner Gesetzesbegründung lediglich auf die Dauer des tatsächlichen Aufenthalts des Ausländers im Bundesgebiet abstellt (vier Jahre) und nicht auf den Leistungsbezug nach § 3 AsylbLG, könnte nunmehr mit Blick auf die Integrationskomponente des § 2 Abs. 1 AsylbLG angezeigt sein, durch eine ergänzende Auslegung der Norm diejenigen Ausländer, die bereits die 36-Monatsfrist im Sinne des § 2 AsylbLG a.F. erfüllt haben, nicht erneut auf den Ablauf der Frist im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG n.F. von 48 Monaten zu verweisen. Das Gericht teilt insofern nicht die in dem Erlass des Nds. Innenministerium vom 4. September 2007 (41.22 - 12235 - 8.4.2) vertretene Auffassung, dass auch bei den Übergangsfällen eine Einbeziehung von anderen Sozialleistungen bei der Erfüllung der Frist im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG den Zweck der Vorschrift "konterkarieren" würde. Dem entsprechend hat sich unter Berufung auf den Sinn und Zweck des § 2 Abs. 1 AsylbLG auch das Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Familie des Landes Brandenburg gegen eine wortlautgemäße Anwendung in den Übergangsfällen ausgesprochen und in diesen Fällen eine Leistungsgewährung nach § 2 AsylbLG befürwortet (vgl. Nachricht an den Städte- und Gemeindebund Brandenburg und den Landkreistag Brandenburg vom 27. August 2007, abrufbar unter: www.masgf.brandenburg.de/media/Ibml.a.1339.de/leistung.pdf.).

Hat der Gesetzgeber hingegen die problematische Behandlung von langjährig in Deutschland lebenden Ausländern, die jedoch erst über einen Zeitraum von 36 Monaten Leistungen nach § 3 AsylbLG bezogen haben, mit Einführung des § 2 Abs. 1 AsylbLG n.F. nicht erkannt und infolgedessen ohne Erlass einer Übergangsregelung unberücksichtigt gelassen, könnte sogar eine planwidrige Regelungslücke zu bejahen sein, die ggf. durch Analogie zu füllen wäre.

bb) Ist der Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache damit als offen anzusehen, spricht eine nach den Grundsätzen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorzunehmende Folgenabwägung, die die grundrechtlichen Belange der Antragsteller umfassend berücksichtigt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005, Az.: 1 BvR 569/05, NVwZ 2005, 927 ff.), für den Ausspruch der Verpflichtung des Antragsgegners, den Antragstellern zu 1 bis 3 vorläufig Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG zu gewähren.

Nach der vom Gericht vorgenommenen Folgenabwägung überwiegt das Interesse der Antragsteller zu 1 bis 3 an einer vorläufigen Leistungsgewährung nach § 2 AsylbLG gegenüber dem Interesse des Antragsgegners an einer Gewährung von Grundleistungen nach § 3 AsyIbLG.

Dabei misst das Gericht dem Umstand besonderes Gewicht bei, dass die Gewährung von existenzsichernden Leistungen der Gewährleistung eines menschenwürdigen Lebens dient. Gegenüber den Leistungen der Sozialhilfe sind die Grundleistungen nach § 3 AsylbLG jedoch deutlich abgesenkt (sog. "Zweites asylbewerberleistungsrechtliches Existenzminimum", vgl. Hohm, in: NVwZ 2007, 419, 421). Zudem hat das Gericht die Gefahr erkannt, dass von den Antragstellern zu 1 bis 3 bereits erzielte Integrationserfolge durch die Rückstufung auf Grundleistungen beseitigt werden könnten; ob solche Integrationserfolge überhaupt vorliegen, kann jedoch aufgrund des eingeschränkten Prüfungsmaßstabes des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes nicht im Einzelnen geprüft werden. Im Fall des elfjährigen Antragstellers zu 3 ist weiterhin zu berücksichtigen, dass ihn die mit der Rückstufung auf Grundleistungen nach § 3 AsylbLG einhergehende Leistungsgewährung durch Aushändigung von Wertgutscheinen wegen der diskriminierenden Folgen unter Gleichaltrigen schwer treffen dürfte.

b) Aus den in der Folgenabwägung dargelegten Gründen geht das erkennende Gericht vom Vorliegen eines Anordnungsgrundes aus und berücksichtigt hierbei, dass der Anspruch der Antragsteller zu 1 bis 3 auf Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG sogar mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gegeben sein dürfte. Den Antragstellern zu 1 bis 3 ist ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache indes nicht zuzumuten, da die derzeit bewilligten Leistungen nach §§ 1, 3 AsylbLG deutlich geringer sind als die Leistungen nach § 2 AsylbLG i.V.m. dem SGB XII. Insoweit schließt sich das Gericht der ganz herrschenden sozialgerichtlichen Rechtsprechung an, nach der bei der Gewährung von Leistungen nach §§ 1, 3 AsylbLG anstelle von Leistungen nach § 2 AsylbLG das Vorliegen eines Anordnungsgrundes bejaht wird (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 28. März 2007, Az.: L 7 AY 1386/07 ER-B m.w.N.). Die vorzunehmende Regelungsanordnung dient der Beseitigung einer existenziellen Notlage (vgl. LSG Nds.-Bremen, Beschluss vom B. Oktober 2007, Az.: L 11 AY 9/05 ER m.w.N.).

2. Der Antragsteller zu 4 hat einen Anordnungsanspruch hingegen nicht glaubhaft gemacht. In seinem Fall kann die 48-Monatsfrist nach § 2 AsylbLG n.F. auch unter Berücksichtigung der bisher nach dem SGB II und § 2 AsylbLG bezogenen Sozialleistungen erst im Februar 2008 erfüllt sein, da er am ... 2004 geboren ist. Auch Minderjährige sind auf den Ablauf der Frist im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG zu verweisen (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 27. März 2006, Az.: L 3 ER 37/06 AY; LSG Hamburg, Beschluss vom 27. April 2006, Az.: L 4 B 84/06 ER AY), so dass ein Bezug privilegierter Leistungen nunmehr frühestens nach Ablauf von vier Jahren ab Geburt möglich ist.